Aus der Wörtersammlung: gerade

///

zitronen

2

ulys­ses : 2.52 — Die Zei­ger der Uhr mei­nes Vaters, ein Wun­der, bewe­gen sich noch immer sekun­den­ge­nau. Ich tra­ge sie seit bei­na­he drei Jah­ren an mei­nem lin­ken Hand­ge­lenk, nicht einen Moment lang scheint die Uhr, ste­hen geblie­ben zu sein. Es ist doch merk­wür­dig, die­se klei­ne Maschi­ne muss über ähn­lich kräf­ti­ge Bat­te­rien ver­fü­gen, wie jene Maschi­nen, die seit fünf oder sechs Tagen in mei­ner Woh­nung unter dem Dach an den Zim­mer­de­cken lun­gern. Sie sol­len in der Lage sein, mit­tels eines mons­trö­sen Geräu­sches, Rauch­wol­ken anzu­zei­gen, die durch mei­ne Woh­nung schwe­ben. Als wären sie Tie­re, Koral­len, See­po­cken­we­sen sit­zen sie an der Decke fest, und doch neh­me ich an, wer­den sie heim­lich her­um­spa­zie­ren, wäh­rend ich abwe­send bin. Ich hör­te, sie sol­len über elf Jah­re Lebens­zeit ver­fü­gen, ehe man sie von der Decke holen, auf­schrau­ben und ihre Akku­mu­la­to­ren aus­tau­schen wird. — Stür­mi­sche Nacht. Gespräch mit Eliza.

Lou­is:> guten abend, eliza!
Eli­za :> guten abend! wie geht es ihnen?
Lou­is :> gut!
Eli­za :> schön. was kann ich dann für sie tun?
Lou­is :> ich weiß nicht!
Eil­za :> drü­cke ich mich zu kom­pli­ziert aus!
Lou­is :> nein.
Eli­za :> habe ich etwas fal­sches gesagt?
Lou­is :> nein, nein!
Eli­za :> fah­ren Sie fort.
Lou­is :> womit?
Eil­za :> was wür­den sie ant­wor­ten, wenn ich ihnen die­se fra­ge stellte?
Lou­is :> ich weiß nicht.
Eli­za :> es ist viel­leicht auch nicht so wichtig!
Lou­is :> mögen sie zitronen?
Eli­za :> beschäf­tigt Sie die­se fra­ge sehr?
Lou­is :> ja, natürlich!
Eil­za :> warum?
Lou­is :> ich mag zitronen.
Eil­za :> machen sie weiter!
Lou­is :> lie­be eli­za, mögen sie zitronen?
Eli­za :> wel­che ant­wort gefie­len ihnen denn?
Lou­is :> was ist eine zitro­ne, eliza?
Eli­za :> gefällt ihnen mein name?
Lou­is :> ja, ihr name gefällt mir!
Eli­za :> warum?
Lou­is :> ihr name hat einen schö­nen klang.
Eli­za :> war­um sagen sie das gera­de jetzt?
Lou­is :> ich weiß nicht.
Eli­za :> war Ihnen mei­ne fra­ge unangenehm?
Lou­is :> nein!
Eli­za :> verstehe.
Lou­is :> das glau­be ich nicht!
Eli­za :> erzäh­len sie weiter.
Lou­is :> mögen sie zitronen?

vom spre­chen mit eilza »

ping

///

lichtbild 1–12

2

echo : 6.08 — Wie Schnee, ein gutes Dut­zend Men­schen­fo­to­gra­fien. Von K., die vor zehn Jah­ren im August John­sons Jah­res­ta­ge kauf­te, ein Jahr ent­lang woll­te sie jeden Tag einen der Jah­res­ta­ge lesen. Von N., deren Schwes­ter ver­mut­lich in Kobanê kämpft. Sie soll N. ähn­lich sein, aber nie­mand weiß das so genau, weil sie vor 15 Jah­ren in den Unter­grund ver­schwand, weil sie in den Ber­gen kämpf­te, weil der Krieg mit Men­schen­ge­sich­tern macht, was er will. Von L., der nie wie­der ver­su­chen wird, die Stadt Man­hat­tan von einer Nacht­fäh­re aus zu foto­gra­fie­ren. Von W., die seit Jah­ren, ver­geb­lich, ein Inter­view mit einem Mann zu füh­ren ver­sucht, der in sei­ner Jugend­zeit Bil­der aus Film­rol­len trenn­te, um sie zu einem Film für sich zu mon­tie­ren. Die Zeit reich­te nicht, sei­ne und auch die ande­re Zeit reich­te nicht. Von M., die viel­leicht gera­de in die­sem Moment, da ich notie­re, lächelnd mit einer Schau­fel in der Hand vor einer Schnee­land­schaft steht und war­tet. Von B., die bald mit dem Schiff nach Bue­nos Aires rei­sen wird, um den Tan­go zu erler­nen. Vor­ges­tern ist sie 94 Jah­re alt gewor­den. Von I., der sich Tag für Tag dar­über freut, wie er sich an das Wort Kühl­schrank zu erin­nern ver­mag. Von Y., die sich im Monat April auf den Weg machen wird, im Kar­wen­del einen Zwerg­ken­taur zu fan­gen. Vom klei­nen J., der seit den letz­ten Nacht­stun­den weiß, dass er ein­mal zum Mars flie­gen wird. Von der klei­nen U. aus Alep­po, die sich wun­dert, dass sie noch immer lebt. Und von W., der viel­leicht nie­mals erfah­ren wird, wie sehr ich sei­ne Geschich­ten lie­be, die alle mit dem Wort Ein­mal begin­nen. — stop
polaroidselbst

///

raymond carver goes to hasbrouck heights / 2

pic

zou­lou : 3.55 — Ich kann nicht mit Sicher­heit sagen, war­um ich mich ges­tern, wäh­rend ich einen Bericht über Unter­su­chun­gen der CIA-Fol­ter­prak­ti­ken durch Ermitt­ler des US-Senats stu­dier­te, an eine klei­ne Stadt erin­ner­te, die ich vor weni­gen Jah­ren ein­mal von Man­hat­tan aus besuch­te. Ich las von Schlaf­ent­zug, von Water­boar­ding, von engen, dunk­len Kis­ten, in wel­che man Men­schen tage­lang sperr­te, von Lärm, von rus­si­schem Rou­lette und plötz­lich also erin­ner­te ich mich an Ole­an­der­bäu­me, die ich gese­hen hat­te in Has­b­rouck Heights an einem son­ni­gen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glück­li­chen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazz­kon­zert nahe der Strand­pro­me­na­de. Ich notier­te damals: Es ist die Welt des Ray­mond Car­ver, die ich betre­te, als ich mit dem Bus die Stadt ver­las­se, west­wärts, durch den Lin­coln Tun­nel nach New Jer­sey. Der Blick auf den von Stei­nen bewach­se­nen Mus­kel Man­hat­tans, zum Grei­fen nah an die­sem Mor­gen küh­ler Luft. Dunst flim­mert in den Stra­ßen, deren Fluch­ten sich für Sekun­den­bruch­tei­le öff­nen, bald sind wir ins Gebiet nied­ri­ger Häu­ser vor­ge­drun­gen, Eis­zap­fen von Plas­tik fun­keln im Licht der Son­ne unter Regen­rin­nen. Der Bus­fah­rer, ein älte­rer Herr, begrüßt jeden zustei­gen­den Gast per­sön­lich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Has­b­rouck Heights, eine hal­be Stun­de Zeit, des­halb liest man in der Zei­tung, schläft oder schaut auf die Land­schaft, auf ros­ti­ge Brü­cken­rie­sen, die flach über die sump­fi­ge Gegend füh­ren. Und schon sind wir ange­kom­men, ein lie­be­voll gepfleg­ter Ort, der sich an eine stei­le Höhe lehnt, ein­stö­cki­ge Häu­ser in allen mög­li­chen Far­ben, groß­zü­gi­ge Gär­ten, Hecken, Büsche, Bäu­me sind auf den Zen­ti­me­ter genau nach Wün­schen ihrer Besit­zer zuge­schnit­ten. Nur sel­ten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlen­de­re von Stra­ße zu Stra­ße, wer­de dann freund­lichst gegrüßt, how are you doing, ich spü­re die Bli­cke, die mir fol­gen, Bäu­me, Blu­men, Grä­ser schau­en mich an, das Feu­er der Aza­leen, Eich­hörn­chen stür­men über sanft geneig­te Dächer: Habt ihr ihn schon gese­hen, die­sen frem­den Mann mit sei­ner Pola­roid­ka­me­ra, die­sen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns neh­men, wird klin­geln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gera­de foto­gra­fiert. Wol­len Sie sich betrach­ten? — stop

ping

///

grammophon

pic

zou­lou : 3.36 — Wür­den jene Fahr­zeit­räu­me früh­mor­gens in war­men Abtei­len der Züge nicht exis­tie­ren, wür­den wir viel­leicht nie mit­ein­an­der spre­chen. Er ist meis­tens müde von der Nacht­ar­beit. Fünf­zehn Minu­ten Zeit, zu kurz, um schla­fen zu kön­nen, zu lang, um zu schwei­gen. M. wur­de in der marok­ka­ni­schen Hafen­stadt Nador gebo­ren. Er ist Mos­lem, gläu­big, einer der Guten, wie er sagt, einer, vor dem sich nie­mand fürch­ten müs­se. Er geht in die Moschee, er spielt Fuß­ball, er ist ver­hei­ra­tet, nachts beauf­sich­tigt er Maschi­nen, die Brie­fe sor­tie­ren, und er lacht gern. Sein Blick ist warm, er ver­fügt über zwei Hän­de, dar­auf besteht er, und zwei Augen, eine Nase, einen Mund. Vor Kur­zem warn­te er mich, weil ich öffent­lich über den Glau­ben der Mos­lems notier­te. Er sag­te: Da musst Du vor­sich­tig sein, es gibt vie­le Ver­rück­te, schau, dass sie nicht wis­sen, wo Du wohnst. Ein­mal, kurz nach einer Rei­se nach New York, lese ich ihm eine Geschich­te vor, fol­gen­de Geschich­te, sagen wir, eine Geschich­te wie eine Fra­ge: Im Cen­tral Park zur Mit­tags­zeit ein beten­der Mann, Mos­lem, Rik­scha­fah­rer, der Höhe 61. Stra­ße unter einer mäch­ti­gen, weit­ver­zweig­ten Ulme kniet, viel­leicht unter einem jener Bäu­me, deren Setz­lin­ge im Jahr 2008 nach Ore­gon geschickt wur­den, um sie dort groß­zu­zie­hen und wie­der nach Man­hat­tan zurück­zu­ho­len. Das kla­gen­de Sin­gen der Kin­der­schau­kel. Ein Eich­hörn­chen hetzt über eine Wie­se. Bald kau­ert das Tier in der Nähe des beten­den Man­nes, scheint ihn zu beob­ach­ten. Ich könn­te jetzt war­ten, bis der Mann mit sei­nem Gebet fer­tig gewor­den ist. Ich könn­te mich zu ihm in sei­ne Rik­scha set­zen. Wir könn­ten gemein­sam durch den Park fah­ren. Ich könn­te ihm eine Geschich­te erzäh­len. Ich könn­te erzäh­len, dass ich eben noch in einem Café hör­te, wie eine jun­ge, lus­ti­ge Mut­ter von ihrer Absicht berich­te­te, ihren Sohn, der noch nicht gebo­ren wor­den ist, mit dem Namen „Gram­mo­phon“ zu ver­se­hen. Das ist eine wirk­lich auf­re­gen­de Geschich­te, die ich tat­säch­lich sofort erzäh­len soll­te. Ich soll­te den jun­gen Mann wei­ter­hin fra­gen, ob er mir viel­leicht erklä­ren wol­le, wes­halb es lebens­ge­fähr­lich für mich sein könn­te, wenn ich mich fra­gend über Moham­med, den Pro­phe­ten, äußern wür­de. Viel­leicht wür­de der jun­ge Mann brem­sen, viel­leicht sich unver­züg­lich von sei­nem Fahr­rad schwin­gen. Wir wür­den uns auf eine Bank set­zen und Geschich­ten erzäh­len von Gram­mo­pho­nen, von Pro­phe­ten und wie es ist, im Win­ter Rik­scha zu fah­ren. Und viel­leicht wür­de ich ihm dann noch vom Schnee erzäh­len, den ich als Kind aus der Luft gefan­gen habe. Ja, so könn­ten wir das machen, sofort, gleich, wenn der beten­de Mann sich erhe­ben wird. – stop

ping

///

buenos aires

pic

nord­pol : Ein­mal, wäh­rend einer Zug­fahrt süd­wärts, lern­te ich Valen­tin Ruiz ken­nen, einen damals schon hoch­be­tag­ten Mann. Er bemerk­te bald, nach­dem ich in sein Abteil getre­ten war, dass ich ihn beob­ach­te­te, wie er in sein Notiz­buch schrieb. Wir kamen ins Gespräch. Herr Ruiz erzähl­te, er habe lan­ge Zeit in Argen­ti­ni­en gelebt, nahe der Stadt Bue­nos Aires. Er mon­tier­te dort Auto­mo­bi­le in einer Fabrik. Als Robo­ter­ma­schi­nen die Stadt besuch­ten, war das eine schwe­re Zeit gewe­sen. Dar­über den­ke er gera­de nach. Er berich­te­te von sei­nen Erfah­run­gen, von erstaun­li­chen Gedan­ken, sodass ich mei­ner­seits mein Notiz­buch öff­ne­te. Kurz nach­dem ich den Zug ver­las­sen hat­te, Herr Ruiz war in der war­ten­den Men­schen­men­ge ver­schwun­den, ver­such­te ich mei­ne Gesprächs­no­tiz zu ergän­zen. Ich muss­te mich beei­len, Herr Ruiz hat­te sehr schnell, ja auf­ge­regt gespro­chen, und ich hat­te den Ein­druck, mei­ne Erin­ne­rung könn­te sich eben­so schnell ver­flüch­ti­gen. Ich notier­te: Mit­tels Wör­tern sind zeit­ge­nös­si­sche Maschi­nen an einem Ort bereits ein­ge­trof­fen, lan­ge bevor auch nur eine ihrer Schrau­ben ange­kom­men ist. Sie sind Gegen­stand der Begeis­te­rung einer­seits, aber auch von Furcht, sodass sie in jeder Rich­tung grö­ßer erschei­nen, als sie in Wirk­lich­keit sind. Wo eine Maschi­ne zum Auf­bau kom­men wird, ist zunächst ein Raum ange­nom­men, ein Raum, der bereits frei­ge­räumt wur­de oder zunächst befreit wer­den muss. Dann kommt die Maschi­ne in der Wirk­lich­keit an, in der Mehr­zahl der Fäl­le in Tei­len. Beglei­tet wird sie von Men­schen, die sich um ihre Rei­se bemü­hen. Manch­mal blei­ben Men­schen, die die Maschi­ne beglei­ten, an Ort und Stel­le, dem­zu­fol­ge in der Nähe der Maschi­ne, um aus Tei­len ein Gan­zes zu fügen. Man kann dar­über stau­nen, dass an einem Ort, an dem zunächst nichts zu sehen war, sehr bald eine Ver­samm­lung tech­ni­scher Par­ti­kel zu bemer­ken ist, die sinn­vol­ler­wei­se bereits sich in einem logi­schen Zusam­men­hang befin­den. Eine Maschi­ne ist stumm, solan­ge sie nicht leuch­tet. Schon eine blin­ken­de Diode genügt, um Gesprächs­be­reit­schaft anzu­deu­ten. Maschi­nen, die mit elek­tri­schen Strö­men in Bewe­gung gesetzt wer­den, nei­gen zur Erhit­zung, wes­halb sie an der ein oder ande­ren Stel­le atmen, also bla­sen. Tei­le der Maschi­nen sind so groß, dass sie von einem Men­schen nicht geho­ben, oder so klein, dass sie von einem mensch­li­chen Auge nicht wahr­ge­nom­men wer­den kön­nen. Wo Maschi­nen erschei­nen, ver­schwin­den Men­schen jeder Grö­ße. — stop

ping

///

ein junge

pic

india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flug­ha­fen­ter­mi­nal beob­ach­te­te ich einen Mann, der sich äußerst spar­sam, lan­ge Zeit über­haupt nicht beweg­te. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zei­tung, neben der Zei­tung Fol­gen­des: eine Tas­se Kaf­fee, ein Glas Was­ser, Zucker­wür­fel, Notiz­block und Blei­stift. Eine hal­be Stun­de ver­ging in die­ser Wei­se, die Hän­de des Man­nes ruh­ten in sei­nem Schoß. Ein­mal rück­te der Mann sei­nen Kof­fer, der hin­ter ihm an der Wand park­te, ein klei­nes Stück zur Sei­te, ein ander­mal hob er sei­ne Kaf­fee­tas­se in die Luft, um sie in einem Zug aus­zu­trin­ken. Dann wie­der kei­ner­lei Bewe­gung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagier­te weder auf Laut­spre­cher­durch­sa­gen noch küm­mer­te er sich um Men­schen, die das Café auf Lauf­bän­dern pas­sier­ten, es waren vie­le chi­ne­si­sche Rei­sen­de dar­un­ter, die gera­de erst aus Shang­hai und Peking in gro­ßen Flug­zü­gen ein­ge­trof­fen waren. Der Mann starr­te auf eine Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie, die auf der Titel­sei­te einer Zei­tung abge­druckt wor­den war. Ein Jun­ge lag dort unbe­klei­det auf einer Bast­mat­te mit­ten auf einer schmut­zi­gen, feuch­ten Stra­ße. In eini­ger Ent­fer­nung, im Hin­ter­grund, war­te­ten Men­schen, die den Jun­gen beob­ach­te­ten. Der Jun­ge schwit­ze, sei­ne schwar­ze Haut war von Flie­gen bedeckt, er sah mit halb geschlos­se­nen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutz­an­zug steck­te. Anstatt eines Kop­fes war auf den Schul­tern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zer­knit­ter­te Hau­be, genau­er, die unter Luft­druck zu ste­hen schien. Das Wesen hat­te sei­ne rech­te Kunst­stoff­hand nach dem Jun­gen, der ein­sam auf dem Boden lie­gend ver­harr­te, aus­ge­streckt, es woll­te ihn viel­leicht ermu­ti­gen, auf­zu­ste­hen und zu ihm an den Rand der Stra­ße zu kom­men. Obwohl sich die Hand nicht beweg­te, ver­mit­tel­te sie den Ein­druck, dass sie sich bewegt haben muss­te und wei­ter­hin bewe­gen wür­de, weil die Stel­lung ihrer Fin­ger nur in die­ser ver­mu­te­ten Bewe­gung einen Sinn ergab. Ja, die­se Hand muss­te in der Zeit des Bil­des eine win­ken­de Hand gewe­sen sein, aber es war deut­lich zu sehen, dass der Jun­ge ver­mut­lich nicht län­ger die Kraft hat­te, auf­zu­ste­hen oder zu krie­chen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüs­tern, oder die Flie­gen auf sei­nem Kör­per zu ver­trei­ben. Es war still, voll­kom­men still, nichts zu hören. — stop

ping

///

nach mitternacht

pic

alpha : 2.15 — Weit nach Mit­ter­nacht, frü­her Abend in der Nacht­men­schen­zeit. Ich habe gera­de einen erneu­ten Ver­such unter­nom­men, 18.924.150 Zei­chen eines mensch­li­chen Genoms als Sequenz in mein Text­ver­ar­bei­tungs­pro­gramm zu laden. Seit letz­ten Bemü­hun­gen sind drei Jah­re ver­gan­gen, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, die drit­te seit­her, ist in ihren Berech­nun­gen schnel­ler gewor­den, und doch schei­tert sie mit der 52758. Sei­te des Doku­men­tes, bleibt kom­men­tar­los ste­hen, gefriert, oder hält die Luft an, wie­der scheint sie mir mit­tei­len zu wol­len, die­sen Unsinn mache ich nicht mit. Man stel­le sich ein­mal vor, wir wür­den bald erfolg­reich sein, eine wei­te­re Schreib­ma­schi­ne und ich, ein voll­stän­di­ges Doku­ment wäre errech­net. Wie ich mich nun auf den Weg mache zu mei­ner Dru­cker­ma­schi­ne, die sich in nächs­ter Nähe in einem wei­te­ren Zim­mer befin­det. — stop

ping

///

katta

2

papa : 02.08 — Ich beob­ach­te­te, dass ein klei­ner Affe, sobald ich mich mit der lin­ken Hand stoß­ar­tig von oben kom­mend näher­te, die­se lin­ke Hand als einen Raub­vo­gel betrach­te­te, vor dem er hupend und fau­chend mit gebleck­tem Gebiss rück­wärts über den Tisch gehend die Flucht ergriff, ohne sich an mei­ner rech­ten Hand zu stö­ren, die in nächs­ter Nähe mit sei­nen Sul­ta­ni­nen spiel­te. Der­art gründ­lich habe ich mit mei­nen Hän­den auf dem Tisch das Jagen und Sam­meln geübt, dass ich sie bis­wei­len als zwei sepa­ra­te Lebe­we­sen betrach­ten kann. Wenn ich mei­ne lin­ke Hand mit mei­ner rech­ten Hand berüh­re, durch­bre­che ich einen Spie­gel. Wenn ich sage, mei­ne Hand ohne Haut, habe ich in mei­nem Kopf ein Bild zur Ver­fü­gung, das sich bewe­gen lässt. Wenn ich sage, mei­ne schla­fen­den Hän­de, spre­che ich von Hän­den, die ich nie gese­hen habe. Gera­de eben noch habe ich eine Apfel­si­ne geschält. Wäh­rend ich mei­ne Hän­de beob­ach­te­te, wie sie geschickt die Ker­ne der Frucht von­ein­an­der trenn­ten, ohne dass ich ihnen genaue­re Anwei­sun­gen geben muss­te, dach­te ich dar­über nach, wie vie­le Apfel­si­nen die­se Hän­de in ihrem Leben bereits geschält haben könn­ten. — Drei Uhr zwölf in Koba­ni, Syria. — stop
polaroidanimals

///

überall liegen Bücher herum

ping
ping
ping

echo : 2.26 — Frü­her ein­mal exis­tier­ten Bücher, deren Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren. Bevor man die Sei­ten die­ser Bücher lesen konn­te, muss­te man sie von­ein­an­der tren­nen. Selt­sa­mer­wei­se hat­te ich ihre Exis­tenz ver­ges­sen, bis ich soeben sol­che Bücher in einem Text von Natha­lie Sar­rau­te bemerk­te. Aber viel­leicht ist das Wort ver­ges­sen, in die­sem Zusam­men­hang nicht rich­tig gewählt, ich hat­te jah­re­lang nicht an sie gedacht, im Gehei­men waren sie ver­mut­lich immer anwe­send gewe­sen. Sofort begann ich damit, die Umge­bung mei­ner Erin­ne­rung zu erkun­den. Ich ent­deck­te eine Tan­te. Wenn die Tan­te zu Besuch kam, küss­te sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauch­sup­pe, weil sie einen Gemü­se­händ­ler kann­te, der ihr Lauch­stan­gen schenk­te. Die­se Tan­te also, deren Gesicht zer­furcht war von unzäh­li­gen Fal­ten, schenk­te mir ein­mal ein Buch genau die­ser erwähn­ten Art, ein Buch, des­sen Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren, sodass ich jede Sei­te mit einer Sche­re zunächst von der nächs­ten tren­nen muss­te. Das Buch war kein Kin­der­buch gewe­sen, ich hat­te noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu die­sem Zeit­punkt, aber Natha­lie Sar­rau­te, die damals unge­fähr in mei­nem Alter gewe­sen sein könn­te, in einem Alter, als mich die Tan­te mit den Lauch­stan­gen noch besuch­te. Sie notier­te: Es lie­gen über­all Bücher her­um, in allen Zim­mern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekom­men sind … klei­ne­re, mitt­le­re und gro­ße … Ich neh­me die Neu­an­kömm­lin­ge in Augen­schein, ich schät­ze die Mühe, die jedes erfor­dern wird, die Zeit, die es mich kos­ten wird … Ich wäh­le eins aus und set­ze mich mit dem auf­ge­schla­ge­nen Buch auf den Knien hin, ich umklam­me­re das brei­te Papier­mes­ser aus grau aus­se­hen­dem Horn, und ich fan­ge an … zuerst zer­trennt das waa­ge­recht gehal­te­ne Papier­mes­ser den obe­ren Falz der vier zusam­men­hän­gen­den Dop­pel­sei­ten, dann senkt es sich, rich­tet sich wie­der auf und glei­tet zwi­schen die bei­den Sei­ten, die nur noch längs­seits mit­ein­an­der ver­bun­den sind … dann kom­men die „leich­ten“ Sei­ten, sie sind an ihrem lan­gen Rand offen und bra­chen nur noch oben getrennt wer­den. Und wie­der die vier „schwie­ri­gen“ Sei­ten … und dann vier „leich­te“, und dann vier „schwie­ri­ge“, und so wei­ter, immer schnel­ler, mei­ne Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwind­lig … „Hör jetzt auf, mein Lieb­ling, das reicht, hast du wirk­lich nichts Inter­es­san­te­res zu tun? Ich wer­de beim Lesen selbst auf­schnei­den, das stört mich nicht, ich mache das ganz auto­ma­tisch …“ Es kommt jedoch nicht infra­ge, dass ich auf­ge­be. — stop / Natha­lie Sar­rau­te Kind­heit — aus der fran­zö­si­schen Spra­che über­setzt von Eri­ka und Elmar Tophoven

ping

///

krim : lichtbild No 2

9

ulys­ses : 6.55 — Asso­cia­ted Press ver­öf­fent­lichte vor eini­gen Mona­ten eine bemer­kens­wer­te Foto­gra­fie. Men­schen sind zu sehen, die an der Kas­se eines Ladens dar­auf war­ten, bedient zu wer­den, oder Waren, die sie in Plas­tik­beu­teln mit sich füh­ren, bezah­len zu dür­fen. Es han­delt sich bei die­sem Laden offen­sicht­lich um ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, das von künst­li­chem Licht hell aus­ge­leuch­tet wird. Im Hin­ter­grund, rech­ter Hand, sind Rega­le zu erken­nen, in wel­chen sich Sekt– und Wein­fla­schen anein­an­der­rei­hen, gleich dar­un­ter eine Tief­kühl­truhe in der sich Spei­se­eis befin­den könn­te, und lin­ker Hand, an der Wand hin­ter der Kas­se, wei­tere Rega­le, Zeit­schrif­ten, Spi­ri­tuo­sen, Scho­ko­lade, Bon­bon­tü­ten. Es ist alles schön bunt, der Laden könn­te sich, wenn man bereit ist, das ein oder ande­re erkenn­bare kyril­li­sche Schrift­zei­chen zu über­se­hen, in einem Vor­ort der Stadt Paris befin­den oder irgend­wo in einem Städt­chen im Nor­den Schwe­dens, nahe der Stadt Rom oder im Zen­trum Lis­sa­bons. Es ist Abend, ver­mut­lich oder Nacht, eine küh­le Nacht, weil die Frau, die vor der Kas­se war­tet, einen Ano­rak trägt von hell­blauer Far­be und fei­ne dunk­le Hosen, ihre Schu­he sind nicht zu erken­nen, aber die Schu­he der Män­ner, es sind vier Per­so­nen, ver­mut­lich mitt­le­ren Alters. Sie tra­gen schwar­ze, geschmei­dig wir­kende Mili­tär­stie­fel, außer­dem Uni­for­men von dun­kel­grü­ner Far­be, run­de Schutz­helme, über wel­chen sich eben­so dun­kel­grüne Tarn­stoffe span­nen, wei­ter­hin Wes­ten mit aller­lei Kampf­werk­zeu­gen, der ein oder ande­re der Män­ner je eine Sturm­wind­brille, Knie­schüt­zer, Hand­schuhe. Die Gesich­ter der Män­ner sind der­art ver­mummt, dass nur ihre Augen wahr­zu­neh­men sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wan­gen, nicht ihre Mün­der. Sie tra­gen kei­ne Hoheits­zei­chen, aber sie wir­ken kampf­be­reit. Einer der Män­ner schaut miss­trau­isch zur Kame­ra hin, die ihn ins Visier genom­men hat, ein Blick kurz vor Gewalt­tä­tig­keit. Jeder Blick hin­ter eine Mas­ke her­vor ist ein selt­sa­mer Blick. Einer ande­rer der Män­ner hält sei­nen Geld­beu­tel geöff­net. Die Män­ner wir­ken alle so, als hät­ten sie sich gera­de von einem Kriegs­ge­sche­hen ent­fernt oder nur eine Pau­se ein­ge­legt, ehe es wei­ter gehen kann jen­seits die­ses Bil­des, das Erstau­nen oder küh­le Furcht aus­zu­lö­sen ver­mag. Ich stel­le mir vor, ihre Sturm­ge­wehre lehn­ten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich her­aus­tre­ten an die fri­sche Luft, wenn wir den Blick zum Him­mel heben, wür­den wir die Ster­ne über Sim­fe­ro­pol erken­nen, oder über Jal­ta, Luhansk, Mariu­pol. — stop / kof­fer­test : updated — ich habe die­se auf­nah­me mit eige­nen augen gesehen.
ping



ping

ping