tango : 6.35 — Während einer Trauerfeier für Nelson Mandela, heftiger Regen, soll ein Mann, den ich mit eigenen Augen ohne Verzögerung beobachtete, in einer merkwürdigen Zeichensprache Reden übersetzt oder begleitet haben, die für gehörlose Menschen nicht verständlich gewesen war. Bereits nach den ersten Minuten seines Auftritts hatten sich Menschen irritiert und wütend an Fernsehsender mit der Frage gewendet, um wen es sich dort auf dem Bildschirm eigentlich handelte. Eine doch seltsame Geschichte. Man überlegte, ob der Mann vielleicht gefährlich gewesen sein könnte. Aber der Mann machte nur Luftzeichen mit seinen Händen, nichts weiter. Ich habe mich in den vergangenen Tagen gefragt, was der Mann erzählt haben könnte oder durch seinen Auftritt andeuten wollte. Der Mann war von sehr ordentlicher Gestaltung gewesen, wirkte klar und konzentriert. Er erweckte nicht den Eindruck, als wollte er aus rein persönlichen, aus Eitelkeitsgründen dort oben auf der Bühne neben berühmten Persönlichkeiten stehen, um auf sich aufmerksam zu machen. Er war ganz einfach da und gestikulierte. Ich dachte, es könnte sich in dieser weltweit sichtbaren Sprache um eine erfundene, um eine zufällige, also gar keine Sprache gehandelt haben, weil man sie niemals eindeutig wiederholen könnte. Vielleicht war es Musik, die der Mann mit seinen Zeichen in aller Stille zur Aufführung brachte. Vielleicht übersetzte er die Geräusche des Regens. — stop
Aus der Wörtersammlung: frage
übersee
tango : 6.36 — Am Flughafen morgens um 5 Uhr lehnt ein Mann an einer Wand nahe der Abflugterminals Richtung Übersee. Sein Koffer, als würde er warten, steht neben dem Mann ganz still. Der Mann, Augen geschlossen, scheint zu schlafen. Beide Arme hängen lose am Körper. Als ich näherkomme, sehe ich, dass der Mann ein Ohr an die Wand presst. Er scheint die Wand zu belauschen. Vielleicht, denke ich, sind in der Wand alle Wörter gespeichert, die in ihrer Nähe je gesprochen wurden. Der Mann könnte über ein außerordentliches Gehör verfügen, über fragende Ohren, die Antworten provozieren. Ein Passagengedanke, ein Gedanke im Vorübergehen, ein Sekundengeschöpf, wenn ich diesen Mann nicht mehrfach an genau dieser Stelle in genau dieser beschriebenen Haltung angetroffen hätte. Der Mann trägt einen dunklen Anzug, Krawatte, hellbraune, elegante Lederschuhe. Ich habe keine Vorstellung, welche Farbe die Farbe seiner Augen sein könnte. Auch wenn ich den Mann sofort noch einmal erfinde, fällt mir die Farbe seiner Augen nicht ein. — stop
schlafen in turku
himalaya : 2.32 — Vielleicht werden Sie sich erinnern. Vom Schlafen habe ich bereits im Jahr 2008 notiert, und zwar im Monat November. Vor wenigen Minuten, als ich nach schwebenden Ballonen über der Stadt Turku suchte, habe ich einen entsprechenden Text unter dem Titel „Schlafen in Turku“ in den Verzeichnissen der Google-Suchmaschine wiederentdeckt. Der Text ist mir noch immer nah, weshalb ich ihn mitgenommen und an diesem Zeitort eingefügt habe. Ich stelle nun zum zweiten Mal die Frage: Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — Stille herrscht. — Nur das Fauchen der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. - Drei Uhr dreiunddreißig auf dem Maidan zu Kyjiw. — stop
radioisotop
marimba : 6.58 — In der Vergangenheit habe ich mir oft gewünscht, ich könnte mein Leben aus der Sicht eines Vogels aufzeichnen, der mich begleitet, Gespräche, die ich täglich mit Menschen führe oder heimliche Gespräche mit mir selbst. Auch würde aufgenommen, was ich gesehen habe, während ich reiste, einen Kentauren nahe des Müllnerhorn, Regentropfen am Strand von Coney Island, eine Ameise auf Georges Perec’s Schulter während einer Fahrt in der Pariser Metro, meinen Körper, während ich schlief. Manchmal ist es angenehm, sich zu wünschen, was nicht möglich zu sein scheint, eine große Freiheit der Spekulation. Aber in den vergangenen Tagen wurde mir bewusst, dass die Verwirklichung eines mich begleitenden Vogelwesens nicht länger utopisch ist. Ich kann mir eine fliegende Maschine ohne weitere Anstrengung vorstellen, ein künstliches Luftwesen, vier Propeller, angetrieben von einer leichten Radionuklidbatterie, die sich tatsächlich für Jahrzehnte an meiner Seite in der Luft aufhalten könnte, ein beinahe lautloses Wesen in der Gestalt eines Kolibris, eines Taubenschwänzchen oder einer Biene. Kaum hatte ich das Flugobjekt aus seiner Transportbox gehoben und aktiviert, wusste ich, dass es für immer meiner Person verbunden sein wird, meinem persönlichen Luftraum, den ich mit mir führe, wohin ich auch gehe. Seltsam ist vielleicht, dass es gleichwohl unmöglich sein wird, dieses Wesen je wieder einzufangen, weil es schnell ist in seinen Reaktionen, schneller als meine Hand, schneller als eine Gewehrkugel, ein Wesen, das über die Flugflugfähigkeiten einer Stubenfliege verfügt. – Heute Nacht pfeift ein Sturmwind übers Dach. Ich frage mich, was die Vögel gerade machen. Höre das Moped eines Zeitungsboten. Ich habe den Mann, der eine Frau sein könnte, noch nie gesehen. Er ist pünktlich wie immer. Ich werde gleich das Fenster öffnen. — stop
sekundenfliege
nordpol : 1.32 — In der vergangenen Nacht habe ich eine E‑Mail notiert. Es war kurz nach drei Uhr. Die Frau, an die ich schrieb, lag vermutlich in einem Bett und schlief. Dass ich an Menschen schreibe, die in dem Moment, da ich notiere, schlafen, ist für mich nicht ungewöhnlich, weil ich immerhin wache, während alle anderen in meiner europäischen Umgebung schlafen. Gestern aber hatte ich ein seltsames Gefühl. Ich meinte, mit der schlafenden Frau unmittelbar sprechen zu können, in dem ich notierte. Ich wusste, dass sie bald aufstehen würde, weil sie gegen 4 Uhr einer wichtigen Aufgabe nachzugehen hatte. Ich notierte: Liebe H., es ist kurz nach drei Uhr. Leider musst Du bald aufstehen. Aber das weißt Du vermutlich gerade noch nicht. – In diesem Moment hörte ich auf zu schreiben, ich war mir nicht sicher, ob ich nicht vielleicht gerade Unsinn notierte. Plötzlich die Frage, ob man davon sprechen kann, dass man im Schlaf etwas weiß, obwohl man gerade daran nicht denken kann, weil man von etwas Anderem träumt? Ich dachte: Lieber Louis, aber natürlich weißt Du, dass in Deiner Küche Scheiben einer Entenbrust darauf warten, verzehrt zu werden. Du weißt das genau seit zwei Stunden, obwohl Du Dich seither in Gilles Leroys Roman Zola Jackson vertieftest. Ja, so dachte ich. Auch erinnerte ich mich an eine Winterfliege, die seit gestern Morgen durch meine Wohnung brummt. Vor drei Minuten habe ich von ihrer Existenz scheinbar nichts gewusst, weil ich mich nicht erinnerte, als wäre sie niemals anwesend gewesen. Irgendetwas ist seltsam hier. — stop
landungsbrücken
ginkgo : 6.55 — M. ist verschwunden. Freunde suchen nach ihm. Sie rufen bei mir an und fragen, ob er vielleicht bei mir untergekommen sein könnte. Ich habe M. seit zwei Jahren weder gesehen noch von ihm gehört. Dass er untergetaucht sein könnte, wundert mich nicht. Ich erinnere mich gut an ihn. Er hatte kein Geld, war wirklich arm. Einmal erwähnt er, er habe seit einigen Jahren kein einziges Buch zu Ende gelesen. Auch sei er niemals in einer Buchhandlung gewesen. Trotzdem habe er sehr viel gelesen. Er mache das so. Er lade sich Leseproben auf sein Lesegerät aus dem Internet. Diese Proben lese er dann immer wieder, es ginge ihm um den Klang der Sprache, nicht so sehr um die Geschichten selbst. Er suche regelrecht nach Leseproben, die frei verfügbar sind. Er habe zurzeit über 6000 erste Seiten gespeichert, die sich in seinem Kopf wie Landungsbrücken verhielten. Er spaziere einige Satzmeter weit aufs Meer hinaus, dann gehe es nicht weiter, das feste Land sei entfernt und sehr viel Raum vorhanden, in welchen man sich stürzen und davonschwimmen könne. — stop
im telefon
nordpol : 6.55 — Ich habe eine lustige Geschichte erlebt. In dieser Geschichte kommen ein Mädchen vor, die Mutter des Mädchens, die meine Schwester ist, ein Telefon, ein Fotoapparat, ein Fahrrad, das pink ist, und ich. Die Geschichte ereignete sich vor wenigen Tagen abends. Das Mädchen rief mich an. Sie sagte ihren Namen und dann erzählte sie einfach darauf los, zum Beispiel, dass sie ein Fahrrad besitze, das pinkfarben ist, und dass sie mit dem Fahrrad schon alleine herumfahren könne, ohne umzufallen, und zwar durch den Wald. Plötzlich spricht sie nicht mehr, es ist still, aber ich höre sie atmen. Ich denke noch: Vor wenigen Monaten konnte sie nicht so gut erzählen, wie rasend schnell das geht, dass sich die Wörter formieren. Das Mädchen erzählte jetzt in ganzen Sätzen, es scheint so zu sein, dass sie nun, da sie über ganze Sätze verfügen kann, endlich alle ihre Geschichten sofort erzählen möchte. Eine helle, fröhliche Stimme. Aber dann doch diese seltsame Stille am Telefon, nur ihr Atem. Ich frage: Bist Du noch dran? Hallo! Kannst Du mich hören? Aber das Mädchen antwortet nicht. Immer noch ihr Atmen. Nach einer Minute plötzlich wieder ihre Stimme. Ich erfahre, dass ihre Mutter sie gerade fotografiert, wie sie mit mir telefoniert. Ich sage: Das freut mich. Wunderbar, wir werden fotografiert, Du und ich, ich bin in dem Telefon. Wieder Stille. Eine Pause. Eine sehr kurze Pause. Sagt das Mädchen: Quatsch mit Soße. — stop
gedächtnis
charlie : 3.55 — Einige meiner Bücher scheinen über ein geheimes Gedächtnis zu verfügen. Wenn ich ein Buch mit Gedächtnis nach Jahren aus dem Regal nehme und auf einen Tisch lege, öffnet es sich ein wenig, ein Raum entsteht, als würde das Buch nach einem Finger rufen, der genau in diesen Raum hineinfassen soll. Ich lese dort Sätze, die mir vertraut sind, vielleicht, weil ich sie oft wiederholte, woran sich das Buch noch immer erinnert. Vor kurzem öffnete sich ein Bändchen Elias Canettis genau in dieser Weise. Entdeckte: Es ist das Gute an Aufzeichnungen, dass sie frei von Berechnung sind. Sie sind zu rasch, sie hatten kaum Zeit, der Kopf, in dem sie entstanden sind, konnte bisher nicht fragen, wozu sie zu gebrauchen wären. — stop
ferdinands letztes ende
sierra : 5.52 — Vom Ferdinand habe ich lange Zeit nichts gehört. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war ich überzeugt gewesen, dass er gefährlich geworden war, verrückt, er brüllte herum, sobald er bemerkte, dass man ihm nicht länger zuhören wollte. Kurz darauf plötzlich Stille. Kein Anruf, niemand hatte ihn gesehen, niemand erwähnte seinen Namen, ich traf ihn niemals auf der Straße, nicht im Kino, nicht in den Cafés, nicht im Theater, als wär er eine Erfindung gewesen. Wenn ich an ihn dachte, sagte ich leise, gut so, vielleicht bist du tatsächlich nicht länger hier. Bei dem Gedanken aber, dass er überhaupt aufgehört haben könnte zu existieren, hatte ich ein eigenartiges Gefühl, als ob ich etwas versäumte, noch einmal ein Gespräch, ein oder zwei Fragen, ein Spaziergang ohne zu sprechen, eine Korrektur. Deshalb doch leise Freude, als er anrief, fragte, ob er mich treffen könne. Fünf Jahre, wie die Zeit vergeht, wie siehst du denn aus, kennen wir uns noch? Ich sagte, dass ich mich vermutlich kaum verändert haben würde, und sofort erwiderte er, dass auch er sich kaum verändert habe, dass er noch immer derselbe sei, ein paar neue Zellen, sonst aber derselbe. Also habe ich mich gefreut, dass Ferdinand noch lebte, obwohl wir uns nicht wiedersehen werden, weil er immer noch derselbe ist, weil er unverzüglich losbrüllte am Telefon, als ich von ihm wissen wollte, ob er noch immer gern betrunken sei. Er brüllte also, dann legte er auf. Das war so, als ob er in diesem Moment aufhörte zu atmen, Ruhe, Frieden, ein stillstehendes Herz. — Späte Nacht. Sitze auf einem Stuhl am Fenster und lese im neuen Salterroman. Habe das Buch in zweifacher Ausgabe, einerseits einen schweren Körper, in dem ich blättern kann, anderseits einen derart leichten elektrischen Körper, dass mein Notebook kein Gramm schwerer wurde, als der Roman durch die Leitung zu mir gesendet wurde. All night in darkness the water sped past. — stop
unter salzbäumen
tango : 2.02 — Im Traum sitze ich mit einem alten Mann an einem Tisch. Große Hitze auch im Schatten, den Salzbäume spenden. Wir trinken Kaffee und Wasser, das süß ist wie Honig. Der alte Mann trägt kakifarbene Shorts, seine Haut ist dunkel, gebrannt wie Kaffee, hellgrüne Augen. Eine Erscheinung, zahnlos, die nicht spricht, Haut und Knochen, aber ein Wesen von enormer Ausdauer. Ich höre, der alte Mann soll seit Jahren bereits vor diesem Tisch sitzen, ohne je aufgestanden zu sein. Papiere liegen auf dem Tisch und auf dem Boden. Sie sind beschriftet, kaum leserliche Zeichen. Vor dem Mann ruht ein kleines, schwer atmendes Notebook. Einmal blickt er auf den Bildschirm seiner Maschine, dann wieder auf ein Blatt Papier, das vor ihm liegt, und schreibt. Ameisen von Metall irren im Sand herum. Es gibt keinen Ton im Traum, wenn ich spreche, vernehme ich weder Gedanken noch Stimme. – stop