romeo : 1.28 — New York. Subway Linie 7 Richtung Queens. Ein Herr mit Aktenkoffer steigt Station Jackson Avenue in den Zug, setzt sich, legt seinen Koffer auf die Knie, öffnet den Koffer und entnimmt ein Gerät, das nicht sehr viel größer ist als eine Streichholzschachtel. Bald werden Batterien sichtbar, eine Versammlung von vier Batterien, 1.5 Volt, die mittels eines Gummibandes aneinander befestigt sind. Drähte führen in die Luft, sie beben in der Bewegung des Zuges, werden in diesem Moment von gleichfalls bebenden Fingern des Mannes eingefangen, mehrfach verzwirbelt und vorsichtig mit dem kleinen Gerät, das der Mann seinem Koffer zunächst entnommen hatte, verbunden. Ein Junge mit Gitarre schlendert indessen musizierend durch den Zug, breitbeinig, in der Art der Matrosen auf hoher See. Fahrgäste in der Nähe des Mannes mit dem Aktenkoffer beobachten interessiert wie der Mann aus der linken Tasche seines Jacketts eine Kurbel hebt, filigranes Werkzeug, Welle von Metall, hölzerner Griff. Er steckt die Kurbel in den Streichholzkasten und beginnt vorsichtig an ihr zu drehen. Jetzt schließt er seine Augen, kurbelt weiter. Einige Meter entfernt sitzt ein Mädchen auf einer grellbunten Reisetoilette. Auch das Mädchen, während es wartet, beobachtet den Mann und seine Kurbelmaschine voller Hingabe. In dieser Sekunde schließt auch das Mädchen, wie der Mann, andächtig die Augen. – stop
Aus der Wörtersammlung: bein
frankie
~ : malcolm
to : louis
subject : FRANKIE
date : june 9 12 0.05 a.m.
Samstag. Nacht. Gute Nachrichten sind zu übermitteln. Endlich haben wir ein Eichhörnchen gefangen, Central Park, Höhe 76. Straße, ein großes, graues Tier. Wir haben ihm den Namen Frankie verpasst. In diesem Moment schläft Frankie tief und fest. Es ist kaum zu glauben, dass wir seinen kleinen runden Bauch, der sich vor unseren Augen hebt und senkt, in wenigen Stunden öffnen werden. Arme und Beine sind bereits am Tisch befestigt, ein Anblick, der nicht gut zu ertragen ist. Frankie wirkt hilflos, erbärmlich, wie er hingestreckt vor unseren Augen ruht. Als wir ihn badeten, wachte er vom Wasser auf, das er vielleicht nicht gewohnt ist, und zeigte seine kräftigen Zähne. Ich nehme an, er wird in diesem Moment weder hören noch sehen, nur träumen oder auch nicht. Da wir nun alles auf das Sorgfältigste vorbereitet haben, Satellitensender wie USB-Datenträger liegen bereit, bitten wir um präzise anatomische Anweisung, in welche Tiefe wir das Material in Frankies Körper zu versenken haben. Wie lange Zeit sollten wir Frankie nach Operation narkotisieren? Wann könnten wir ihn wieder in die Freiheit entlassen? Antworten Sie bitte rasch! Ihr Malcolm / codewort : hibiskusblüte
empfangen am
9.06.2012
1281 zeichen
rund um das müllnerhorn
sierra : 0.02 — Den halben Abend mit der Überlegung zugebracht, was ein moderner Kentaur, ein Kentaur unserer Tage, der in der Gegend um das Müllnerhorn in einem Laubwald unter Buchen, Eichen und Lindenbäumen leben könnte, zum Frühstück gerne zu sich nehmen würde. Wie im Flug ist die Zeit vergangen, ein Zustand leichter Selbstvergessenheit. Ich habe mir zunächst Dunkelheit vorgestellt, Dämmerung, dann, in diesem glimmenden Licht des nahenden Tages, die Umrisse eines Kentaur von zierlicher Gestalt, wie er noch schlafend seitlich auf etwas Moos gebettet liegt und träumt. Kaum sichtbare Atmung, die Hände, lose gefaltet, ruhen auf der Brust, ein Auge leicht geöffnet, peitschende Bewegung der weißhaarigen Spitze seines Schwanzes. Von einem ersten Sonnenstrahl berührt, setzt er sich auf, reibt sich das Fell, kurz darauf eine schwungvolle Bewegung und schon steht der Kentaur auf seinen vier Beinen. Ein wunderbar blauer Himmel über ihm, ein Himmel, den man sofort für ein gestürztes Meer halten könnte, ein Meer ohne Wind, ruhig, da und dort eine Wolke von Fisch. Jetzt liegt der Kentaur wieder seitlich auf dem Boden, seinen schönen Kopf auf eine Hand gestützt, nascht er von einem Häufchen Beeren, blättert in einem ramponierten Telefonbuch der Stadt Chicago, liest den ein oder anderen Namen laut vor sich hin, einmal eine Himbeere, dann wieder einen Namen. Ja, ich ahnte, Kentauren bevorzugen vielleicht wilde Waldhimbeeren zum Frühstück. Und nun, es ist kurz nach Mitternacht, stellt sich die Frage, ob es Kentauren möglich ist, Bäume zu besteigen? — stop
für h.d.
siatista mittags
tango : 0.02 — Man erzählt, aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinen, weil er im hohen Alter noch hungern musste, soll sich gestern, gegen 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit, ein alter Mann auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen haben. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war zu erfahren, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später tötete das Projektil eine Fliege, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? — stop
koffer unsichtbar
echo : 0.03 — Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zurzeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Indessen habe ich seit zwei Tagen Kenntnis von einer Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrt zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — stop
MLR X‑867
nordpol : 3.55 — Folgendem Molluskenwesen gilt nachtwärts meine Aufmerksamkeit: MLR X‑867, 10 cm in der Länge, 1 cm in der Höhe, 2 cm in der Breite, samtig schwarzer Körper, 30 Gramm schwer, hohl und höchst beweglich. Dieses Schneckenwesen lebt vornehmlich im Wasser, weswegen es über Kiemen gebietet, wandert dort langsam auf Lamellenbeinen über den Boden hin oder felsige Wände auf und abwärts. Aber auch in Gefangenschaft überlebt es gerne, solange man warme Fliegenlarven füttert, die großzügig über die Oberfläche des Molluskengewässers zu verteilen sind. Es ist vielleicht so, dass in stetiger Erwartung, das kleine Tier in genau jenem Moment, da es der bebenden Larvenkörper ansichtig geworden ist, Hochgeschwindigkeitszungen in Richtung seiner Beute schicken wird, Zungen, die einem schmalen Rücken entkommen, dort reiht sich ein Mund an den nächsten, es sind sieben insgesamt, die geschlossen vollständig unsichtbar bleiben. Nun wäre das noch nichts Besonderes, wenn es sich bei diesem Wesen, nicht um eine Persönlichkeit von hervorragender Musikalität handeln würde, man leuchtet nämlich in jeder erdenklichen Farbe, sobald man Geräusche, noch die leisesten hört. Das Schwarzsein bedeutet also Stille. Art und Position der Schneckenohren sind zu diesem Zeitpunkt, 3 Uhr 28 Minuten, noch nicht bekannt. — stop
stand clear to the closing doors
sierra : 0.27 — War auf dem Weg südwärts in einem Subwayzug. Hatte mein Notizbuch in der Hand und notierte Wörter für Geräusche, die ich hörte. Heulen. Scheppern. Klirren. Zischen. Pfeifen. Bald waren alle nahe liegenden Möglichkeiten verzeichnet, und so fing ich an, Wörter zu erfinden, dschumm dschumm. Das war keine leichte Arbeit, vor allem das Notieren von Hand in dieser schwankenden Landschaft war kaum möglich gewesen, ich machte anstatt Wörtern Zeichnungen, die sich über eine ganze Seite meines Notizbuches erstreckten. Und plötzlich war da eine Stimme, eine besondere Stimme. Es war die Stimme einer Frau, die ich hörte. Sie reiste mit im Zug, verkündete die Namen der Stationen, die wir bald erreichen würden. Die Stimme kam aus einem Lautsprecher, der in die Decke des Waggons eingelassen war. Eine sanfte Stimme, eine Stimme, die ich vielleicht deshalb wahrgenommen hatte, weil man in ihr eine Spur von Anteilnahme vernehmen konnte, eine Freude zu sprechen, diese Wörter aufzusagen, Chambers Street. Ein Satz schien ihr besonders am Herzen zu liegen: Stand clear to the closing doors! Diesen Satz wiederholte sie beinahe zärtlich immer dann, wenn der Zug eine der Stationen wieder verlassen sollte. Es war wie eine Melodie. Ich hörte auf zu schreiben, und ich machte eine Tonaufnahme, beobachtete den Ausschlag des Zeigers auf meiner Maschine. Als wir eine halbe Stunde später die Endstation des Zuges erreichten, South Ferry, machte ich mich auf die Suche nach der Frau, der ich zugehört hatte. Es war eine kleine Frau, eine dunkelhäutige Frau mit weißem Haar, sie war sehr fein geschminkt, etwa 60 Jahre alt, sie unterhielt sich, als ich an ihr vorüberkam, mit einem Herrn, der wie sie selbst die blaue Uniform der New Yorker Verkehrsbetriebe trug. Sie schien sehr glücklich zu sein, voller Freude, eine leuchtende Person, dschumm dschumm. — stop
erfundene fotografie mit kamelen
delta : 0.22 – Kamele sind Tiere, die ich schon immer mochte. Sie erscheinen mir vertraut, als hätte ich einen Teil meines Lebens unter Kamelen zugebracht. Ihre großen Augen, die leicht aus dem Kopf hervorstehen, ihr samtig ledriger Mund, ihr Geruch, ihr warmer Bauch, das weiche dichte Fell. Ich erinnere mich, dass man mir vor langer Zeit einmal erzählte, ich sei während meiner Besuche mit meinem Vater im zoologischen Garten immer wieder gern bei den Kamelen gewesen. Auch soll mein Vater mich auf den Schultern getragen haben, während ich seinen großen Kopf mit meinen kleinen Armen umfasste. Merkwürdig ist, dass ich mich an keine Fotografie erinnere, die mich dort oben als einen stolzen Reiter zeigt, vermutlich deshalb, weil mein Vater vor Jahren der einzige Fotograf der Familie gewesen war. Es existieren überhaupt nur wenige frühe Bilder, die ihn und mich gemeinsam zeigen. Und so habe ich nun folgendes probiert. Ich habe eine Fotografie in meinem Kopf illuminiert, ein Dokument, das nie existierte und doch sehr wirklich werden könnte, wenn ich nur lange genug daran arbeite. Das Dokument ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie zeigt einen Mann in weiten dunklen Hosen, mit hellem Hemd, das ist mein Vater. Auf seinen Schultern sitzt ein kleiner Junge, auch er trägt ein helles Hemd, Sandalen und kurze Lederhosen, das bin ich. Über uns verzweigt sich ein Ulmenbaum. Es ist ein mächtiger Baum. In seinem Schatten hinter einem Zaun stehen zwei Kamele, sie schauen uns an. Da ist noch ein Flamingovogel, hungrige Gestalt, der auf einem Bein mitten auf dem Spazierweg steht. Das sieht alles schon sehr gut aus, finde ich. Ich habe mir dieses Bild vorgestellt, bis ich es so genau vor mir sehen konnte, dass ich es auf einem vorgestellten Tisch drehen und wenden könnte. Mein Vater, den ich jetzt in dieser Weise sehen kann, war ein junger Mann, der lachte. Er zeigte in die Richtung der Kamele. Und auch ich zeigte mit einem Finger in die Richtung der Kamele und auch ich lachte. Es war Sommer. — stop
upper new york bay : eine minute auf der samuel I. newhouse
ulysses : 17.58 — Staten Island Fähre gegen 15 Uhr. Eine Frau und ein Mann, die tief schlafend Seite an Seite sitzen und doch auf eine seltsame Weise miteinander zu sprechen scheinen. Sie tragen beide keine Zähne, vielleicht weil sie morgens vergessen haben, sie einander in den Mund zu legen. Ihre Schläfen, eine linke und eine rechte Schläfe, zueinander gelehnt. Lider, alabasterfarben, durchsichtig beinahe, hier, an der Bewegung der Augäpfel, ist zu erkennen, dass sie kommunizieren. Eine Hand des Mannes ruht, gleichwohl schlafend, auf dem Bauch der Frau. Draußen, hinter Salzfenstern, die Wasserfahne eines Feuerlöschbootes. Und Möwen, schwere Möwen, die das Schiff betrachten, als hätten sie es noch nie zuvor gesehen. Gleich werden die Schlafenden sich erheben. Sie werden, als ob sie in ihrem Inneren über eine geheime Sanduhr verfügten, ihre Augen öffnen und sich bugwärts auf den Weg machen, Sekunden nur, ehe eine Lautsprecherstimme sie zum Verlassen der Fähre auffordern wird. — Leichter Regen. — stop
downtown manhattan : concerto No 5
nordpol : 0.01 — Donnerstag, später Abend. Mrs. Lillue spielt Mozarts Violin Concerto No 5. Schwere Schneeflocken schaukeln vom dunklen Himmel. Eisige Kälte da draußen über der Upper Bay, in der Wartehalle Whitehall Ferry Terminal aber ist es warm und die Luft so trocken, dass Mrs. Lillue ihren Mantel ablegt. Sie trägt jetzt ein dunkelgrünes Kleid, das bis zum Boden reicht und feuerrote Turnschuhe. Ein schwarzer Junge sitzt in ihrer Nähe auf seinem Basketball und hört ihr zu, mit ernstem Gesicht. Kaum ein weiterer Laut zu hören, obwohl hunderte Menschen darauf warten, auf das nächste Schiff treten zu dürfen, das gleich anlegen wird. In diesem Moment nähert sich eine zierliche alte Frau der Künstlerin. Sie ist beinahe durchsichtig, so hell ihre Haut, so hell ihre Augen, und auch ihre Stimme so hell, dass man sie kaum noch vernehmen kann. Sie will wissen, wie alt die Geige sei, auf der Mrs. Lillue spielt? Wie sich die alte Frau so weit streckt, bis sie auf den Spitzen ihrer Zehen zu stehen kommt, um mit dem Rücken ihrer Hand über das Holz des Instruments zu streichen. — stop