india : 8.12 UTC — Im Juli des Jahres 2012 hatte ich Eisvogelwörter entdeckt. Ich wiederhole. Nicht erwartete Vielfalt: Herkules-Eisvogel (Alcedo hercules), Kobalt-Eisvogel (Alcedo semitorquata), Schillereisvogel (Alcedo quadribrachys), Meninting-Eisvogel (Alcedo meninting) Azurfischer (Alcedo azurea), Brustband-Eisvogel (Alcedo euryzona), Blaubrustfischer (Alcedo cyanopecta), Silberfischer (Alcedo argentata), Madagaskarzwergfischer oder Schwarzschnabel-Zwergfischer (Alcedo vintsioides), Hauben-Zwergfischer oder Malachit-Eisvogel (Alcedo cristata), Sao-Tomé-Zwergfischer (Alcedo thomensis), Principe-Zwergfischer (Alcedo nais), Weißbauch-Zwergfischer (Alcedo leucogaster), Türkisfischer (Alcedo coerulescens), Papuafischer (Alcedo pusilla) — Auch seltsame Wörter in folgender Nahaufnahme: Der Eisvogel ernährt sich von Fischen, Wasserinsekten und deren Larven, Kleinkrebsen und Kaulquappen. Er kann Fische bis neun Zentimeter Länge mit einer maximalen Rückenhöhe von zwei Zentimetern verschlingen. Bei langgestreckten, dünnen Arten verschiebt sich die Höchstgrenze auf zwölf Zentimeter Körperlänge. Die Jagdmethode des Eisvogels ist das Stoßtauchen. Von einer passenden Sitzwarte im oder nahe am Wasser wird der Stoß angesetzt. Wenn er eine mögliche Beute entdeckt, stürzt er sich schräg nach unten kopfüber ins Wasser und beschleunigt dabei meist mit kurzen Flügelschlägen. Die Augen bleiben beim Eintauchen offen und werden durch das Vorziehen der Nickhaut geschützt. Ist die Wasseroberfläche erreicht, wird der Körper gestreckt und die Flügel eng angelegt oder nach oben ausgestreckt. Bereits kurz vor dem Ergreifen der Beute wird mit ausgebreiteten Flügeln und Beinen gebremst. Zur Wasseroberfläche steigt er zuerst mit dem Nacken, wobei er den Kopf an die Brust gepresst hält. Schließlich wird der Schnabel mit einem Ruck aus dem Wasser gerissen und der Vogel startet entweder sofort oder nach einer kurzen Ruhepause zum Rückflug auf die Sitzwarte. Im Allgemeinen dauert ein Versuch nicht mehr als zwei bis drei Sekunden. Der Eisvogel kann aber auch aus einem kurzen Rüttelflug tauchen, wenn ein geeigneter Ansitz fehlt. Nicht jeder Tauchgang ist erfolgreich, er stößt oft daneben. Der Eisvogel benötigt zur Bearbeitung der Beute in der Regel einen dicken Ast oder eine andere, möglichst wenig schwingende Unterlage. Kleinere Beute wird mit kräftigem Schnabeldrücken oft sofort verschluckt. Größere Fische werden auf den Ast zurückgebracht, dort tot geschüttelt oder auf den Ast geschlagen, im Schnabel „gewendet“ und mit dem Kopf voran verschluckt; anderenfalls könnten sich im Schlund die Schuppen des Fisches sträuben. Der Eisvogel schluckt seine Beute in einem Stück. Unverdauliches, wie Fischknochen oder Insektenreste werden etwa ein bis zwei Stunden nach der Mahlzeit als Gewölle heraufgewürgt. / quelle: wikipedia Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sollen tausende Singvögel in eiskalten, fluchtartig verlassenen Wohnungen verdurstet sein. — stop
Aus der Wörtersammlung: gang
mensch auf einem fahrrad
romeo : 15.12 UTC — Da war eine Straße, auf der sich dicht an dicht Panzerfahrzeuge reihten. Von weit oben her, aus dem Weltraum betrachtet, mochte man meinen, jene Panzerameisen, die sich über eine Straße hin bewegen, würden doch nicht sehr gefährlich sein. Aber jene Gegenstände oder Wesen, auf die die Panzerameisen schießen, sind noch kleiner, sie wären auf Weltraumbildern kaum noch sichtbar. Es ist schwer Größenverhältnisse zu verstehen in kriegerischen Wirklichkeiten. Und Feuerbälle. Und überhaupt die Zeit. In einem Dorf schoss ein Panzer auf einen Radfahrer. Auch dies wurde von oben her betrachtet, aus geringerer Höhe. Der Radfahrer hörte vollständig auf zu existieren in Bruchteilen einer Sekunde. — stop
einmal an einem mittwoch
india : 22.58 UTC — Es war Mittwoch gewesen. Abend. Es regnete, Regen auch während ich schlief. Ich konnte ihn hören von Zeit zu Zeit, wenn ich auftauchte, ohne ganz wach zu werden. Von irgendwoher ein Geräusch, pling, pling, und Isaac B. Singers helle und zugleich raue Stimme, indem sie eine Geschichte erzählt, die ich in den vergangenen Tagen wieder und wieder hörte. Die Geschichte geht so: „Kurz nach meiner Ankunft (in Amerika) betrat ich zum ersten Mal eine Cafeteria, ohne zu wissen, was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich dann, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen.“ — Das Radio erzählt, Männer, die stundenlang mittels zweier Panzermaschinen sowie fünf schulter-gestützter Fernwaffen ein achtstöckiges Wohnhaus der Stadt Mariupol beschossen haben sollen, würden in der Stille nach dem mörderischen Angriff gerufen haben: Allahu Akbar. Und noch einmal: Allahu Akbar. Gott ist groß. — stop
schneefliegen
nordpol : 1.15 UTC — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden seien, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren, ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann, mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird nun ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Wärmung menschlicher Existenz. — Das Radio erzählt von der Meeresbeobachtung eines Mannes im März des vergangenen Jahres. Er habe, sagt der Mann, mit eigenen Augen gesehen, wie Raketen ähnliche Flugkörper dicht über die Oberfläche des Wassers hin in Richtung der Stadt Mariupol geflogen seien. — stop
perlboot no 2
echo : 0.02 UTC — Auf der Suche nach Behälterkonstruktionen, in welchen Perlboote der Gattung Nautilus durch eine große Stadt transportiert werden könnten, ohne Schaden zu nehmen, einmal vor Jahren auf eine Website gestoßen, die unter dem Namen Louis Benett folgende Zeichenfolge vermerkt: member since monday, 30 january 2012 20.00 / last online > never logged in / profile views : 7324 – stop. Seltsame Geschichte. Die Spur eines überaus vorsichtigen Verhaltens vielleicht, weiterhin Zögern. – Mitternacht. — Das Radio erzählt, im März des vergangenen Jahres sei eine laut sprechende Frau höheren Alters aus dem 8. Stock eines Hauses in Meeresnähe gesprungen. — stop
von den vasentieren
india : 3.15 UTC — Tagelang hatte ich überlegt, ob es sinnvoll wäre, über die Existenz der Vasentiere weiter nachzudenken. In diesem Diskurs mit mir selbst, hatten meine Vorstellungen über das Wesen und die Gestalt der Vasentiere, indessen weiter an Präzision zugenommen, ohne dass ich das zunächst bemerkte. Einmal wartete ich an einer Ampel unter einer Kastanie. Es war früher Abend gewesen und ich nutzte diese Situation des Innehaltens, um mir vorzustellen, wie es sein könnte, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigentlich nicht notwendig gewesen war, Vasentiere dürfen atmen, Vasentiere müssen atmen, und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, eine innere feste Struktur auszubilden, sagen wir, eben eine Art Behälter zu sein. Das ist gut gelungen, auch nachdem ich von einer Kastanie auf den Kopf getroffen worden war, bewegte ich mich nicht. In diesem Moment wurde stattdessen deutlich, dass Vasentiere niemals flüchten, weil sie nicht flüchten wollen und weil sie nicht flüchten können, ihnen fehlen Füße und Beine. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer organischen Konstruktion her begabt, Formen nachzuahmen, die geeignet sind, tiefere Gewässer in sich auszubilden, das ist nicht verhandelbar. Auch nicht, dass sie das Wasser zur Versorgung der Pflanzen, welchen sie Herberge bieten, aus der Luft entnehmen, sei sie noch so trocken. Möglich ist, dass Vasentiere, die in der Lage sind, mittels ihrer Gedanken Bewegung zu formulieren, eher unglückliche Wesen sein werden, daran sollte man unbedingt denken, ehe man sich an die Verwirklichung der Vasentiere machen wird. — Das Radio erzählt, hungrige Menschen hätten im März wilden Tauben nachgestellt, auch im April sei man unter Lebensgefahr auf Taubenjagd gegangen. — stop
bristolhotel
alpha : 2.26 UTC — Folgende Person, ein Mann, könnte reine Erfindung sein. Der Mann war mir während eines Spazierganges aufgefallen, das heißt, ich hatte einen Einfall oder eine Idee, oder ich machte vielleicht eine Entdeckung. Ich könnte von dieser Person, die sich nicht wehren kann, behaupten, dass sie nicht ganz bei Verstand sein wird, weil sie seit langer Zeit in einem Hotelzimmer lebt, welches sie niemals verlässt. Das Hotel, in dem sich dieses Zimmer befindet, erreicht man vom Flughafen der norwegischen Stadt Bergen aus in 25 Minuten, sofern man sich ein Taxi leisten kann. Es ist das Bristol, unweit des Nationaltheaters gelegen, dort, im dritten Stock, ein kleines Zimmer, der Boden hell, sodass man meinen möchte, man spazierte auf Walknochen herum. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigentlich erzählen will. Es handelt sich um einen wohlhabenden Mann im Alter von fünfzig Jahren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haare auf dem Kopf, wiegt 73 Kilogramm, und trägt eine Brille. Sieben weiße Hemden gehören zu ihm, Strümpfe, Unterwäsche, dunkelbraune Schuhe mit weichen Sohlen, ein hellgrauer Anzug und ein Koffer, der unter dem Bett verwahrt wird. Auf einem Tisch nahe einem Fenster, zwei Handcomputer. In den Anschluss des einen Computers wurde ein USB-Speichermedium eingeführt. Auf dem Bildschirm sind Verzeichnisse und Dateinamen zu erkennen, die sich auf jenem Speichermedium befinden. Auf dem Bildschirm des zweiten Computers ein ähnliches Bild, Verzeichnisse, Dateinamen, Zeitangaben, Größenordnungen. Was wir sehen, sind Computer des Mannes, der Mann arbeitet in Bergen im Bristol im Zimmer auf dem Knochenboden. Er sitzt vor den Bildschirmen und öffnet Dateien, um sie zu vergleichen, Texte im Blocksatz. Zeile um Zeile wandert der Mann mithilfe einer Bleistiftspitze durch das Gebiet der Worte, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache notiert wurden, die mir unbekannt. Es scheint eine verschlüsselte Sprache zu sein, weshalb der Mann dazu gezwungen ist, jedes Zeichen für sich zu überprüfen. Fünf Stunden Arbeit am Vormittag, fünf Stunden Arbeit am Nachmittag, und weitere fünf Stunden am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafelwasser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, Seeteufel, Steinbutt. 277275 Dateien sind zu überprüfen, 12.532.365 Seiten. Er scheint nicht sehr weit gekommen zu sein. Die Vorhänge der Fenster sind zugezogen, es ist ohnehin gerade eine Zeit ohne Licht. Ein Mädchen, das ihm manchmal seinen Fisch serviert, macht ihm schöne Augen. Morgens sind die Hörner der Schiffe zu vernehmen, die den Hafen der Stadt verlassen. Das war am 1. Dezember 2013 gewesen. — Im Radio wird von einer Frau erzählt, die seit dem 28. Februar dieses Jahres täglich von Lissabon aus mehrfach vergeblich versucht ihre Eltern in Mariupol zu erreichen. Kein Laut. Kein Zeichen. Aber Stille, Tag für Tag. Stunde um Stunde. Minute für Minute. — stop
capote No 2
echo : 1.22 — Einmal, vor etwa 10 Jahren gegen sechs Uhr am Abend, rief ich bei Lions Writers Support Services an. Guten Tag, sagte ich, ich benötige dringend einen Capote zum Spazieren am kommenden Samstag. Haben Sie vielleicht einen für mich frei, den Sie mir leihen könnten von 3 Uhr am Nachmittag bis in die Nacht irgendwann? Das Fräulein am anderen Ende der Leitung antwortete: Einen Capote? Bitte warten Sie einen Moment. Also wartete ich. Ich wartete ungefähr fünf Minuten, hörte, wie sie mit Leuten diskutierte. Ich glaube, sie bedeckte, während sie sprach, mit einer Hand die Mikrofonmuschel ihres Telefonhörers zu. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück: Ja, sagte sie, wir haben einen Capote frei am kommenden Samstag. Wo wollen sie ihn treffen? Ich antwortete, dass ich unbedingt am Strand von Coney Island spazieren müsse, Treibgut sammeln, Sturmzeichen notieren, das Meer betrachten, mit Truman über das Wasser sprechen, über digitale Schreibmaschinen, Funkbücher und alle diese Dinge. Treffpunkt also Brighton Beach Avenue Ecke 3th Street! Wird gemacht, bestätigte das Fräulein, Sie wissen schon, Capotes sind nicht ganz billig? Oh, ja, sagte ich, das will ich gerne glauben. Wie viel, fragte ich, was habe ich zu erwarten? — 150 Dollar die Stunde, antwortete das Fräulein. Sie machte eine kurze Pause, um bald hinzuzusetzen, dass sie etwas weniger berechnen würde, weil jener Capote, der für mich reserviert war, bereits für eine Freitagsparty gebucht worden sei. Er wird nicht ganz frisch am Samstag vor Ihnen erscheinen, sagen wir 120 Dollar, wäre das in Ordnung? — Aber natürlich wäre das in Ordnung, ich jubilierte, ein verkaterter Capote, eventuell leicht betrunken, wundervoll! Ich quittierte 1200 Dollar für zehn Stunden und notierte: Spaziergespräch mit Truman Capote. Samstag, 18. Mai, 15 Uhr. Das war also vor bald 10 Jahren gewesen. Minuten später wurde mir per Kurier eine Gebrauchsanweisung für Herrn Truman Capote übermittelt. Ein Handbuch. 15 Seiten. — In einem Hauseingang auf einer Bank in der Nähe des Hafens der Stadt Mariupol soll eine alte Frau drei Wochen lang gewartet haben. Sie war von einem Splitter in den Bauch getroffen worden und starb vermutlich langsam in einer Nacht des frühen März. — stop
krimlinie
nordpol : 15.12 UTC — In den vergangenen Tagen lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Asowregiment . aufpilzen . Bajonettmesser . Bellingcat . Berdyansk . Beschüsse . Clonodin . Doscht . Drohnenvogelschwarm . Elefantenmodellbauer . Evakuierungsgebiet . Evakuierungszonen . Ferghana . Funkmessfühler . Funkkommunikationsmodule . Gefechtsfeldbeleuchtung . Gefiederkarten . Halabuda . Hostomel. Krimlinie . Kirsjusha . Loznitsa . Lwiw . Marineinfanteriebrigade . Marineinfanterieeinheiten . Marineinfanterietruppen . Mariupolis . Mariupolstories . Maschinengewehrgeschosse . Maschinengewehrschüsse . Melitopol . Mobilfunkturm . Notfallkoordination . Panzerglaschiffe . prorussisch . Peskow . Putin-Versteher . Quinoa . Rachmaninow . Radarlesegerät . Radikalisierungsmaschinen. — stop
radiotauben
sierra : 22.08 UTC — Einmal, am späten Abend, folgte ich einem Hyperlink, der von meiner Particlesmaschine automatisch erzeugt worden war nach Regeln, die ich nicht präzise beschreiben könnte. In dieser Weise arbeitend, begegnete ich einem Text, der von einem Radio erzählte. Es ist seltsam, ich konnte mich zunächst nicht erinnern, diesen Text selbst geschrieben zu haben. Ich las ihn und dachte: Diesen Text musst Du erfunden haben, rein erfundene Texte lassen sich nicht so leicht erinnern, wie Texte, die von einer erlebten Geschichte berichten. Nun also, in dem ich meinen Text, den ich im April des vergangenen Jahres notierte, lese, schreibe ich ihn zum zweiten Male, er wird mir vermutlich ein weiteres Jahr später, noch in Erinnerung sein, wie der Abend, an dem ich ihn wiederholte, also erlebte, weil ich ihn in mein Leben versetzte: Ich stellte mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen einerseits und an welchen ich drehen kann andererseits. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich kann das Radio öffnen. Als ich es öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik spielt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — Heute Abend erzählt das Radio, ukrainische Kinder seien von russischen Behörden aus der Stadt Mariupol entführt worden. Man, ich meine, eine Sprecherin der russischen Behörde, sagte im Radio, die Kinder, die freiwillig in Busse eingestiegen seien, sollten sich nur erholen. Die junge Frau sagte weiterhin, die Kinder würden sehr schreckliche Dinge erlebt haben, weil ukrainische Truppen ihre Heimatstadt verwüstet haben sollen. Das sagte die Frau. — stop