himalaya : 5.06 — Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung war zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein sehr kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrophone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Im Moment zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am Besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
Aus der Wörtersammlung: fensterbrett
ein leises pfeifen
bamako : 2.25 — Eine kurdische Freundin alevitischen Glaubens erzählte mir eine Geschichte, die eigentlich keine Geschichte ist, sondern ein Bericht, weil sie persönlich mehrfach erleben musste, wie ihre Tochter eine Freundin mit nach Hause brachte, eine junge Kurdin sunnitischen Glaubens, die zwar mit der Tochter Zeit verbringen, aber nicht mit der Familie essen wollte, weil sie fürchtete, vielleicht vergiftet zu werden. Ich beobachtete einen tiefen Schmerz in den Augen meiner Freundin während sie erzählte, und auch Zorn und Enttäuschung. Sie erklärte: Das sind die Eltern, die ihre Kinder impfen. Wir Aleviten sind gefährliche Leute, verstehst Du, wir sind lebensgefährliche Leute. Ich fürchte, das alles geht ein Leben lang nicht mehr aus den armen Kinderseelen raus! – Es ist jetzt 0 Uhr und 55 Minuten. Nicht wahr, das ist eine wirklich merkwürdige Begebenheit, die ich in dieser Nacht notiere, um sie nicht zu vergessen. Überhaupt vergesse ich zur Zeit recht viel. Vor einigen Tagen, während ich mit einer weiteren Freundin telefonierte, machte ich eine kurze Pause, um Kaffee zu kochen. Ich bat meine Freundin in der Leitung zu bleiben und stand also in der Küche und erhitzte das Wasser, als eine Taube auf dem Fensterbrett landete. Immer, wenn ich eine Taube sehe, denke ich an Wolfgang Koeppen. Ich habe Wolfgang Koeppen einmal in München in einem Kino beobachtet, einen gebückt gehenden, alten Mann mit Brille, der sich sehr langsam bewegte. Niemand schien ihn erkannt zu haben, worüber ich mich damals wunderte. Ich erinnere mich genau, ich wunderte mich viele Tage lang und überlegte, ob ich Wolfgang Koeppen nicht einen Brief schreiben sollte, um ihm zu erzählen, dass ich ihn gesehen habe im Kino und dass ich mich darüber sehr freute. Plötzlich hörte ich vom Tisch her, auf dem mein Telefon lag, ein leises Pfeifen. Das Pfeifen kam tatsächlich aus dem kleinen Apparat heraus. Als ich das Telefon anhob, wurde das Pfeifen lauter und lauter, und meine Freundin erzählte nur Sekunden später, sie habe nicht mehr daran geglaubt, dass ich sie noch hören würde oder mich an sie erinnern. Sie habe meine Schritte deutlich gehört, außerdem soll ich mit mir selbst gesprochen haben. – stop
PRÄPARIERSAAL : nachthörnchen
nordpol : 5.15 — Seit zwei Stunden sitzt ein Eichhörnchen auf meinem Fensterbrett. Es ist mitten in der Nacht und so kalt, dass ich den Atem des kleinen Tieres, das um diese Uhrzeit eigentlich tief schlafen sollte, in der Dunkelheit zu erkennen vermag. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht täusche. Es ist denkbar, dass ich mir das Eichhörnchen nur vorstelle. Und wie ich über die Möglichkeit der Täuschung nachdenke, bemerke ich, dass die Vorstellung eines Eichhörnchens mittels weit geöffneter Augen tatsächlich gelingen kann und zwar je für ein oder zwei Sekunden in einem Bild, das pulsiert, das in der dritten Sekunde schon wieder verloren ist und zunächst dann wieder erscheint, wenn ich das Wort Eichhörnchen denke oder Eichhörnchenschweif. Ich muss das weiter beobachten. Wenn ich nun die Notizen Michaels aus dem Präpariersaal, die vor mir auf dem Tisch liegen, betrachte, weiß ich, dass sie keine Täuschung sind, weil ich das Papier, auf dem sie sich befinden, berühren, vom Tisch heben, falten und wieder entfalten kann, und damit gleichwohl Michaels Zeichen, die keinerlei pulsierender Bewegung unterworfen sind. Er schreibt: Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege, wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefäße betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Im Moment will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jeder Zeit rechnen. — stop
peru
sierra : 0.02 — Ein Telefon klingelt und hört sofort wieder auf. Aus einem Buch fällt eine Kinokarte, sie ist 21 Jahre alt, Down by Law. Ein peruanischer Zwergkaktus auf meinem südöstlichen Fensterbrett beginnt zu blühen. Das Knistern in der Tiefe meines Armes. Und ein Falter, still, das Diodenlicht seiner Augen. Eine Wiese von Leberblümchen. Wie kleine Dinge in diesen Tagen beruhigen. – stop
abendsegler
romeo : 2.15 — Eines Tages im Zwielicht in großer Höhe über einer blühenden Gartenstadt auf einem Fensterbrett sitzen und mit einer Angel Fledermäuse fischen. — Sind Abendsegler genießbar? — Die kräftigen Muskeln ihrer Brust vielleicht? — Oder ihre Flügel? — Während ich vorhin so saß und überlegte, welche Haltung ich einnehmen sollte, um noch stiller zu werden, um noch tiefer in die Dinge hinein hören zu können, die Einsicht, dass ich niemals einen anderen Menschen tatsächlich erfinden werde, als mich selbst. — Womit könnte ich beginnen? — Vielleicht mit meinen Händen? — Die Sterne sind rund. — Zarte Finger von Licht. — stop — Kurz nach 2 Uhr. — stop — Ich beobachtete meine Hände, wie sie eine Melone schälten. Indem ich eine Melone mit dem Vorsatz öffnete, meine Hände zu beobachten, wurden meine Hände unsicher. Der Eindruck, als wäre diese Melone die erste Melone, die ich je geöffnet habe. — Erstaunlich.
chatraupe
olimambo : 0.10 – Auf dem Fensterbrett. Schau auf die Straße hinunter und höre seltsamen Schwalben zu, wie sie pfeifend und fressend durch die Nachtluft flitzen. Angenehme Stunde, obwohl mir gerade nichts einfällt, weil befangen von Fernsehbildern, die ich vor einer Stunde noch beobachtet habe. Froh, dass ich das Fernsehgerät endlich ausschalten konnte. Und wenn ich nun vom Fenster aus ins Zimmer schaue, sehe ich einen weiteren Text, als meinen schweigenden Text, zeilenweise auf dem Bildschirm meiner großen Schreibmaschine entstehen, ohne dass ich zur Entstehung dieses Text etwas beitragen müsste. Der Text schreibt sich langsam schwingend wie eine Raupe vorwärts. Natürlich ist dieser Text auf dem Bildschirm kein Lebewesen, wie eine Raupe ein Lebwesen ist, das sterben, also aufhören könnte. Dieser Text ist das Ergebnis einer Schreibarbeit, die fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Menschen in diesem Moment in ihren Chatprogrammmasken verrichten. Der Verdacht, der Text schreibt sich auch dann, wenn ich nicht anwesend bin. — Acht Uhr zwölf in Rangen, Burma. — stop
plankton
21.22 — Gestern Abend, ich sass im letzten Licht der Sonne auf dem Fensterbrett, habe ich entdeckt, dass ich die Luft, sobald ich ihre feinen Stäube als Plankton und Fliegen und Falter als Fische betrachte, für eine Flüssigkeit, sagen wir, für ein Meeresgewässer halten kann. — stop