nordpol : 0.05 — Als ich die alte Dame im Haus der alten Menschen besuchte, war sie schon wach und bekleidet gewesen. Sie saß in einem Rollstuhl, trug Turnschuhe an ihren Füßen, das Haar war gekämmt, rosige Wangen. Anstatt mich zu begrüßen, sagte sie: 7805355, wir müssen uns kümmern, ich telefoniere die ganze Nacht, aber es geht niemand dran, es geht einfach niemand dran, 7805355. Die alte Dame wiederholte diese Nummer 7805355 in hoher Frequenz, sie hörte nicht auf, diese Nummer immer wieder vor sich her zu sagen. Wir verließen ihr Zimmer, ich schob sie durch Flure des Hauses der alten Menschen. Wir waren zunächst im Garten, dann im Park, dann auf einem Weg unter Apfelbäumen. Vögel zwitscherten. Die Luft war warm vom Licht der tief stehenden Sonne. Wenn ich anhielt, um nachzusehen, wie es der alten Dame ging, bemerkte ich, dass sie immer noch die Nummer eines Telefons vor sich hin murmelte, als ob sie eine Schallplatte in sich abspielte, die aufhörte, weil sie das Ende ihrer Spur verlor, einen Ausgang. Auch am Nachmittag, die alte Dame hatte geschlafen, wurde unentwegt von genau jener Telefonnummer gesprochen, die schon die Nummer des Morgens gewesen war. Bald wurde Abend. — stop
Aus der Wörtersammlung: niere
max
charlie : 20.45 UTC — Ich habe meinen Freund Max besucht, der in München wohnt in der Briennerstraße unter dem Dach in einem Loft, das derart weiträumig ist, dass man darin Hallenfußball spielen könnte. Seine Vögel, zwei Kakadus, fliegen dort gern frei herum, sie sollen, so Max, niemals bislang irgendeinen Schaden an seinen Möbeln angerichtet haben. Das liegt vielleicht auch daran, dass Max’ Vögel möglicherweise nicht ganz echt sind, ich meine, dass sie kühle Tiere von äußerst leichtem Metall sein könnten unter dichtem Federkleid verborgen, dass sie also nur vorgeben, Vögel zu sein, während sie vielmehr Drohnen sind, die sich von Max’ Computer gesteuert durch die Wohnung bewegen, als wären sie natürliche Wesen. Ich habe beide Tiere immer nur im Flug beobachtet, nie aus nächster Nähe, denn wenn sie einmal nicht fliegen, sitzen sie in einem Käfig, der dicht unter der Decke des Raumes unerreichbar weit entfernt montiert wurde. Wunderbare Algorithmen steuern den Flug der Kakadus, auch ihre Gespräche, die sie beständig führen. Es ist spät geworden, eigentlich wollte ich eine ganz andere Geschichte erzählen, von Max’ Computer, der über eine Taste für Cappuccino verfügen soll. Diese Geschichte werde ich im nächsten Jahr erzählen. — stop
eine lampe
nordpol : 10.28 UTC — Gestern, ehe ich das Haus der alten Menschen besuchte, dachte ich noch, das Altwerden, das Alt- oder Uraltsein habe mit Unruhe zu tun, mit Schlaf, dessen Zeiträume kürzer und kürzer werden. Heute nun würde ich sagen, das Alt- oder Uraltsein hat etwas mit Schlaf über lange Zeiträume hin zu tun, auf einem rollenden Stuhl sitzen und schlafen oder dämmern. Da war wieder eine Frau im Licht einer gelben Lampe, die im Wohnsaal vor einem Tisch saß und einen Telefonhörer in der Hand hielt. Der Telefonhörer war mit einem Telefon mit Wählscheibe verbunden, ein derart altes Telefon, dass man, um eine Nummer zu wählen, eine kreisende Bewegung ausführen muss. Dieses Telefon nun war nicht mit der Wand in Verbindung, vielmehr ragte aus dem Gehäuse des Telefons ein kurzes Stück Kabel, das anzeigte, dass das Telefon einmal tatsächlich mit der elektrischen Welt verbunden gewesen war. Als ich an der alten telefonierenden Dame vorbeikam, dachte ich für einen Moment, vielleicht liest ihr gerade jemand vor, vielleicht Hrabal, der aus seinem Roman Ich habe den englischen König bedient zitiert. Es wird Herbst, in jeder Hinsicht. 288P, ein Doppelasteroid wurde entdeckt. Hurrikane Maria verwüstet die Karibik. Mr. Un droht mit Wasserstoffbombentest. — stop
erwärmung
olimambo : 22.06 UTC — In der 38 Minute des faszinierenden Films Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte erzählt Peter Handke: Heutzutage scheint mir, dass man wirklich nur nachstellt, was eh schon durch Filme, durch Fernsehen und Zeitung eh schon sozusagen ausgespuckt ist. Es muss erfunden werden. Und eine Erfindung ist ganz was Seltenes. Erfinden zu dürfen, zu können, zu sollen, das ist nicht normal. Es ist eine Art von Vision. Ohne Vision gehts nicht. / Der Ludwig Hohl, der Schweizer Schriftsteller, hat gesagt: Phantasie ist nicht Gaukelei, sondern ist die Erwärmung, ich füge vielleicht hinzu — die herzliche Erwärmung des Vorhandenen, dessen, was vorhanden ist. Das ist Phantasie. Und nicht das Storytelling. — — stop / Und Bosnien? Wie ist das gewesen? Wie erzählt und wie nicht erzählt? Ich muss wieder das Lesen lernen und üben. 15.10.2019
vom schlafen
delta : 4.38 UTC — Ich sass an Deinem Bett, liebe schlafende Mutter, Stunde um Stunde. Immer wieder dachte ich, wie schwer es doch ist, zu einem Menschen zu sprechen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Vielleicht sollte ich summen? Oder doch weiter sprechen? Ich suchte nach einem Text, den ich einmal für Dich geschrieben hatte. Ich dachte, ich werde Dir diesen kleinen Text vorlesen, und wenn ich an seinem Ende angekommen sein werde, werde ich von vorne beginnen. Es geht vermutlich darum, dass Du meine Stimme hörst, nicht darum, was genau ich lese an diesem Morgen, als es noch dunkel war im Haus. Was hörte, was höre ich? Ich höre ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch nähert sich, es kommt über die Treppe abwärts heran. Zunächst ist nichts zu sehen, dann aber eine Deiner drei Brillen, liebe Mutter, die seit dem Vorabend über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen durch die Luft zu bewegen, durch Räume oder den Garten. Deine Brille kommt näher, durchquert das Wohnzimmer, kreist einmal um meinen Kopf, landet schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem Du hoffentlich einmal wieder Platz nehmen wirst. Über drei Brillen verfügst Du, liebe Mutter, und jede dieser Brillen kann nun fliegen. Eine Brille wird im Dachgeschoss stationieren, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte Deiner Brillen, liebe Mutter, zu ebener Erde. Wie sie zu blinken beginnen, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels unhörbarer Funksignale orientieren. Das Suchen hat nun ein Ende, alles wird gut, Du darfst erwachen. – stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR : “Nach 31 Tagen im Hungerstreik im Evin-Gefängnis in Teheran geht es Atena Daemi gesundheitlich sehr schlecht und sie benötigt umgehend eine stationäre Behandlung. Sie ist seit November 2016 aufgrund ihrer menschenrechtlichen Aktivitäten zu Unrecht inhaftiert. / Am 8. April trat die iranische Menschenrechtsverteidigerin Atena Daemi im Evin-Gefängnis in den Hungerstreik. Sie protestiert damit gegen die Verurteilung ihrer Schwestern Hanieh und Ensieh zu ausgesetzten Gefängnisstrafen wegen “Beleidigung von Beamt_innen im Dienst”. Beide wurden am 13. März 2017 von einem Strafgericht in Teheran zu ausgesetzten Gefängnisstrafen von drei Monaten und einem Tag verurteilt. Laut der Familie von Atena Daemi hat sich ihr Gesundheitszustand sehr verschlechtert. Sie soll etwa 12 kg Gewicht verloren haben. Sie leidet an ständigem Schwindel, Erbrechen, Blutdruckschwankungen und großen Nierenschmerzen. Am 2. Mai verlor sie kurzzeitig das Bewusstsein. Sie wurde am 8. Mai für kurze Zeit in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht, in dem einige medizinische Untersuchungen durchgeführt wurden. Man brachte sie jedoch ins Gefängnis zurück, noch ehe die Untersuchungsergebnisse vorlagen. Ärzt_innen haben warnend erklärt, dass ihre Nierenentzündung einen kritischen Zustand erreicht habe und sie sofort stationär behandelt werden müsse. / Die Gefängnisbeamt_innen gewähren ihr jedoch keine angemessene medizinische Versorgung. Am 29. April erzählte Atena Daemi ihrer Familie, dass die Gefängnisärzt_innen in ihren Berichten weiterhin schreiben, dass ihr Gesundheitszustand normal sei und sie ihre Erkrankung nur “vortäuscht”. Ende April wurde sie in die Gefängnisklinik gebracht, um ein EKG zu erstellen, doch der Krankenpfleger weigerte sich, die Untersuchung durchzuführen. Er rechtfertigte seine Weigerung damit, dass es für männliches medizinisches Personal “unangemessen” sei, diese Untersuchung an Patientinnen durchzuführen, da sie dabei ihre Brust entblößen müssen. Weibliche politische Gefangene sehen sich häufig zusätzlichen Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung gegenüber, wenn sie Zugang zu medizinischer Behandlung suchen. Weiblichen Gefangenen mit abendlichen oder nächtlichen Herzproblemen wurden bereits bei mehreren Gelegenheiten Notfall-EKGs verweigert, da die Gefängnisbehörden darauf bestanden, dass diese Tests von weiblichem Personal durchgeführt werden, da die Patientinnen für die Untersuchung ihre Brust entblößen müssen. / Atena Daemi und der Rechtsbeistand ihrer Schwestern warten derzeit auf die Überprüfung der Schuldsprüche und Strafmaße durch das Berufungsgericht. Der Rechtsbeistand befürchtet, dass die Rechtsmittel zurückgewiesen werden könnten. Amnesty International betrachtet das Verfahren, das zu ihrer Verurteilung führte, als unfair und würde Hanieh und Ensieh Daemi bei einer Inhaftierung als gewaltlose politische Gefangene einstufen, die nur deshalb zur Zielscheibe wurden, weil sie mit Atena Daemi verwandt sind.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 20. Juni 2017 hinaus, unter > ai : urgent action
oft habe man tage lang gewartet
nordpol : 2.58 — Von ihrer Zeit, die sie als Flüchtlingskind auf dem Land verbrachte, erzählt Mutter immer wieder gern. Sie hatten genug zu essen, weil sie und ihre Schwestern bei einer Bauernfamilie wohnten. Wenn der Vater am Wochenende zu Besuch kam, ahnte sie nichts von Tieffliegerangriffen auf Züge, mit welchen der Vater reiste, aber an seine staubigen Anzüge, weil er sich auf den Boden werfen musste. Die brennende Stadt München, obwohl in großer Entfernung liegend, war im Schein der Feuer damals am Horizont zu erahnen gewesen, wie Abendrot inmitten der Nächte. Dann das Warten auf eine Nachricht am nächsten Morgen. Oft habe man Tage lang gewartet. Sie selbst habe zweimal einen Bombenangriff auf München erlebt, das war zu Beginn des Luftkrieges. Sie habe sich nicht gefürchtet, es sei vielmehr spannend gewesen mit ihren Nachbarn und anderen Leuten so eng in einem Keller zu sitzen. Es gab Pralinen für die Kinder und einen Geschichtenerzähler. Ein Jahr später sei ihre große Schwester nach einem Angriff lange Zeit verschüttet gewesen und deshalb für Wochen verstummt. In dieser Zeit habe sie gehört, dass die Schollwöcks abgeholt worden seien, sie könne nicht sagen, weshalb sie als Kind schon wusste, dass das Abholen etwas Schreckliches gewesen sein musste für die, die abgeholt wurden. Sie habe beobachtet, dass die Abgeholten niemals wiedergekommen seien, und dass von ihnen bald nicht mehr gesprochen wurde. Das alles habe sie als Kind schon so bemerkt, weil Kinder sehr viel mehr bemerkt haben, als die Erwachsenen vielleicht glaubten. Dass die Eltern in der Wohnung vor dem Krieg das Hitlerbild immer umgedreht haben, davon durfte sie nicht erzählen, in der Schule nicht und auch anderswo nicht. Einmal sei sie vom Land her wieder in die zerstörte Stadt zurückgekommen, es war ein nebliger Tag gewesen, sie habe zunächst gedacht, es sei der Nebel, aber das Haus, in dem sie und ihre Schwestern aufgewachsen waren, existierte nicht mehr. Damals würden sie Bisamratten gegessen haben, die schmeckten sehr gut, und der Vater sei gelb geworden im Gesicht, weil seine letzte Niere langsam versagte. In dieser Zeit habe der Vater ihr viel von der Welt erzählt, wie sie funktioniert, er sei verstört gewesen, dann sei er gestorben. — stop
papiere
marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um einen weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zur Zeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop
alisa
foxtrott : 3.02 — Alisa, wie sie vor Jahren in Holzschuhen durch das Treppenhaus hüpft, wie sie Rosenblüten in meinen Briefkasten wirft, wenn schon nicht telefonieren, dann eben so. Ihre Wildheit. Ihre Lust auf Fotoapparate. Ihr blaues Auge, weil sie eine Fotografie zu Hause zeigte, die ich ahnungslos aufgenommen hatte, Alisa, die Kastanien sammelt an einer nahen Straßenbahnhaltestelle, nie wieder Rosenblüten. Wie wir uns einmal auf die Suche machen, Alisas verzweifelte Mutter, mit Kopftuch, und ich, ohne Kopftuch. Sie kann nicht mit dem Mund zu mir sprechen, es fehlen die Wörter, also spricht sie mit den Augen. Mit angewinkelten Beinen sitzt Alisa in einer Turnhalle und sieht riesigen Männern zu, die Basketball spielen. Sie hat die Zeit vergessen, wie alle Kinder die Zeit vergessen. Da ist grad noch ein Bild in meinem Kopf, ein todmüder marokkanischer Mann, Alisas Vater, mit seinem heruntergekommenen roten Auto, wie er an einem späten Freitagabend gebückt und staubig die Straße überquert. Plötzlich waren sie nicht mehr da, Alisa, ihre Mutter, der Vater, das rote Auto. — stop
vom suchwörterschatten
echo : 0.55 — Ein faszinierender Suchwörterschatten, der Particles in den vergangenen Monaten berührte: Tattermandl . Herzohren . Papierhaut . Schneckengeschichten . Wasserwohnungen . künstlicher Babybauch zum Selbermachen . Andreas Einfinger . Brustmilchgang . Kalkutta . Mann ohne Mund . Stöpselkopfameise. Aber auch Versuchum Versuch, das Wort Particles zu formulieren: particlees . particeles . particals . xparticles . partticles. – Habe ich je über Coco Chanels Wintermütze notiert? – stop