Aus der Wörtersammlung: bunt

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afrika

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echo : 0.08 — Ein Mäd­chen war­tet vor einer Ampel an der Hand sei­ner Mut­ter. Auf der ande­ren Sei­te der Stra­ße steht ein Mann in einem wei­ten, bun­ten Gewand. Er ist von schwar­zer Haut­far­be und spricht mit lau­ter Stim­me in ein Tele­fon. Das Mäd­chen fragt die Mut­ter: War­um redet der Mann so laut? Die Mut­ter ant­wor­tet: Der Mann tele­fo­niert mit Afri­ka! Das Mäd­chen schaut zu dem Mann hin­über. Plötz­lich sagt es: Das ist aber sehr weit ent­fernt. — stop

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tasmanien

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echo : 22.15 UTC — In den Maga­zi­nen eines Brief­mar­ken­händ­lers ent­deck­te ich kürz­lich einen beson­de­ren Brief. Der Brief war mit Post­wert­zei­chen Ita­li­ens, Frank­reichs und Groß­bri­tan­ni­ens ver­se­hen, eine nicht übli­che Art der Fran­kie­rung. Wei­ter­hin war der Brief an eine weib­li­che Per­son adres­siert, wohn­haft in einer Stadt, die über­haupt nicht exis­tiert: 85, Teatree-City / Tas­ma­nia. Unter die­ser hand­schrift­li­chen Orts­an­ga­be nun fand sich eine fili­gra­ne Bunt­stift­zeich­nung, deren Schön­heit sich zunächst im Licht eines star­ken Ver­grö­ße­rungs­gla­ses erschloss. Sie zeig­te ein Kreuz­fahrt­schiff, das eine Küs­te pas­siert, dort eine ber­gi­ge Land­schaft, dicht bewal­det. Affen, ver­mut­lich Gib­bons, waren zu erken­nen, die an ihren Schwän­zen oder lan­gen Armen in den Bäu­men hin­gen. Man­che der Affen hiel­ten die Augen geschlos­sen, ver­mut­lich, weil sie schlie­fen, ande­re schie­nen den Künst­ler selbst, der sie gestal­te­te, zu beob­ach­ten. Da waren noch zwei Pan­ther im Unter­holz, eini­ge Muscheln im Sand, und Krab­ben, und flie­gen­de Fische. Über den Stamm eines Bau­mes wan­der­ten Amei­sen, wel­che Ein­zel­tei­le eines Vogels trans­por­tier­ten, Federn, Tei­le eines Schna­bels, Kno­chen. Über einen Absen­der ver­füg­te der Brief übri­gens nicht, auch nicht über fühl­ba­ren Inhalt. — stop
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ein aquarium

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tan­go : 22.02 UTC — Bob erzählt von einem Aqua­ri­um, kei­nem gewöhn­li­chen Aqua­ri­um, viel­mehr einem Aqua­ri­um, das ihm einer­seits gehö­ren, ande­rer­seits sehr weit ent­fernt sein soll, näm­lich bei­na­he auf der ande­ren Sei­te der Welt, in Thai­land in einem Vor­ort der Stadt Bang­kok in einem Café neben einer Tank­stel­le mit Gar­ten, in wel­chem Orchi­deen auf Bäu­men wach­sen. Auch Vögel sol­len dort im Gar­ten zahl­reich leben, und Kin­der spie­len, weil sich in der Nähe eine Schu­le befin­det. Er selbst, erzählt Bob, sei in die­se Schu­le gegan­gen, habe Eng­lisch gelernt und Mathe­ma­tik, gera­de in Mathe­ma­tik soll er gut gewe­sen sein. Jetzt lebt er also in Euro­pa und besucht eine Uni­ver­si­tät, um die Spra­che der Com­pu­ter­ma­schi­nen zu stu­die­ren. Das Café, das mei­ner Mut­ter gehört, und auch ein wenig mir selbst, läuft gut, sagt Bob, wir kön­nen von unse­ren Ein­künf­ten gut leben. Ich brau­che ja nicht viel Geld hier, klei­nes Zim­mer. Er holt sein Tele­fon aus der Hosen­ta­sche, tippt ein wenig auf dem Bild­schirm her­um, dann reicht er mir das klei­ne, fla­che Gerät über den Tisch. Schau, sagt er, das ist mein Café, das ist mei­ne Mut­ter in Echt­zeit, es ist gera­de frü­her Mor­gen, sie berei­tet sich auf ers­te Gäs­te vor, die kom­men bald. Tat­säch­lich erken­ne ich auf dem Bild­schirm eine älte­re Frau, die auf einem Brett von Holz irgend­wel­che Pflan­zen zer­teilt. Bob nimmt mir das Tele­fon kurz aus der Hand, tippt noch ein­mal auf den Bild­schirm. Nun sind Fische anstatt sei­ner Mut­ter zu sehen. Das ist mein Aqua­ri­um, sagt Bob, lei­der nur in schwarz-wei­ßer Far­be. Sie sind ziem­lich bunt. Zwei von ihnen habe ich selbst gefan­gen im ver­gan­ge­nen Win­ter. Es ist ein Salz­was­ser­aqua­ri­um. Gleich wird mei­ne Mut­ter die Fische füt­tern. Solan­ge kön­nen wir war­ten. — stop
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licht

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alpha : 22.01 UTC — Im Frei­luft­ki­no abends jagen Fle­der­mäu­se durchs Bild, wer­den für Sekun­den­bruch­tei­le vom Film­licht erfasst, feder­lo­se Vögel, hell­braun, rosa, aber blit­zen­de Zähn­chen, die ich mir hin­zu­dich­te, es geht alles so schnell, dass ich allein Erin­ne­rung wahr­neh­me, die gestal­tet wer­den kann. Auf der Lein­wand uralte rie­si­ge Eichen, von wel­chen Loui­sia­na Moo­se wehen, wie gefro­ren. Ein Mäd­chen sitzt auf einem Ast in gro­ßer Höhe, sie trägt ein wei­ßes, knö­chel­lan­ges Kleid. Auf dem Fluss hin­ter der Lein­wand zieht ein Damp­fer vor­über, bun­tes Glüh­bir­nen­licht, Men­schen, die Sal­sa tan­zen. — stop

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im aquarium

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india : 20.01 UTC — Ein­mal beob­ach­te­te ich in der Unter­was­ser­ab­tei­lung eines zoo­lo­gi­schen Gar­tens Medu­sen und Hai­fi­sche, auch Bunt­bar­sche und See­ster­ne. Es war dort bei­na­he dun­kel gewe­sen, Besu­cher flüs­ter­ten, wohl weil man im Schat­ten­licht lei­se spricht. Als ich mich gera­de umdre­hen woll­te, um nach einem Aus­gang zu suchen, ent­deck­te ich einen klei­ne­ren Behäl­ter, der auf einem Sockel inmit­ten des Saa­les ruh­te. Da schweb­te ein Wesen in dem Behäl­ter, das ich noch nie zuvor gese­hen hat­te. Ich dach­te, tat­säch­lich exis­tie­ren Unter­was­se­r­en­gel, Per­sön­lich­kei­ten, die sich ein Maler aus­ge­dacht haben könn­te. Eini­ge Minu­ten lang war­te­te ich dar­auf, doch end­lich wach zu wer­den, indes­sen der Unter­was­se­r­en­gel mich sei­ner­seits zu beob­ach­ten schien. Kurz dar­auf näher­te sich ein Mit­ar­bei­ter des Aqua­ri­ums, er strich mit einem Fin­ger über die Schei­be hin, der Fisch folg­te dem Fin­ger, als ob er mit ihm befreun­det sei. Ich sag­te, das ist ein selt­sa­mer Fisch, eine Art Unter­was­se­r­en­gel. Nein, ant­wor­te­te der Mit­ar­bei­ter, das ist ein Fet­zen­fisch. Das kann nicht sein, erwi­der­te ich, eine selt­sa­me Bezeich­nung für ein so wun­der­vol­les Wesen. Eine Wei­le dis­ku­tier­ten wir über das Recht oder Unrecht, Namen an Tie­re oder Pflan­zen zu ver­ge­ben. In die­ser Zeit beob­ach­te­te uns der Fisch auf­merk­sam. Plötz­lich dreh­te er sich um und ver­schwand in einer Höh­le, so als habe er die Ent­schei­dung getrof­fen, genau in die­sem Moment sei­nen Arbeits­tag als Fet­zen­fisch zu been­den. — stop

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indien

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echo : 20.12 UTC — Eine Ber­li­ner Freun­din erzähl­te unlängst, sie habe wäh­rend ihrer letz­ten Indi­en­rei­se beob­ach­tet, wie Men­schen Kühe in einer Wei­se bemal­ten, dass sie voll­kom­men bunt gewe­sen sei­en, selbst ihre Wim­pern, die Spit­zen ihrer Schwän­ze, Hufe und Lip­pen leuch­te­ten in grel­lem Blau oder Rot oder Gelb. Ich frag­te mich, inwie­fern sich jene far­bi­gen Kühe noch als Kühe erkannt haben moch­ten, ob sie sich nicht viel­leicht fürch­te­ten vor jenen bun­ten Wesen, die einer­seits vor ihren Augen so fremd sein moch­ten, aber doch einen sehr ver­trau­ten Geruch ver­ström­ten? — Neun Imp­fun­gen, so wird berich­tet, sind für Indi­en Rei­sen­de zu über­le­gen zum Schutz vor Diph­the­rie, Hepa­ti­tis A, sai­so­na­ler Grip­pe, Typhus, Cho­le­ra, Menin­gi­tis, japa­ni­scher Enze­pha­li­tis, Hepa­ti­tis B bei län­ge­ren Auf­ent­hal­ten oder engem Kon­takt mit der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung, sowie Toll­wut. Was ist unter einem engen Kon­takt mit der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung zu ver­ste­hen? Wie soll­te oder könn­te ich in Kal­kut­ta spa­zie­rend je einen engen Kon­takt zur Bevöl­ke­rung ver­mei­den? — Ges­tern, wäh­rend ich halb schla­fend tele­fo­nier­te, habe ich ver­se­hent­lich mei­nen Fuß­bo­den foto­gra­fiert, auch eine Foto­gra­fie wie­der­um Colette’s wie sie im Bett oder auf ihrem Sofa sitzt und schreibt. — stop

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von vögeln

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ulys­ses : 18.10 UTC — Wong Kar-wai’s Vögel ohne Füße, die nie­mals lan­den. Immer wie­der eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung. Auch die Vor­stel­lung der Zep­pe­li­ne, die Jahr­hun­der­te lang wie Wol­ken lang­sam um den Erd­ball schwe­ben. Ges­tern zeich­ne­te ich ein Rot­kehl­chen mit einem Blei­stift auf ein Blatt Papier. Ich soll­te erwäh­nen, dass die Zeich­nung des klei­nen Vogels, der von rechts her kom­mend über das Blatt nach links hin segel­te, miss­glück­te, es war das ers­te Rot­kehl­chen, das ich in mei­nem Leben zeich­ne­te. Immer­hin waren zwei Flü­gel zu erken­nen gewe­sen und ein Kör­per­chen in der Mit­te, ein Schna­bel und ein klei­ner Kopf. Auch ein roter Fleck auf dem Kör­per­chen in der Gegen­den des Hal­ses war zu ent­de­cken, weil ich nach einem roten Bunt­stift such­te, das dau­er­te recht lan­ge, wäh­rend der klei­ne Vogel gedul­dig war­te­te, dass ich mit wesent­li­cher Far­be zu ihm zurück­keh­ren wür­de. — Wes­we­gen ich ein Rot­kehl­chen gezeich­net habe? — Nun, ich habe die­se Zeich­nung ange­fer­tigt, weil ich mich frag­te, ob irgend­wann ein­mal flie­gen­de Ser­ver­ma­schi­nen in der Gestalt der Sing­vö­gel denk­bar sein wer­den, die in Schwär­men her­um­flie­gen, indes­sen sie mit­tels unsicht­ba­rer Wel­len mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren? Wie lan­ge Zeit wür­den wir die­se flüch­ti­gen Schwarm­ob­jek­te noch als unse­re Geschöp­fe ver­ste­hen? Wären wir in der Lage, sie jemals wie­der ein­zu­fan­gen? — Deniz Yücel wei­ter­hin in Haft! — stop
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brooklyn : zur zeit der fliederblüte

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sier­ra : 2.10 — Man stel­le sich das ein­mal vor, wie man an einem war­men Früh­lings­tag in Brook­lyn durch den Pro­s­pect Park spa­ziert. Gera­de ist die Zeit der Flie­der­blü­te ange­bro­chen, die Bäu­me duf­ten weit in die Stra­ßen hin­ein, Möwen flie­gen im Park her­um, obwohl sie eigent­lich nie­mals die Innen­sei­te der Stadt besu­chen, es ist eben ein beson­de­rer Tag in einem nächs­ten Jahr. Und wie wir so im Park spa­zie­ren, mei­nen wir zu bemer­ken, dass das Licht ein ande­res Licht ist, als noch vor Mona­ten, als wir zuletzt an die­sem wun­der­ba­ren Ort ein paar Stun­den Zeit ver­brach­ten, um Wasch­bä­ren zu zäh­len viel­leicht, oder Eich­hörn­chen, Tau­ben, Men­schen, die­se Freu­de, jawohl, an der Zäh­lung der Welt, an der Beob­ach­tung der Far­ben. Heu­te aber ist das Licht ein ande­res Licht gewor­den, noch immer oder wie­der Son­ne, aber auch ein selt­sa­mer Schat­ten, kei­ner der Wol­ken­schat­ten, die immer­zu von Licht durch­setzt gewe­sen sind, son­dern ein Schat­ten, der ener­gisch ist, der das Gleich­ge­wicht des Lich­tes in der Wei­te des Parks zu ver­än­dern scheint. Noch haben wir nicht zum Him­mel geschaut, son­dern uns nur gewun­dert, dass das Licht ein ande­res Licht ist, ein Licht­ge­fühl, das sich grund­sätz­lich änder­te, das könn­te sein, ein merk­wür­dig blau­es Licht, das auf den Blät­tern der Bäu­me flim­mert, auf den Fel­len der Eich­hörn­chen, im Gefie­der der Tau­ben. Und da sehen wir, dass den Bäu­men, den Eich­hörn­chen­tie­ren, den Tau­ben ihre Schat­ten feh­len, als wäre so etwas wie eine Son­nen­fins­ter­nis am Him­mel auf­ge­tre­ten. Höhe Caroll Street ent­de­cken wir ein Tau, nein, ein metal­le­nes Seil, das im Gestein fest ver­an­kert wur­de, ein kräf­ti­ges Seil, das senk­recht aus dem Boden steigt, ein Seil, um wel­ches sich wei­te­re Sei­le aus dem Boden erhe­ben. Gera­de in dem Moment, als wir dort am Ort der im Wie­sen­bo­den ver­an­ker­ten Seil­strän­ge ange­kom­men sind, beob­ach­ten wir eine metal­le­ne Seil­bahn­ka­bi­ne, in wel­cher ein Mensch steht, der lang­sam him­mel­wärts schwebt. Wir fol­gen ihm mit unse­ren Bli­cken hin­auf zu einem rie­si­gen Fes­sel­bal­lon, an wel­chem statt eines Kor­bes, Gebäu­de von Holz befes­tigt sind. Das sind wun­der­ba­re, klei­ne Häu­ser, sie sind in den Far­ben der Nord­län­der gestri­chen, in Blau und Gelb und grün und rot, eine Trau­be bun­ter Häu­ser, die über Fens­ter ver­fü­gen, dort, wo sich an Häu­sern Fens­ter immer befin­den. Aber die Türen, die Türen sind in den Boden der Häu­ser ein­ge­las­sen, das ist schon selt­sam, die­se Türen, die sich dort befin­den, wo man die Häu­ser nie­mals sieht, weil sie auf dem Boden ruhen. Wir ste­hen ganz still und schau­en hin­auf, und wir wun­dern uns wie weit es da doch hin­auf­geht, Men­schen win­ken aus geöff­ne­ten Fens­tern, sie sind klein, ja, die­se win­ken­den Wesen müs­sen unbe­dingt Men­schen sein, an die­sem wun­der­bar war­men Früh­lings­tag in Brook­lyn im kom­men­den Jahr, einem Tag, an dem Sil­ber­mö­wen in fürch­ter­li­chen Rudeln vom Meer her in die Stadt gekom­men sind. — stop
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im warenhaus

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marim­ba : 0.02 — Am Abend im Waren­haus beob­ach­te ich einen Jun­gen. Er springt in einer War­te­schlan­ge vor einer Kas­se her­um und lacht und ver­dreht die Augen. Weil sich auf dem För­der­band vor der Kas­se Milch­fla­schen, Corn­flakes­schach­teln, Reistü­ten sowie zwei Honig­me­lo­nen befin­den, kann der Jun­ge den Mann, der an der Kas­se sei­ne Arbeit ver­rich­tet, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann han­delt es sich um Javuz Aylin, er ist mit­tels eines Namens­schild­chens, das in der Nähe sei­nes Her­zens ange­bracht wur­de, zu iden­ti­fi­zie­ren. In die­sem Moment der Geschich­te erhebt sich Herr Aylin ein wenig von sei­nem Stuhl, um neu­gie­rig  über die Waren hin­weg zu spä­hen, ver­mut­lich des­halb, weil der Haar­schopf des Jun­gen mehr­fach in sein Blick­feld hüpf­te. Da ist noch ein zwei­ter Haar­schopf an die­sem Abend im Waren­haus in nächs­ter Nähe, schwar­zes, locki­ges Haar, es ist der jün­ge­re Bru­der des Jun­gen, der in weni­gen Sekun­den zu dem Kas­sie­rer spre­chen wird, bei­de Kin­der sind sich so ähn­lich, als sei­en sie Zwil­lin­ge, ein gro­ßer und ein klei­ner Zwil­ling. Gleich hin­ter den Buben war­tet die Mut­ter, sie lächelt, wie sie ihre Kin­der so fröh­lich her­um­tol­len sieht. Die jun­ge Frau trägt ein schö­nes bun­tes Kopf­tuch, ich stel­le mir vor, sie könn­te in Marok­ko gebo­ren wor­den sein, kräf­tig geschmink­ter Mund, herr­li­che Augen. Plötz­lich sind die Waren auf dem För­der­band ver­schwun­den, der älte­re der bei­den Jungs betrach­tet auf­merk­sam das Gesicht des Kas­sie­rers Aylin, der müde zu sein scheint. Er hält dem Jun­gen ein Päck­chen mit Sam­mel­bil­dern zur Euro­pa­meis­ter­schaft ent­ge­gen, außer­dem ein zwei­tes Päck­chen für den klei­ne­ren Bru­der, der immer noch hüpft, weil er soeben doch noch zu klein ist, um über das Band selbst hin­weg spä­hen zu kön­nen. Oh, dan­ke, sagt der Jun­ge zu Herrn Aylin. Er schaut kurz zur Mut­ter hin­auf, die nickt. Ich habe schon fast alle Kar­ten, fährt er fort, die deut­sche Mann­schaft ist kom­plett. Er macht eine kur­ze Pau­se. Ich bin näm­lich Deut­scher, sagt der Jun­ge mit kräf­ti­ger Stim­me, auch mein Bru­der ist Deut­scher. Wie­der schaut er zu Mut­ter hin, und wie­der nickt die jun­ge Frau und lacht. Bist Du auch Deut­scher, fragt der Jun­ge Herrn Aylin. Der schüt­telt jetzt den Kopf und schnei­det eine freund­li­che Gri­mas­se. Der Jun­ge setzt nach: Ach so! War­um nicht? Aber da ist er, ehe Herr Aylin ant­wor­ten kann, mit sei­nem klei­nen Bru­der und sei­nen Sam­mel­bil­dern bereits hin­ter der Kas­se ver­schwun­den, sodass sich ihre Mut­ter beei­len muss, um sie nicht aus den Augen zu ver­lie­ren. — stop
ersteseite

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marthageschichte

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echo : 5.12 — Mar­tha ist 76 Jah­re alt. Seit 18 Jah­ren trinkt sie Likör. Schon am frü­hen Mor­gen beginnt sie damit. Sonst nimmt sie wenig zu sich. Die Luft riecht süß­lich um sie her­um. Aber sie ist gut gepflegt. Und umge­fal­len ist sie auch noch nie. Nach­mit­tags um 3 fährt sie an den Bahn­hof. Das ist die Zeit, da für sie der Abend beginnt. Sie hat dort einen fes­ten Platz. Gleis 15 sitzt sie auf einer Bank. Frü­her war ihr Stamm­platz auf Gleis 8. Jetzt fah­ren auf Gleis 8 die schnel­len Inter­ci­ty­zü­ge ein und aus, man hat Mar­tha von höhe­rer Stel­le aus gebe­ten, sich auf Gleis 23 auf eine ver­gleich­ba­re Bank zu set­zen. Aber das ist ein Ran­gier­gleis, dort ist nichts los, außer ein paar Jun­kies, und die sind Mar­tha zu gefähr­lich. Also sitzt sie auf Gleis 15., man könn­te ihre Wahl als einen Kom­pro­miss bezeich­nen. Im Som­mer trägt Mar­tha Kos­tüm­chen. Sie ist gern bunt geklei­det, wenn es doch nicht immer so drü­ckend und heiß wäre. Die Bei­ne wer­den ganz dick davon, und die Füße wol­len sich den Schu­hen nicht län­ger fügen. Manch­mal geht sie ein paar Schrit­te auf und ab. Mar­tha setzt vor­sich­tig Fuß für Fuß. Dann lässt sie sich wie­der nie­der und nimmt sich ein Gläs­chen voll zur Brust, macht einen klei­nen See in das Täsch­chen ihrer Unter­lip­pe, Kara­mell­ge­schmack, den liebt sie unend­lich, auch Anis und Scho­ko­creme, die blau­en Bols mag sie gar nicht. Sobald sie sich wie­der gut fühlt, beginnt sie Papie­re zu fal­ten, die sie aus ihrer Hand­ta­sche nimmt. Sie fal­tet Him­mel und Höl­le. Wenn ein Kind auf dem Bahn­steig vor­über kommt, ver­schenkt sie das Spiel. Mit die­sem Spiel habe ich mir frü­her immer die Zeit ver­trie­ben, sagt sie, da war ich so alt wie du. Oft zer­ren die Müt­ter ihr Kind von der alten Mar­tha weg, weil Kin­der das alles nicht so genau neh­men. Und Mar­tha sagt: Ich habe in Land­au gewohnt. Im Gar­ten hat­ten wir einen Birn­baum. Im Som­mer haben wir Him­bee­ren gepflückt. Der Kel­ler war dun­kel und die Trep­pe steil. Ein­mal bin ich die Trep­pe in Land­au her­un­ter­ge­fal­len. So erzählt Mar­tha immer­zu fort, wie sie im Kel­ler Geis­ter ent­deck­te, oder von den Schnaps­fläsch­chen im Regal ihres Vaters. Zu die­sem Zeit­punkt ist der Zug mit dem Kind längst abge­fah­ren. Sie holt sich jetzt ein wei­te­res Gläs­chen vor den Mund, dann ein neu­es Blatt aus ihrer Hand­ta­sche, ent­we­der ist es ein rotes, ein gel­bes oder ein blau­es. — stop

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