Aus der Wörtersammlung: postamt

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ein päckchen

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tan­go : 17.01 — Im August ein­mal ste­he ich in einer Schlan­ge war­ten­der Men­schen. Der Ort: U.S. Gene­ral Post Office, New York, 8. Stra­ße. Die Zeit: Kurz vor sechs Uhr abends. Ich bin müde, bin wei­te Stre­cken durch die Stadt gewan­dert. Ich den­ke noch, wenn ich nicht acht­sam bin, könn­te ich viel­leicht im Ste­hen ein­schla­fen. Ich über­le­ge, ob ich in die­sem Fal­le umfal­len oder ein­fach so schla­fend ste­hen blei­ben wür­de. Drau­ßen ist es höl­lisch heiß, schwül und feucht, in der Hal­le des Post­am­tes eher kühl. Vor mir, so nah, dass ich sie ver­se­hent­lich umar­men könn­te, war­tet eine zier­li­che, älte­re Dame, sie ist viel­leicht gera­de vom Fri­seur gekom­men, ihr Haar, ein bläu­lich schim­mern­der Ball, der hef­tig duf­tet. Auf ihren Schul­tern ruht ein Fuchs, der tot ist. Als sie an die Rei­he kommt, tritt sie an den Schal­ter her­an, stellt sich auf ihre Zehen­spit­zen und legt ein Päck­chen auf den Tre­sen ab. Mit einer läs­si­gen Hand­be­we­gung schiebt sie die Ware zu einer Post­an­ge­stell­ten hin. Die Frau­en unter­hal­ten sich. Ich kann nicht jedes Wort ver­ste­hen, sie spre­chen sehr schnell. Ich mei­ne, zu hören, wie die Post­an­ge­stell­te bemerkt, dass das Päck­chen sehr leicht sei, so leicht, als ob in ihm nichts ent­hal­ten wäre. Die alte Dame erwi­dert, in dem Päck­chen sei sehr wohl etwas ent­hal­ten, näm­lich 7 x 1 Stun­de Schlaf, die sie einem Freund über­mit­teln wür­de, der nahe Bos­ton woh­ne, ein Geschenk. Dar­auf­hin lacht die Post­an­ge­stell­te mit tie­fer Stim­me. Sie sagt: Das ist ein unglaub­li­ches Geschenk, sie wür­de auch ein­mal sehr ger­ne etwas Schlaf­zeit geschenkt bekom­men. Kurz dar­auf dreht sich die alte, zier­li­che Frau auf dem Absatz um, ein feu­er­rot geschmink­ter Mund, gepu­der­te, hel­le Haut, win­zi­ge blaue Augen. Sie durch­quert den Saal nach Nor­den hin. Klei­ne Schrit­te, sehr schnell. Kurz vor einer der Türen, da sie die Rich­tung kor­ri­gie­ren muss, wird sie bei­na­he aus der Kur­ve getra­gen. — stop
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ein brief

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india : 5.56 — Ich ent­deck­te eine Nach­richt in mei­nem Brief­kas­ten, eine nicht zustell­ba­re Sen­dung wür­de im Post­amt auf mich war­ten. Einen Tag spä­ter, so gut wie sofort, war ich dort gewe­sen. Ich stand in einer Schlan­ge von Men­schen und über­leg­te, um was für eine Sen­dung, die auf mich in nächs­ter Nähe war­te­te, es sich han­deln könn­te. Es war ein neb­li­ger Tag. Möwen waren vom Fluss her tief in die Stadt vor­ge­drun­gen. Obwohl eigent­lich eher scheue Per­sön­lich­kei­ten, hock­ten sie auf dem Fens­ter­sims des Post­am­tes als wür­den sie uns beob­ach­ten, Men­schen, wie sie war­te­ten, in dem sie lang­sam in eine Rich­tung zu einer Schal­ter­rei­he vor­rück­ten. Es war eine län­ge­re Schlan­ge. Ich hol­te mein Mobil­te­le­fon her­aus und las in einer Zei­tung, dass in einer nörd­lich der Stadt Bag­dad gele­ge­nen Gegend Senf­gas ent­deckt wor­den sein soll zu einem Zeit­punkt, da es nicht exis­tier­te. Es ist sehr merk­wür­dig, man kann sich in einem Bericht die­ser Art ver­lie­ren und kommt doch gut vor­an in einer Schlan­ge von Men­schen, ohne berührt zu wer­den. Nach einer Vier­tel­stun­de war ich am Ziel ange­kom­men, ein Schal­ter­be­am­ter, der sich ganz offen­sicht­lich freu­te, über­reich­te mir einen sehr klei­nen Brief. Der Brief war der­art klein, dass er zunächst zwi­schen der Bee­re des Zei­ge­fin­gers und der Dau­men­spit­ze des Man­nes, die den Brief fixier­ten, voll­stän­dig ver­schwand. Kurz dar­auf hob er den Brief mit­tels einer Pin­zet­te in die Luft, um ihn auf dem Tre­sen vor mir abzu­le­gen. Der Mann reich­te mir eine Lupe, ich sol­le mich ver­ge­wis­sern, die Brief­mar­ke feh­le. Tat­säch­lich war auf der Anschrif­ten­sei­te des Kuverts mein voll­stän­di­ger Name und mei­ne Adres­se ver­merkt, eine Brief­mar­ke aber war nicht zu ent­de­cken, ver­mut­lich des­halb, weil Brief­mar­ken für Brie­fe die­ser Grö­ße noch nicht aus­ge­lie­fert wor­den sind. Der Beam­te sag­te, dass es sich bei die­sem Brief, um den kleins­ten Brief han­de­le, den er je bear­bei­tet haben wür­de, ich soll­te ihn gut ver­wah­ren: 65 Cent. Der Brief liegt jetzt auf mei­nem Küchen­tisch. Ich habe ihn noch immer nicht geöff­net. Es ist kurz vor fünf Uhr. Wie­der Nebel. — stop
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ein zeppelinkäfer

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echo : 2.54 — Wann war es, dass ich zum ers­ten Mal bemerk­te, wie mei­ne Brie­fe klei­ner und klei­ner wur­den? Wesen von wirk­li­chem Papier, Bögen in Umschlä­gen mit einem Post­wert­zei­chen, das zuletzt die Anschrif­ten­sei­te mei­nes Schrei­bens voll­stän­dig bedeck­te. Im Post­amt wer­de ich seit­her ernst genom­men. Vor eini­gen Wochen kauf­te ich sinn­vol­ler Wei­se ein hand­li­ches Mikro­skop und einen Satz Blei­stif­te von äußers­ter Här­te. Ich spitz­te das Schreib­werk­zeug eine Vier­tel­stun­de lang, dann leg­te ich einen Bogen Papier in das Licht einer Lin­se mitt­le­rer Stär­ke. Ich näher­te mich mit beben­den Fin­gern. Man soll­te mich in die­sem Moment gese­hen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das klei­ne Blatt notier­te, hielt ich die Luft an. Tat­säch­lich habe ich in mei­nen Leben noch nie zuvor in einer der­art sorg­fäl­ti­gen Wei­se geschrie­ben. Ich brauch­te drei Stun­den Zeit, um das Papier, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Brief­mar­ke von 1.5 cm Kan­ten­län­ge, voll­stän­dig zu beschrif­ten. Ich schrieb fol­gen­de Zei­len an einen Freund: Lie­ber Sta­nis­law, Du wirst es nicht glau­ben, nach 1 Uhr heu­te Nacht schweb­te ein Zep­pel­in­kä­fer einer nicht sicht­ba­ren, schnur­ge­ra­den Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. – Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. – Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit sechs recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. Dein Lou­is, herz­lichst. — Es war eine wirk­lich har­te Arbeit, all die­se Zei­chen zu notie­ren. Dann fal­te­te ich das Blatt Papier ein­mal kreuz und quer. Ich arbei­te mit zwei Pin­zet­ten wie­der­um unter star­kem Licht, steck­te den Brief in ein Cou­vert, des­sen Her­stel­lung noch mühe­vol­ler gewe­sen war als das Schrei­ben des Brie­fes selbst, und mach­te mich auf den Weg in das nächs­te Post­amt. Dort wur­de ich unver­züg­lich an den Schal­ter für beson­de­re Brief­for­ma­te wei­ter­ge­lei­tet, wo mein Brief, den ich mit einer Pin­zet­te auf den Tre­sen beför­dert hat­te, von einer wei­te­ren Pin­zet­te ent­ge­gen­ge­nom­men wur­de. Ich war sehr glück­lich. Ich beob­ach­te­te, wie der Beam­te eine Brief­mar­ke von der Grö­ße eines Reis­korns behut­sam auf mei­nen Brief leg­te und mit­tels eines Stem­pels, der vor mei­nen blo­ßen Augen kaum noch sicht­bar gewe­sen war, ent­wer­te­te. Dann ging mein Brief auf Rei­sen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kur­ze Zeit ver­ges­sen. Nun aber, vor weni­gen Stun­den, wur­de mir von einem Son­der­bo­ten der Post ein Brief von der­art leich­ter Gestalt über­ge­ben, dass ich zunächst die Anwei­sung erhielt, alle Fens­ter mei­ner Woh­nung zu schlie­ßen. Die­ser Brief, eine Depe­sche mei­nes Freun­des, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein sehr klei­nes Kunst­werk. Auf sei­ner Brief­mar­ke sol­len sich zwei Para­dies­vö­gel befin­den, die ihre Schnä­bel kreu­zen. Ich wer­de das gleich über­prü­fen. — Es ist Frei­tag! Guten Mor­gen! — stop / fürs marie­chen

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flugbriefe

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del­ta : 0.01 — Nach einer har­ten Schicht im Post­amt von Bre­les, an wel­cher nicht weni­ger als zwei­hun­dert Beam­te betei­ligt gewe­sen sein sol­len, star­te­ten in den frü­hen Mor­gen­stun­den 5778 Luft­post­brie­fe von eige­ner Kraft, jeder also für sich und zur glei­chen Zeit, ihren Flug von der fran­zö­si­schen Küs­te über den Atlan­tik nach John Island, South Caro­li­na. Man fliegt im Schwarm nun schon die 16. Stun­de, eine äußerst güns­ti­ge Linie ent­lang, weil man in der Lage ist, sich an den Ster­nen zu ori­en­tie­ren. Es soll ein wun­der­ba­res Schau­spiel gewe­sen sein, wie sich die Wol­ke der Luft­post­brie­fe unter dem Bei­fall des gela­de­nen Publi­kums vom Boden erhob, um sich auf den Weg zu machen, das unend­lich wei­te West­meer zu über­que­ren. Ein Augen­zeu­ge berich­te­te von einem Geräusch, das er nie zuvor wahr­ge­nom­me­nen habe, als ob sich ihm tau­sen­de Bie­nen näher­ten. Ein wei­te­rer Beob­ach­ter schwärm­te von wun­der­bar schim­mern­der Erschei­nung genau in dem Moment, da die Brief­wol­ke den Hori­zont erreich­te. Er sag­te, dass man noch eine lan­ge Zeit ein Brum­men ver­nom­men habe. Einer der flie­gen­den Brie­fe sei vor sei­nen Füßen ins Gras gestürzt. Er habe den Brief mit sich nach Hau­se genom­men, wo er ihn unter­such­te. Ein Lie­bes­brief von Madame Juli­ett L. an sich selbst sei im Umschlag ent­hal­ten gewe­sen. An der obe­ren Brief­kan­te, je an einer Ecke links und rechts, befän­den sich Roto­ren, die im Zustand der Ruhe, in der Art geschlos­se­ner Regen­schir­me nach unten gefal­te­ten sei­en. Der Flug­brief ist sehr leicht, sag­te der Mann zum Schluss, ein klei­nes Wun­der mit einer Brief­mar­ke, die über Licht­sen­so­ren zu ver­fü­gen scheint. — stop

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von den eisbriefen

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kili­man­dscha­ro : 6.28 — Für ein oder zwei Minu­ten war ich wild ent­schlos­sen gewe­sen, ein Grün­der zu wer­den, und zwar ges­tern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Brief­kas­ten gelau­fen, der nicht weit ent­fernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befes­tigt ist. Ein Eich­hörn­chen, natür­lich, beglei­te­te mich. Es war sehr kalt, und plötz­lich habe ich wahr­ge­nom­men, dass ich, wenn es mir mög­lich wäre, gern Brie­fe von Eis ver­schi­cken wür­de, hauch­dün­ne Blät­ter gefro­re­nen Was­sers, die man in küh­len­de Kuverts ste­cken und in alle Welt ver­schi­cken könn­te. Eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung nach­ge­ra­de, wie ein Mensch, dem ich einen Eis­brief gesen­det habe, in der Küche vor sei­nem Eis­schrank sitzt und mei­nen Brief für Sekun­den stu­diert, um ihn dann rasch wie­der in die Käl­te zurück­zu­le­gen, damit er nicht ver­schwin­det in der war­men Luft. Ich soll­te also bald ein­mal jene beson­de­ren Eis­pa­pie­re, ihre Fabri­ken und Läden erfin­den, und Kuverts, und Brief­käs­ten, die wie Kühl­schrän­ke funk­tio­nie­ren. Wo man die Brie­fe sor­tiert, in einem Post­amt, wür­de man in tief­ge­kühl­ten Räu­men arbei­ten, und alle die­se Auto­mo­bi­le, nicht wahr, die ver­eis­te Brief­wa­re über das Land beför­dern. Ein Unter­neh­men die­ser Art, wäre eine wirk­li­che Her­aus­for­de­rung, eine gute und sehr ver­rück­te Sache, so dach­te ich am gest­ri­gen Abend. Kaum war ich wie­der in mei­ne Woh­nung zurück­ge­kehrt, war aus der Grün­der­zeit bereits eine Erfin­der­zeit gewor­den. Und wie ich in die­sem Augen­blick vol­ler Freu­de im pola­ren Zim­mer vor mei­nem Schreib­tisch sit­ze, damp­fen­der Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hör­ba­ren Pfei­fen Zei­chen in schim­mern­de Eis­pa­pier­bö­gen fräst. Ich schrei­be: Mein Lie­ber Theo­dor, ich woll­te Dir schon lan­ge ein­mal einen Eis­brief notie­ren. Hier nun, wie ver­spro­chen, ist er end­lich bei Dir ange­kom­men. Ich hof­fe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir auf­ge­schrie­ben habe, dass ich näm­lich den Wunsch habe, bald ein­mal zwei oder drei Tage zu schwei­gen, um den Kopf­stim­men stum­mer Men­schen nach­zu­spü­ren. Ich könn­te mich kurz vor Beginn mei­ner Stil­le ver­ab­schie­den von Freun­den: Bin tele­fo­nisch nicht erreich­bar! Oder einen Notiz­block besor­gen, um Fra­gen für den All­tag zu ver­zeich­nen, sagen wir so: Füh­ren sie in ihrem Sor­ti­ment Hör­ge­rä­te für Engel­we­sen fin­ger­groß? Eine Kärt­chen­samm­lung zu erwar­ten­der Wie­der­ho­lungs­sät­ze wei­ter­hin: Habe vor­über­ge­hend mein Ton­ver­mö­gen ver­lo­ren! – Es ist eine ange­neh­me Nacht, lie­ber Theo­dor. Ich erin­ner­te einen Satz René Chars, den er in sei­ner Gedicht­samm­lung “Lob einer Ver­däch­ti­gen” notier­te. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangs­ar­ten mit dem Leben: ent­we­der man träu­me es oder man erfül­le es. In bei­den Fäl­len sei man rich­tungs­los unter dem Sturz des Tages, und grob behan­delt, Sei­den­herz mit Herz ohne Sturm­glo­cke. Dein Lou­is, ganz herz­lich! — stop

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josephine besucht chelsea

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ulys­ses : 15.07 — Ich erin­ne­re mich an einen Tag im Mai des Jah­res 2010, als Jose­phi­ne und ich durch den Cen­tral Park spa­zier­ten. Es war ein war­mer Tag gewe­sen, ein Tag, an dem Wasch­bä­ren ihre Ver­ste­cke im Unter­holz flüch­te­ten, um den Som­mer zu begrü­ßen. Nie zuvor hat­te ich per­sön­lich Wasch­bä­ren gese­hen, und auch an die­sem Tag hat­te ich kaum Zeit, sie zu beob­ach­ten, weil die betag­te Dame an mei­ner Sei­te süd­wärts dräng­te. Gut gelaunt schien sie ihr Alter nicht im min­des­ten zu spü­ren, und so folg­ten wir der 8th Ave­nue Rich­tung South Fer­ry, pas­sier­ten die Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on, das zen­tra­le Post­amt und die Penn Sta­ti­on, um nahe des Joy­ce-Thea­ters in die 18th Stra­ße ein­zu­bie­gen. Bei­na­he zwei Stun­den waren wir bis dort­hin unter­wegs gewe­sen, es däm­mer­te bereits. Vor dem Haus 264 West blieb Jose­phi­ne ste­hen. Sie hol­te ihr Tele­fon aus der Hand­ta­sche und mel­de­te mit lau­ter Stim­me, dass sie bereits unten vor dem Haus ste­hen wür­de und abge­holt zu wer­den wün­sche! Ein Herr, in etwa dem­sel­ben Alter, in dem sich Jose­phi­ne befand, öff­ne­te uns kurz dar­auf die Tür. Er war mit einem Haus­man­tel beklei­det, der in einem tie­fen Blau leuch­te­te, hat­te kei­ner­lei Haar auf dem Kopf und trug Turn­schu­he. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich wun­der­te über sei­ne sehr gro­ßen Füße, denn der Mann, den mir Jose­phi­ne mit dem Namen Valen­tin vor­stell­te, war eher zier­lich, wenn nicht klein gera­ten. Wäh­rend wir eine enge Trep­pe in den sechs­ten Stock hin­auf­stie­gen, dach­te ich an die­se Schu­he und auch dar­an, ob ich selbst in ihnen über­haupt lau­fen könn­te. Bald tra­ten wir durch eine schma­le Tür, hin­ter der sich ein Raum von uner­war­te­ter Grö­ße befand, ein Saal viel­mehr, mit einer hohen Decke und einem gut gepfleg­ten Boden von Holz, der nach Oran­gen duf­te­te. Lin­ker Hand öff­ne­te sich ein Fens­ter, das die gesam­te Brei­te des Rau­mes füll­te, mit einem groß­ar­ti­gen Aus­blick auf Chel­sea, auf Dach­gär­ten, Anten­nen und Satel­li­ten­wäl­der, ich glaub­te, vor einer Stadt ohne Stra­ßen zu ste­hen. Und da war nun die­ser alte Mann in sei­nem blau­en Haus­man­tel, der uns bat auf einem Sofa Platz zu neh­men, wel­ches das ein­zi­ge Möbel­stück gewe­sen war, das ich in dem Raum ent­de­cken konn­te. Ein paar Was­ser­fla­schen reih­ten sich an einer der Wän­de, die von Back­stein waren, von hel­lem Rot, und an die­sen Wän­den waren nun Papie­re, Foto­ko­pien von Buch­sei­ten genau­er, akku­rat anein­an­der gereiht, so dass sie die Wän­de des Saa­les bedeck­ten. Jose­phi­ne schien sehr berührt zu sein von die­sem Anblick. Sie saß mit durch­ge­drück­tem Rücken auf dem Sofa und bewun­der­te das Werk ihres Freun­des, der uns zu die­sem Zeit­punkt bereits ver­ges­sen zu haben schien. Er stand vor einer der Buch­sei­ten und las. Es han­del­te sich um ein Papier des 1. Band der Entde­ckungs­rei­sen nach Tahi­ti und in die Süd­see von Georg Fors­ter in eng­li­scher Über­set­zung. Und wie wir den alten Mann beob­ach­te­ten, erzähl­te mir Jose­phi­ne, dass er das mit jedem der Bücher machen wür­de, die er lesen wol­le, er wür­de sie ent­fal­ten, ihre Zei­chen­li­nie sicht­bar machen, er lese immer im Ste­hen, er sei ein Wan­de­rer. — stop

jose­phi­ne

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chelsea — warten auf schnee

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alpha : 7.21 — New York. Kla­rer Him­mel. Son­ne, die warm ist, eine süd­ita­lie­ni­sche Son­ne, aber der Wind kalt und unbe­re­chen­bar. 8th Ave­nue süd­wärts. Chel­sea. High Line. East Vil­la­ge. Auf den Stu­fen des Zen­tra­len Post­am­tes nahe Penn Sta­ti­on lun­ger­ten Men­schen wie Ech­sen bewe­gungs­los, Gesich­ter zum Stern. Jetzt schma­le Stra­ßen, Häu­ser von mensch­li­cher Grö­ße, Spiel­plät­ze vol­ler Kin­der, kaum Taxis zu sehen, Fahr­rä­der, aus­ge­raubt bis aufs Gerip­pe an bei­na­he jedem Later­nen­mast. Bald Nach­mit­tag, bald frü­her Abend. In Cafe­häu­sern Wär­me auf­ge­nom­men und in der Sub­way. Ich fah­re eine hal­be Stun­de Rich­tung Har­lem und wie­der zurück und gehe wei­ter, immer der Blick zum Him­mel, Spu­ren von Dach­gär­ten zu ver­zeich­nen. Notier­te: Nach Ful­tonstreet Lich­ter der Tun­nel­ar­bei­ter, Glüh­bir­nen­sträu­ße, der Ein­druck, als würd ich einen stei­ner­nen Christ­baum durch­fah­ren. Däm­me­rung, Ground Zero. An einer bron­ze­nen Gedenk­ta­fel mit Kleb­strei­fen befes­tigt, flat­tert ein Zet­tel wie zum Trotz im Wind mit Namens­zug und Foto­gra­fie eines jun­gen Man­nes, der nach 9/11 an den Dämp­fen des gif­ti­gen Schutt­ber­ges gestor­ben war. Mons­trö­se Bau­stel­le. Glei­ßen­de Hel­le. Ich war­te auf Schnee. – stop
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nebelhorn

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1.28 — Ges­tern Abend in der Däm­me­rung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gele­sen hat­te, auf dem Post­amt wür­de ein Paket auf mich war­ten. Ich ging also los mit mei­nem Regen­schirm, der sehr schö­ne Geräu­sche macht, wenn Was­ser aus gro­ßer Höhe auf ihn her­ab­fällt. Und weil es sehr win­dig war, muss­te ich den Schirm etwas schräg vor mich stel­len, wie einen Schild viel­leicht, des­halb habe ich von den Men­schen, die mir begeg­ne­ten nur Schu­he gese­hen oder Bei­ne in Strümp­fen oder Hosen oder flat­tern­de Män­tel. Sehr selt­sam die­ser exqui­si­te Blick auf die Werk­zeu­ge des Gehens, sehr selt­sam, wie schnell mensch­li­che Wesen sich doch bewe­gen. Bald war ich wie­der auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuch­te Schil­de, die sich mir ent­ge­gen stemm­ten, dar­un­ter Art­ge­nos­sen, geräusch­los. — Aber nun zu dem, was ich eigent­lich erzäh­len will. Auf mei­nem Schreib­tisch ruht seit sechs Stun­den ein fein gestal­te­tes Buch von rau­em, kräf­ti­gem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlan­tik reis­te, wes­we­gen es fünf Wochen unter­wegs gewe­sen war, in einem Con­tai­ner ver­mut­lich bei Wind und Wet­ter, also roll­te und übers Was­ser schlin­ger­te, auf und ab getra­gen von sehr hohen und klei­ne­ren Wel­len. Ich habe lan­ge Zeit auf die­ses Buch gewar­tet, eine sehr lan­ge Zeit. Als ich zu war­ten begann war noch Som­mer gewe­sen und jetzt ist schon Win­ter gewor­den. Nun end­lich liegt das klei­ne Buch, das von den Zwil­lin­gen Dai­sy und Vio­let Hil­ton erzählt, auf mei­nem Schreib­tisch oder in mei­ner Küche oder auf mei­nem Sofa oder auf mei­ner Brust, wenn ich trotz der Begeis­te­rung kurz ein­mal ein­ge­nickt sein soll­te. Da ist eine Bewe­gung im Halb­schlaf, ein kaum wahr­nehm­ba­res Schau­keln. Und da sind zwit­schern­de Mäd­chen­stim­men, und das Nebel­horn eines Damp­fers vor Brigh­ton. — stop

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