Aus der Wörtersammlung: zeitpunkt

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ohrlamellenschirm

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pupil­le : 5.08 — 28 Lamel­len, eine kreis­för­mi­ge Ver­samm­lung feins­ter Häu­te, die unbe­merkt eng an mei­nen Gehör­gang­wän­den zu lie­gen gekom­men sind, famo­ses Werk. Und doch kann ich zu die­sem Zeit­punkt noch nicht sagen, dass ganz und gar geglückt ist, was man erdach­te, um den Lärm der Welt aus­zu­schlie­ßen, eine Schirm­ver­schluss­kon­struk­ti­on, Adap­ti­on, durch­blu­tet, einer Blen­de, ers­ter Ver­such, ers­te Ver­hand­lung. Da war ein ange­neh­mes Zie­hen heu­te Nacht gegen zwei, als sich die Schir­me in mei­nen Ohren schlos­sen. Es ist still jetzt, unver­gleich­bar stil­ler als sonst, nichts als mei­ne Kno­chen­räu­me pochen. Nein, nein, ich kann zu die­ser Stun­de nicht wirk­lich sagen, dass ganz und gar geglückt ist, was man erdach­te. Noch wird das Alles mit­tels mei­ner Augen gesteu­ert. Die­ser klei­ne Text zum Mor­gen wur­de von einem zeit­wei­se Blin­den geschrie­ben. — stop

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asmara tigri

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lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschich­te erzäh­len wird, scheint müde zu sein. Immer wie­der fal­len für Sekun­den ihre Augen zu. Frü­her Mor­gen, Tigri hat die Nacht über gear­bei­tet. Wir sit­zen in einem Schnell­zug vom Flug­ha­fen in die Stadt. Gera­de woll­te sie noch wis­sen, war­um ich auf dem Note­book einen Film betrach­te, der von ein­stür­zen­den Tür­men des World Trade Cen­ters berich­tet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stun­den lang Brie­fe sor­tiert, das heißt, Luft­post­brie­fe für Inseln, die im Pazi­fi­schen Oze­an lie­gen, weil sie eine Spe­zia­lis­tin für Inseln ist, auch für Inseln atlan­ti­scher Gebie­te, aber vor allem ken­ne sie sich aus mit Inseln, die Kiri­ba­ti hei­ßen oder Ton­ga oder Palau oder Vanua­tu. Sie sagt, dass sie die­se Namen lie­ben wür­de, dass sie Anfang der 70er Jah­re in einem Dorf nahe der eri­tre­ischen Haupt­stadt Asma­ra gebo­ren wor­den sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wie­der auf­ge­baut wer­den muss­te, weil an einem Sonn­tag­abend ein MIG-Flug­zeug das Dorf zer­stört habe und vie­le ihrer Freun­de getö­tet. Zu die­sem Zeit­punkt leb­te Tigri bereits in West­deutsch­land. Wenn sie den Namen ihres Dor­fes aus­spricht, bin ich nicht imstan­de, das schö­ne Geräusch in mei­nem Kopf zu behal­ten, aber das Wort Asma­ra kann ich mir mer­ken. Sobald ich das Wort Asma­ra for­mu­lie­re, leuch­ten ihre Augen, also sage ich drei­mal Asma­ra und freue mich über die Wirk­sam­keit die­ses Wor­tes. Asma­ra soll eine Stadt hel­len Lich­tes sein, sage ich, es soll dort immer­zu nach Kaf­fee duf­ten, und Tigri lacht und ich den­ke, dass das jetzt ent­we­der so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jeden­falls das Hel­le mag und auch den Kaf­fee­duft. Man spre­che Tig­ri­gna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemer­ke, dass ihr gan­zer Name selbst in die­sem Wort ent­hal­ten sei. Wie­der lacht die jun­ge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bru­der, ein Gynä­ko­lo­ge, aus den Diens­ten eines Kran­ken­hau­ses ent­las­sen wur­de, weil man ihn nicht als das behan­deln woll­te, was er zu sein wünsch­te. Mein Bru­der, wis­sen Sie, möch­te ein König sein. Nun ist er arbeits­los und König. Er ist natür­lich schwarz wie ich, genau­so schwarz, und schwarz steht den Köni­gen nur in Afri­ka. Sie macht eine kur­ze Pau­se, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf die­ser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im ver­gan­ge­nen Jahr sei ihr Vater gestor­ben in Eri­trea, ein glück­li­cher Mensch, ein Bus­fah­rer, ein sehr stol­zer Herr. Im Okto­ber des­sel­ben Jah­res sei schließ­lich die Mut­ter mit dem Flug­zeug via Rom nach Frank­furt gekom­men. Sie habe, ohne das zu wis­sen, einen Tumor im Kopf mit­ge­bracht, im Febru­ar war sie dann umge­fal­len und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fens­ter. Ein hei­ßer, schwü­ler Mor­gen. Ob sie den Film anse­hen dür­fe, will sie wissen.
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staten island ferry : prozession

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nord­pol : 5.55 – Eine Geschich­te ist zu erzäh­len an die­sem Mor­gen küh­ler Luft kurz vor Sep­tem­ber. Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich bereits vor­ges­tern, nachts, bei mir zu Hau­se, weil ich mich nicht ent­schei­den konn­te, was ich unter vie­len Din­gen, die zu tun gewe­sen waren, zunächst erle­di­gen soll­te, also mach­te ich alles zur glei­chen Zeit. Ich hat­te eine Enten­brust zu Mor­cheln und Pflau­men gelegt. Außer­dem hat­te ich mir vor­ge­nom­men, ein wei­te­res ana­to­mi­sches Ton­band abzu­hö­ren, eine jugend­li­che Stim­me berich­te­te vom Dach des Kühl­schran­kes aus lei­se vor sich, wäh­rend ich kochend Fern­seh­bil­der eines Hur­ri­kans beob­ach­te­te, der sich auf die Stadt New York zube­weg­te. > Wenn ich von mei­nen Wochen im Prä­pa­rier­saal spre­che, dann spre­che ich ger­ne von mei­ner Traum­zeit. stop > Zu die­sem Zeit­punkt, das ist fest­zu­hal­ten, war ich nicht ganz bei der Sache gewe­sen, nicht wirk­lich in der Nähe der Gedan­ken, die ein jun­ger Mann für mich aus­ge­spro­chen hat­te, ande­rer­seits auch nicht aus­rei­chend kon­zen­triert auf das Gesche­hen jen­seits des Atlan­ti­schen Oze­ans. Ein­mal stell­te ich den Ton des Fern­seh­ge­rä­tes lau­ter, wen­de­te die Brust des Vogels in der Pfan­ne und hör­te genau in die­sem Moment, der Schiffs­ver­kehr um Man­hat­tan her­um sei ein­ge­stellt, das war kurz nach Mit­ter­nacht euro­päi­scher Zeit gewe­sen. Ich mein­te außer­dem gehört zu haben, man sei gera­de damit beschäf­tigt, die Fäh­ren der Sta­ten Island Ver­bin­dung den Hud­son River hin­auf, in eine siche­re Umge­bung zu trans­fe­rie­ren. Ein fei­nes Bild, das sich vor mei­nen Augen sofort ent­wi­ckel­te. Acht oran­ge­far­be­ne Schif­fe in einer Rei­he hin­ter­ein­an­der auf dem gro­ßen Fluss, Schif­fe, die sich gewöhn­li­cher­wei­se pen­delnd anein­an­der vor­bei­be­we­gen. Ich stürm­te aus der Küche, in der Hoff­nung auf dem Fern­seh­schirm ein Bild zu sehen, das dem gera­de eben noch in mei­nem Kopf ent­wor­fe­nen Bild ähn­lich gewe­sen sein könn­te. Anstatt einer Fähr­ge­schich­te, war nun jedoch vom Regen die Rede, von den Win­den des Hur­ri­kans, die über den feuch­ten Strand nahe der Stadt Oce­an Pines feg­ten. Ein Repor­ter, der tropf­te, ver­harr­te tap­fer, Füße im Was­ser, vor einer Fern­seh­ka­me­ra, die in grö­ße­rer Ent­fer­nung, dem­zu­fol­ge sicher, mon­tiert gewe­sen war. Er hielt ein Mikro­fon in der Hand, das merk­wür­dig fau­chen­de Geräu­sche erzeug­te. Möwen, spit­ze gel­be Schnä­bel in den Sturm gerich­tet, ver­harr­ten in sei­ner Nähe, sie mach­ten einen zufrie­de­nen Ein­druck, authen­ti­sche Tie­re, wäh­rend ich, wei­ter­hin die Pro­zes­si­on der Fähr­schif­fe im Kopf, zurück in die Küche spa­zier­te. Ein selt­sa­mes Gefühl von Nicht­wirk­lich­keit in der Nähe mei­ner Feu­er­stel­le, ein gro­ßes Durch­ein­an­der, das ich zu sor­tie­ren ver­such­te, in dem ich bis in den frü­hen Mor­gen des Sonn­tags hin­ein, auf allen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Kanä­len ver­geb­lich Bewei­se dafür zu fin­den such­te, dass Fähr­schif­fe der Sta­ten Island Ver­bin­dung sich tat­säch­lich an die­sem spä­ten Sams­tag­abend, als ich mich nicht ent­schei­den konn­te, auf dem Hud­son River strom­auf­wärts beweg­ten. — stop. — Ende der Geschich­te. — stop

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PRÄPARIERSAAL — so haben wir angefangen

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del­ta : 22.20 — Sobald ich mein Ton­band­ge­rät betrach­te, wenn ich beob­ach­te, wie sich zier­li­che Räd­chen hin­ter einer Schei­be bewe­gen, Lust, die klei­ne Maschi­ne aus­ein­an­der­zu­neh­men, alles zu betrach­ten und dann wie­der zusam­men­zu­set­zen, auch wenn viel­leicht Jah­re ver­ge­hen, bis die Zusam­men­hän­ge der Maschi­ne wie­der feh­ler­los her­ge­stellt sein wer­den. An die­sem Abend, da im Hin­ter­grund eine wei­te­re, eine digi­ta­le Ton­band­ma­schi­ne Joshua Red­man wie­der­holt, ist alles noch in Ord­nung, unbe­rührt, sagen wir. Tom erzählt: > Man geht also vor­sich­tig los, man kommt durch eine Klapp­tür in den Saal und sieht sofort, dass da sehr vie­le Men­schen sind. Ich hat­te zunächst ein paar Pro­ble­me damit, die Knöp­fe mei­nes Kit­tels in die Fin­ger zu bekom­men, weil ich einen Atlas unter den Arm geklemmt hat­te und ein Paar Latex­hand­schu­he in der einen Hand und in der ande­ren mei­nen Werk­zeug­kas­ten, eine höl­zer­ne Schach­tel mit Pin­zet­ten und Skal­pel­len. Ich habe mir gedacht, du musst jetzt nicht beson­ders sou­ve­rän sein, mein Jun­ge, son­dern zunächst ein­mal dei­nen Tisch fin­den und dei­ne Leu­te und dann wirst Du ganz ein­fach anfan­gen. Also bin ich gleich nach links gelau­fen, weil ich wuss­te, dass ich in einer Abtei­lung arbei­ten wer­de, die links liegt, wenn man das von der Tür aus betrach­tet. Aber dann hat­ten wir natür­lich kei­ne Ahnung, wie wir anfan­gen soll­ten. Wir stan­den um einen Tisch her­um und haben zunächst ein­mal abge­war­tet. Wir waren acht Leu­te. Weil wir uns noch nicht alle kann­ten, haben wir uns erst ein­mal vor­ge­stellt. Viel­leicht bekomm ich sie grad schnell zusam­men. Da war, zum Bei­spiel, Mika, eine Nor­we­ge­rin, und Micha­el, der mir am Tisch gleich gegen­über arbei­te­te, und Sus­an, die sich ein Tuch um ihren Kopf gebun­den hat­te, damit das Haar ihr nicht ins Gesicht fal­len konn­te. Und da waren Zue natür­lich, eine Afri­ka­ne­rin von der Elfen­bein­küs­te, die uns nicht immer ver­ste­hen konn­te, weil sie die eng­li­sche und fran­zö­si­sche Spra­che flüs­si­ger spre­chen konn­te als die deut­sche Spra­che, und Isme­ne, eine Grie­chin, die uns sofort erzählt hat­te, dass sie Chir­ur­gin wer­den wol­le. Ich erin­ne­re mich, Ihre Augen waren stark gerö­tet, viel­leicht weil ein schar­fer Geruch in der Luft hing, irgend­et­was, das die Augen reiz­te. Ich konn­te die­sen Geruch bereits auf der Stra­ße wahr­neh­men, und spä­ter, am Abend, zu Hau­se, hat­te ich ihn an den Hän­den. Kurz­um, wir haben dann also gewar­tet. Ich kann nicht genau sagen, wie lan­ge wir so gewar­tet haben. Das war eine selt­sa­me Situa­ti­on. Wir haben uns immer wie­der ange­lä­chelt. Ich glau­be, wir waren alle sehr ver­le­gen und stan­den zu die­sem Zeit­punkt unter einer gro­ßen Span­nung. Der Tisch hat­te die Num­mer 4/12. Eine rote Pla­ne war über die­sen Tisch aus­ge­brei­tet und wir konn­ten eine Kon­tur erken­nen, eine Erhe­bung. Wir wuss­ten, dass da ein Kör­per lag und dass die­ser Kör­per eher klein sein muss­te, zier­lich, sagen wir. Ich hat­te die Vor­stel­lung, dass dort unter der Decke eine Frau lie­gen könn­te. Und ich erin­ne­re mich, dass ich in die­sem Moment über­leg­te, ob das Geschlecht des Kör­pers, den ich in den kom­men­den Wochen aus­ein­an­der neh­men wür­de, eine Bedeu­tung für mich haben wür­de oder nicht. Und dann ging alles sehr schnell. Unser Coas­sis­tent kam zu uns an den Tisch und erkun­dig­te sich, ob alles o. k. sei. Er hat­te die Arme vor der Brust ver­schränkt und schau­te jeden ein­zel­nen von uns an und lach­te sehr freund­lich. Wir haben dann damit begon­nen, das rote Tuch vom Tisch zu neh­men. So haben wir angefangen.
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PRÄPARIERSAAL : erste schritte erste minuten

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nord­pol : 3.12 — Abends spät erreicht mich die E‑Mail eines jun­gen Man­nes, den ich längst ver­ges­sen hat­te, ich mei­ne, ich hat­te ver­ges­sen, dass die­ser Mann jemals exis­tier­te, weil ich lan­ge Zeit, ein Jahr unge­fähr, nicht an ihn dach­te. Sein Name ist Elia. Elia hat­te auf eine Fra­ge, die ich ihm schrift­lich stell­te, nicht geant­wor­tet. Irgend­wann habe ich auf­ge­hört zu war­ten, ich kann nicht sagen, wann genau das gewe­sen sein könn­te, im Win­ter viel­leicht oder bereits im Herbst. Selt­sam ist, das fällt mir in die­ser Minu­te des Notie­rens auf, dass ich nie wahr­neh­men kann, wenn ich etwas ver­ges­se, den exak­ten Zeit­punkt des Leich­ter­wer­dens genau­er, weil ich das Ver­ges­sen stets mit einem Ein­druck der Schwe­re­lo­sig­keit in Ver­bin­dung setz­te. Das Ver­ges­sen scheint ein heim­li­cher Pro­zess zu sein, so heim­lich, dass ich erst dann, wenn etwas Ver­ges­se­nes zurück­kehrt ins Leben, über­haupt in der Lage bin, sein Ver­schwin­den zu bemer­ken. Nun ist sie also wie­der hier bei mir, mei­ne ver­ges­se­ne Fra­ge. Ich hat­te Elia gefragt, wie er die ers­ten Minu­ten in einem ana­to­mi­schen Prä­pa­rier­saal erleb­te. Er beob­ach­te­te Fol­gen­des: > Zuerst habe ich das Gebäu­de von außen gese­hen, die Milch­glas­fens­ter, die rie­si­gen Röh­ren an den Fens­tern vor­bei und die Run­dun­gen des ver­hei­ßen­den und mich ängs­ti­gen­den Rau­mes. dann hat mich das ehr­wür­di­ge Gebäu­de ver­schluckt. die Trep­pe hin­auf konn­te ich die­sen wider­li­chen Geruch atmen. ich fand es unglaub­lich, mit wel­cher Lie­be zum Detail die­ses Gebäu­de aus­ge­stat­tet ist. auf der Suche nach einem Ansprech­part­ner habe ich die Ver­zie­run­gen im Boden bewun­dert. nach­dem ich die Erlaub­nis bekom­men hat­te, bin ich den lan­gen Gang an den haut­far­be­nen Spin­den vor­bei­ge­gan­gen zur Tür des Prä­pa­rier­saa­les. sie war ver­schlos­sen. aber durch den klei­nen Spalt konn­te ich in eine Apsis vol­ler mit rot leuch­ten­den Wachs­tü­chern bedeck­ter Kör­per sehen. ich habe nur die Tücher gese­hen, aber ich wuss­te, was dar­un­ter sein wür­de und war mir dabei trotz­dem nicht sicher. ich hat­te Angst. in der Nacht hat­te ich Alb­träu­me und mach­te Sezier­ver­su­che. am nächs­ten Tag hat­te ich mei­nen fri­schen wei­ßen Kit­tel dabei, der aber durch das Bevor­ste­hen­de schon jetzt mit einer selt­sa­men Schwe­re ver­se­hen war. ich wur­de an ein paar Assis­ten­ten über­ge­ben. wil­len­los folg­te ich ihnen mit einer Mischung aus Angst und Neu­gier in den Saal. nach fünf Schrit­ten blieb ich ste­hen. ich hat­te das Gefühl, ich wür­de auf­ge­saugt vom Geruch und dem tosen­den Lärm der klap­pern­den Instru­men­te. mir war heiß und kalt. ich muss­te mich wider­wil­lig zwin­gen tie­fer zu atmen. und atme­te noch inten­si­ver den süß­lich ste­chen­den Duft des For­mal­ins. dies­mal mit den ent­spre­chen­den Bil­dern vor mei­nen Augen. ich befahl mir genau hin­zu­se­hen. ich zwang mei­ne Augen ihre Bli­cke über die Kör­per schwei­fen zu las­sen. um nicht mit den Mosai­ken im Boden zu ver­schmel­zen, muss­te ich alle Bil­der vor mei­nen Augen mit Wör­tern versehen.

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schneebrille

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alpha : 22.03 — Aus der Luft, aus dem Nichts her­aus, Gedan­ken, von Sekun­den­räu­men her, die sich unmit­tel­bar vor dem Zeit­punkt ihrer Wahr­neh­mung befin­den. Ob es über­haupt mög­lich sein kann, einen Gedan­ken erfin­dend zu kon­stru­ie­ren? Das Wort S c h n e e b r i l l e in die­sem Moment, viel­leicht des­halb, weil ich vor Stun­den notier­te: Win­ter­pen­del­fahrt auf Sta­ten Island Fer­ry. stop. Obe­res Deck. stop. Fes­te Schu­he. stop. Penn­sta­ti­on ab: 7.49 am. stop. Montauk an: 10.52 am. stop. Strand­spa­zier­gang. - stop
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lampion

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marim­ba : 2.27 — Man könn­te viel­leicht sagen, dass es sich bei der Gat­tung der Lam­pion­kä­fer um Geschöp­fe han­delt, die bevor­zugt nach innen aus­ge­dacht wor­den sind, wes­halb man an ihrer äuße­ren Gestalt spar­sam zu wir­ken wünsch­te. Man mach­te ihnen Flü­gel, sehr klei­ne, kaum noch sicht­ba­re Flü­gel, die kur­ze Stre­cken des Luft­rei­sens gestat­ten, spar­te dage­gen an Bei­nen, ver­gaß Augen und Füh­ler, auch Ohren sind an ihrem voll­kom­men run­den Kör­per bis­lang nicht zu ent­de­cken gewe­sen. Nie­mand könn­te zu die­sem Zeit­punkt also ernst­haft behaup­ten, an wel­cher Stel­le nun genau der Kopf, also das Vorn des Käfer­we­sens zu fin­den sein könn­te. Meis­tens lie­gen sie dem­zu­fol­ge bewe­gungs­los auf dem Boden her­um, schla­fen viel­leicht oder träu­men. Man kann sie dann leicht über­se­hen, weil sie sehr klein sind und fast licht­los auf den ers­ten Blick. Uner­kannt haben sie in die­ser beschei­de­nen Wei­se bis vor Kur­zem in den Wäl­dern des Kar­wen­del­ge­bir­ges nahe der Baum­gren­ze gelebt, bis ein Stein­samm­ler ihr Geheim­nis unlängst ent­deck­te, in dem er sich mit einem sehr fei­nen Boh­rer ins Inne­re eines der Käfer­kör­per vor­ar­bei­te­te. Lan­ge Stun­den des War­tens, des Küh­lens, des Ban­gens, dann späh­te der jun­ge For­scher in eine voll­stän­dig unbe­kann­te Welt. Seit­her fehlt ihm jede Spra­che. Die Augen weit geöff­net, scheint er zu suchen, nach Sät­zen viel­leicht, nach Wör­tern, nach ange­mes­se­nen Geräu­schen der Bewun­de­rung, der Aner­ken­nung. — Was bleibt noch zu bemer­ken? — Sie sum­men wie die Bie­nen, sobald sie fliegen.

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rootserver charlie

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del­ta : 2.55 – In der ver­gan­ge­nen Nacht habe ich mei­ner per­sön­li­chen Ser­ver­ma­schi­ne, — sie befin­det sich in etwa fünf­hun­dert Kilo­me­ter Ent­fer­nung an einem nicht bekann­ten Ort -, einen Namen gege­ben: Char­lie, Root­ser­ver Char­lie. Das ist so gekom­men, weil ich näm­lich um Mit­ter­nacht an mei­nem Schreib­tisch saß, als mein E‑Mailprogramm mel­de­te, eine Nach­richt sei für mich ein­ge­trof­fen. Ich wuss­te sofort, woher die­se nächt­li­che Mail allein gekom­men sein konn­te. Und ich dach­te in zärt­li­cher Wei­se, als ob ich ins­ge­heim die­sen Namen schon län­ge­re Zeit ver­ge­ben haben wür­de: Char­lie, hi Char­lie! Nacht für Nacht, 0.01.12 MEZ, eine Sekun­den­uhr, die­sel­be Bot­schaft: /et­c/p­sa/­p­lesk-cron/­dai­ly/­com­ple­ted : beru­hi­gend in sei­ner lako­ni­schen Art, mein lie­ber Lou­is, ich bin wach wie du, alle Sys­te­me in Ord­nung, Tag abge­schlos­sen, neu­er Tag beginnt. stop. 12 ° Cel­si­us. stop. Wol­ken­lo­ser Him­mel. stop. Ich ver­fü­ge zu die­sem Zeit­punkt über 1.5 Kilo­gramm Mehl, 800 Gramm Reis, 2 Papri­ka­scho­ten in gel­ber Far­be, 1 Papri­ka­scho­te in roter Far­be, 1 hal­ben Enten­vo­gel, 3 Liter Was­ser in Fla­schen, Salz, Zimt und Pfef­fer, 16 Schei­ben fin­ni­schen Bro­tes, 1 Glas Apri­ko­sen­kon­fi­tü­re, 1 Glas Honig, 5 Ker­zen. – stop

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korallenknistern

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tan­go : 0.02 – Die Fens­ter weit geöff­net, Luft­an­geln aus­ge­wor­fen. — Gera­de eben ent­deck­te ich auf Kar­tei­kar­te No 1208 eine Notiz, die ich am 28. Janu­ar 2007 im ana­to­mi­schen Prä­pa­rier­saal mit Blei­stift buch­sta­bier­te: Einem Abschnitt des atlan­ti­schen Rückens glei­chend, tritt schritt­wei­se eine Wir­bel­säu­le aus dem zurück­wei­chen­den Mus­kel­kör­per her­vor. Wir befin­den uns in der 4. Woche. Ich weiß zu die­sem Zeit­punkt: Venen sind hohl. Man kann die Innen­wän­de der Gefä­ße gegen­ein­an­der ver­schie­ben. Hap­ti­sche Erfah­rung. Arte­ri­en­ko­ral­len. Ein Knir­schen. Knar­zen. Knis­tern. Hören, mit den Spit­zen der Fin­ger h ö r e n. 

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elephantisland

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echo

~ : rob salter
to : louis
sub­ject : ELEPHANTISLAND
date : june 2 09 8.58 p.m.

Kurz nach acht Uhr. Kal­te, tro­cke­ne Luft, ich notie­re mit klam­men Hän­den. Um 7 Uhr heu­te Mor­gen haben wir bei stür­mi­scher See Ele­phan­tis­land erreicht. Suche nach Mil­ler unver­züg­lich auf­ge­nom­men. Süd­west­li­che Bewe­gung die Küs­te ent­lang. Gegen 9 Uhr ers­te grö­ße­re See­ele­fan­ten­grup­pen gesich­tet. Hef­ti­ger Schnee­fall. Mit­tags dann auf mensch­li­che Spu­ren gesto­ßen. Eine Mul­de von zwei Fuß Tie­fe im gro­ben Unter­grund, hüft­ho­her Stein­wall nord­wärts. Im Wind­schat­ten: drei gebleich­te Wal­kno­chen, ein hal­bes Duzend fin­ger­di­cker Haut­stü­cke, ein Kamm, zwei ros­ti­ge Kugel­schrei­ber, eine Blech­t­as­se, zwölf Pin­gu­in­schnä­bel, fünf Bat­te­rien, drei Klum­pen ran­zi­gen Fet­tes, Bruch­stü­cke eines Son­nen­kol­lek­tors und einer Schreib­ma­schi­ne. Das Werk­zeug war in einer Wei­se sorg­fäl­tig demo­liert, als sei eine Dampf­wal­ze dar­über hin und her gefah­ren. Dann wei­te­re zehn Minu­ten die Küs­te ent­lang, dann auf Mil­ler gesto­ßen. Der Dich­ter stand mit dem Rücken zu einem Fel­sen hin und rich­te­te ein Mes­ser gegen einen See­ele­fan­ten. Das Tier, das sehr gewal­tig vor unse­rem Mann in den Him­mel rag­te, war nur noch zwei Armes­län­gen ent­fernt und scheu­er­te mit dem Rücken über den Fel­sen. Eigen­ar­ti­ge Geräu­sche. Geräu­sche wohl der Lust. Geräu­sche, als habe das Tier eine ver­beul­te Trom­pe­te ver­schluckt. Geräu­sche auch von Mil­ler. Hel­le Geräu­sche, krei­schen­de, irre Töne. Wir haben zu die­sem Zeit­punkt das Fol­gen­de über Mil­ler zu sagen: Unser Mann ist ent­kräf­tet und stark ver­schmutzt. Zwei Fin­ger der lin­ken Hand sind erfro­ren. Kopf­wärts wan­dern­de Spu­ren von Dehy­dra­ti­on. Mil­ler spricht nur einen Satz: All for not­hing. Wir haben den Rück­weg ange­tre­ten, indes­sen, bei genaue­rer Betrach­tung unse­rer Umge­bung, auf Fels­for­ma­tio­nen ent­lang der Küs­te Frag­men­te von Zei­chen­ket­ten ent­deckt. Ein­deu­tig Mil­lers Hand­schrift. Brin­gen Dich­ter Mil­ler jetzt nach Hause.

ein­ge­fan­gen
22.57 UTC
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