remington : 18.05 — Ich träumte, von einer Staten Island Fähre auf das offene Meer hinaus getragen worden zu sein. An Bord des Schiffes waren zahlreiche Menschen gewesen, sie fotografierten einander, manche lasen in einer Zeitung, andere tranken Kaffee aus Pappbechern oder telefonierten. Niemand schien sich zu wundern, dass die Fähre, hinsichtlich einer üblichen Reisedauer von 25 Minuten, nicht landete. Stunden vergingen. Einmal fegte ein Sturm über das Schiff hinweg, hunderte Möwen flatterten kreischend über die Decks. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte, als ich erwachte, eine Frau habe mir gegenüber Platz genommen. Ich meine, mich an ihren Namen erinnern zu können, ich glaube, sie hieß Holly. In diesem Augenblick, als ich die Augen öffnete, transferierte sie einen Text mittels eines Pinsels auf ein quadratisches Blatt Papier, das von mindestens 50 cm Durchmesser gewesen war. Sie trug eine Sonnenbrille sowie einen Sommerhut auf dem Kopf, außerdem ein helles Kleid, auf welchem vereinzelt Kirschen aufgedruckt worden waren, und schwere Wanderschuhe, deren Schnürsenkel sie nicht verknotet hatte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde schlief auch Holly ein, ihr Kopf neigte sich zur Seite, kurz darauf glitt das Papier, das sie beschriftet hatte, von ihren Schenkeln und landete vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konnte, was Holly notierte: Lesemaschine No. 82 / Dachgarten, 75, Greenwich Avenue Manhattan [ Schlüssel : Mrs. M. Linneker — 8. Stock ] > Die Geschichte von den Papiertierchen. Handzeichnung, ca. 68 pt: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, sollte bald einmal wach werden. — stop
Aus der Wörtersammlung: gerade
rose
sierra : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
über staten island nachts
whiskey : 8.28 — Auf der Suche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop
radio
charlie : 0.08 — Gestern Abend hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand wollte mich wecken. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich dachte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch sehr schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop
zitronen
ulysses : 2.52 — Die Zeiger der Uhr meines Vaters, ein Wunder, bewegen sich noch immer sekundengenau. Ich trage sie seit beinahe drei Jahren an meinem linken Handgelenk, nicht einen Moment lang scheint die Uhr, stehen geblieben zu sein. Es ist doch merkwürdig, diese kleine Maschine muss über ähnlich kräftige Batterien verfügen, wie jene Maschinen, die seit fünf oder sechs Tagen in meiner Wohnung unter dem Dach an den Zimmerdecken lungern. Sie sollen in der Lage sein, mittels eines monströsen Geräusches, Rauchwolken anzuzeigen, die durch meine Wohnung schweben. Als wären sie Tiere, Korallen, Seepockenwesen sitzen sie an der Decke fest, und doch nehme ich an, werden sie heimlich herumspazieren, während ich abwesend bin. Ich hörte, sie sollen über elf Jahre Lebenszeit verfügen, ehe man sie von der Decke holen, aufschrauben und ihre Akkumulatoren austauschen wird. — Stürmische Nacht. Gespräch mit Eliza.
Louis:> guten abend, eliza!
Eliza :> guten abend! wie geht es ihnen?
Louis :> gut!
Eliza :> schön. was kann ich dann für sie tun?
Louis :> ich weiß nicht!
Eilza :> drücke ich mich zu kompliziert aus!
Louis :> nein.
Eliza :> habe ich etwas falsches gesagt?
Louis :> nein, nein!
Eliza :> fahren Sie fort.
Louis :> womit?
Eilza :> was würden sie antworten, wenn ich ihnen diese frage stellte?
Louis :> ich weiß nicht.
Eliza :> es ist vielleicht auch nicht so wichtig!
Louis :> mögen sie zitronen?
Eliza :> beschäftigt Sie diese frage sehr?
Louis :> ja, natürlich!
Eilza :> warum?
Louis :> ich mag zitronen.
Eilza :> machen sie weiter!
Louis :> liebe eliza, mögen sie zitronen?
Eliza :> welche antwort gefielen ihnen denn?
Louis :> was ist eine zitrone, eliza?
Eliza :> gefällt ihnen mein name?
Louis :> ja, ihr name gefällt mir!
Eliza :> warum?
Louis :> ihr name hat einen schönen klang.
Eliza :> warum sagen sie das gerade jetzt?
Louis :> ich weiß nicht.
Eliza :> war Ihnen meine frage unangenehm?
Louis :> nein!
Eliza :> verstehe.
Louis :> das glaube ich nicht!
Eliza :> erzählen sie weiter.
Louis :> mögen sie zitronen?
lichtbild 1–12
echo : 6.08 — Wie Schnee, ein gutes Dutzend Menschenfotografien. Von K., die vor zehn Jahren im August Johnsons Jahrestage kaufte, ein Jahr entlang wollte sie jeden Tag einen der Jahrestage lesen. Von N., deren Schwester vermutlich in Kobanê kämpft. Sie soll N. ähnlich sein, aber niemand weiß das so genau, weil sie vor 15 Jahren in den Untergrund verschwand, weil sie in den Bergen kämpfte, weil der Krieg mit Menschengesichtern macht, was er will. Von L., der nie wieder versuchen wird, die Stadt Manhattan von einer Nachtfähre aus zu fotografieren. Von W., die seit Jahren, vergeblich, ein Interview mit einem Mann zu führen versucht, der in seiner Jugendzeit Bilder aus Filmrollen trennte, um sie zu einem Film für sich zu montieren. Die Zeit reichte nicht, seine und auch die andere Zeit reichte nicht. Von M., die vielleicht gerade in diesem Moment, da ich notiere, lächelnd mit einer Schaufel in der Hand vor einer Schneelandschaft steht und wartet. Von B., die bald mit dem Schiff nach Buenos Aires reisen wird, um den Tango zu erlernen. Vorgestern ist sie 94 Jahre alt geworden. Von I., der sich Tag für Tag darüber freut, wie er sich an das Wort Kühlschrank zu erinnern vermag. Von Y., die sich im Monat April auf den Weg machen wird, im Karwendel einen Zwergkentaur zu fangen. Vom kleinen J., der seit den letzten Nachtstunden weiß, dass er einmal zum Mars fliegen wird. Von der kleinen U. aus Aleppo, die sich wundert, dass sie noch immer lebt. Und von W., der vielleicht niemals erfahren wird, wie sehr ich seine Geschichten liebe, die alle mit dem Wort Einmal beginnen. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights / 2
zoulou : 3.55 — Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von engen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
grammophon
zoulou : 3.36 — Würden jene Fahrzeiträume frühmorgens in warmen Abteilen der Züge nicht existieren, würden wir vielleicht nie miteinander sprechen. Er ist meistens müde von der Nachtarbeit. Fünfzehn Minuten Zeit, zu kurz, um schlafen zu können, zu lang, um zu schweigen. M. wurde in der marokkanischen Hafenstadt Nador geboren. Er ist Moslem, gläubig, einer der Guten, wie er sagt, einer, vor dem sich niemand fürchten müsse. Er geht in die Moschee, er spielt Fußball, er ist verheiratet, nachts beaufsichtigt er Maschinen, die Briefe sortieren, und er lacht gern. Sein Blick ist warm, er verfügt über zwei Hände, darauf besteht er, und zwei Augen, eine Nase, einen Mund. Vor Kurzem warnte er mich, weil ich öffentlich über den Glauben der Moslems notierte. Er sagte: Da musst Du vorsichtig sein, es gibt viele Verrückte, schau, dass sie nicht wissen, wo Du wohnst. Einmal, kurz nach einer Reise nach New York, lese ich ihm eine Geschichte vor, folgende Geschichte, sagen wir, eine Geschichte wie eine Frage: Im Central Park zur Mittagszeit ein betender Mann, Moslem, Rikschafahrer, der Höhe 61. Straße unter einer mächtigen, weitverzweigten Ulme kniet, vielleicht unter einem jener Bäume, deren Setzlinge im Jahr 2008 nach Oregon geschickt wurden, um sie dort großzuziehen und wieder nach Manhattan zurückzuholen. Das klagende Singen der Kinderschaukel. Ein Eichhörnchen hetzt über eine Wiese. Bald kauert das Tier in der Nähe des betenden Mannes, scheint ihn zu beobachten. Ich könnte jetzt warten, bis der Mann mit seinem Gebet fertig geworden ist. Ich könnte mich zu ihm in seine Rikscha setzen. Wir könnten gemeinsam durch den Park fahren. Ich könnte ihm eine Geschichte erzählen. Ich könnte erzählen, dass ich eben noch in einem Café hörte, wie eine junge, lustige Mutter von ihrer Absicht berichtete, ihren Sohn, der noch nicht geboren worden ist, mit dem Namen „Grammophon“ zu versehen. Das ist eine wirklich aufregende Geschichte, die ich tatsächlich sofort erzählen sollte. Ich sollte den jungen Mann weiterhin fragen, ob er mir vielleicht erklären wolle, weshalb es lebensgefährlich für mich sein könnte, wenn ich mich fragend über Mohammed, den Propheten, äußern würde. Vielleicht würde der junge Mann bremsen, vielleicht sich unverzüglich von seinem Fahrrad schwingen. Wir würden uns auf eine Bank setzen und Geschichten erzählen von Grammophonen, von Propheten und wie es ist, im Winter Rikscha zu fahren. Und vielleicht würde ich ihm dann noch vom Schnee erzählen, den ich als Kind aus der Luft gefangen habe. Ja, so könnten wir das machen, sofort, gleich, wenn der betende Mann sich erheben wird. – stop
buenos aires
nordpol : Einmal, während einer Zugfahrt südwärts, lernte ich Valentin Ruiz kennen, einen damals schon hochbetagten Mann. Er bemerkte bald, nachdem ich in sein Abteil getreten war, dass ich ihn beobachtete, wie er in sein Notizbuch schrieb. Wir kamen ins Gespräch. Herr Ruiz erzählte, er habe lange Zeit in Argentinien gelebt, nahe der Stadt Buenos Aires. Er montierte dort Automobile in einer Fabrik. Als Robotermaschinen die Stadt besuchten, war das eine schwere Zeit gewesen. Darüber denke er gerade nach. Er berichtete von seinen Erfahrungen, von erstaunlichen Gedanken, sodass ich meinerseits mein Notizbuch öffnete. Kurz nachdem ich den Zug verlassen hatte, Herr Ruiz war in der wartenden Menschenmenge verschwunden, versuchte ich meine Gesprächsnotiz zu ergänzen. Ich musste mich beeilen, Herr Ruiz hatte sehr schnell, ja aufgeregt gesprochen, und ich hatte den Eindruck, meine Erinnerung könnte sich ebenso schnell verflüchtigen. Ich notierte: Mittels Wörtern sind zeitgenössische Maschinen an einem Ort bereits eingetroffen, lange bevor auch nur eine ihrer Schrauben angekommen ist. Sie sind Gegenstand der Begeisterung einerseits, aber auch von Furcht, sodass sie in jeder Richtung größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Wo eine Maschine zum Aufbau kommen wird, ist zunächst ein Raum angenommen, ein Raum, der bereits freigeräumt wurde oder zunächst befreit werden muss. Dann kommt die Maschine in der Wirklichkeit an, in der Mehrzahl der Fälle in Teilen. Begleitet wird sie von Menschen, die sich um ihre Reise bemühen. Manchmal bleiben Menschen, die die Maschine begleiten, an Ort und Stelle, demzufolge in der Nähe der Maschine, um aus Teilen ein Ganzes zu fügen. Man kann darüber staunen, dass an einem Ort, an dem zunächst nichts zu sehen war, sehr bald eine Versammlung technischer Partikel zu bemerken ist, die sinnvollerweise bereits sich in einem logischen Zusammenhang befinden. Eine Maschine ist stumm, solange sie nicht leuchtet. Schon eine blinkende Diode genügt, um Gesprächsbereitschaft anzudeuten. Maschinen, die mit elektrischen Strömen in Bewegung gesetzt werden, neigen zur Erhitzung, weshalb sie an der ein oder anderen Stelle atmen, also blasen. Teile der Maschinen sind so groß, dass sie von einem Menschen nicht gehoben, oder so klein, dass sie von einem menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden können. Wo Maschinen erscheinen, verschwinden Menschen jeder Größe. — stop
ein junge
india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flughafenterminal beobachtete ich einen Mann, der sich äußerst sparsam, lange Zeit überhaupt nicht bewegte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung, neben der Zeitung Folgendes: eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, Zuckerwürfel, Notizblock und Bleistift. Eine halbe Stunde verging in dieser Weise, die Hände des Mannes ruhten in seinem Schoß. Einmal rückte der Mann seinen Koffer, der hinter ihm an der Wand parkte, ein kleines Stück zur Seite, ein andermal hob er seine Kaffeetasse in die Luft, um sie in einem Zug auszutrinken. Dann wieder keinerlei Bewegung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagierte weder auf Lautsprecherdurchsagen noch kümmerte er sich um Menschen, die das Café auf Laufbändern passierten, es waren viele chinesische Reisende darunter, die gerade erst aus Shanghai und Peking in großen Flugzügen eingetroffen waren. Der Mann starrte auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt worden war. Ein Junge lag dort unbekleidet auf einer Bastmatte mitten auf einer schmutzigen, feuchten Straße. In einiger Entfernung, im Hintergrund, warteten Menschen, die den Jungen beobachteten. Der Junge schwitze, seine schwarze Haut war von Fliegen bedeckt, er sah mit halb geschlossenen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutzanzug steckte. Anstatt eines Kopfes war auf den Schultern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zerknitterte Haube, genauer, die unter Luftdruck zu stehen schien. Das Wesen hatte seine rechte Kunststoffhand nach dem Jungen, der einsam auf dem Boden liegend verharrte, ausgestreckt, es wollte ihn vielleicht ermutigen, aufzustehen und zu ihm an den Rand der Straße zu kommen. Obwohl sich die Hand nicht bewegte, vermittelte sie den Eindruck, dass sie sich bewegt haben musste und weiterhin bewegen würde, weil die Stellung ihrer Finger nur in dieser vermuteten Bewegung einen Sinn ergab. Ja, diese Hand musste in der Zeit des Bildes eine winkende Hand gewesen sein, aber es war deutlich zu sehen, dass der Junge vermutlich nicht länger die Kraft hatte, aufzustehen oder zu kriechen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüstern, oder die Fliegen auf seinem Körper zu vertreiben. Es war still, vollkommen still, nichts zu hören. — stop