alpha : 22.03 — Aus der Luft, aus dem Nichts heraus, Gedanken, von Sekundenräumen her, die sich unmittelbar vor dem Zeitpunkt ihrer Wahrnehmung befinden. Ob es überhaupt möglich sein kann, einen Gedanken erfindend zu konstruieren? Das Wort S c h n e e b r i l l e in diesem Moment, vielleicht deshalb, weil ich vor Stunden notierte: Winterpendelfahrt auf Staten Island Ferry. stop. Oberes Deck. stop. Feste Schuhe. stop. Pennstation ab: 7.49 am. stop. Montauk an: 10.52 am. stop. Strandspaziergang. - stop
Aus der Wörtersammlung: schnee
PRÄPARIERSAAL : whiteout
nordpol : 22.28 – An einem Morgen, da es heftig schneite, erzählt Silja im Präpariersaal von einer Erscheinung, die bei ihr Zuhause, in Schweden auf dem Lande, zur alltäglichen Erfahrung werden kann. Wenn das Schneelicht unter Wolken den Horizont verbirgt, wenn der Ort, an dem man sich befindet, grenzenlos zu sein scheint: Das große Weiß. Auch im Präpariersaal, hell beleuchtet, habe sie immer wieder beobachtet, ihre eigene Position in Raum und Zeit für Momente zu verlieren: > Es ist so hell in diesem Saal, dass ich manchmal meine Position in Raum und Zeit für Sekunden zu verlieren scheine, Schneelicht, ein Licht, das ich von Schweden her kenne, das große Weiß, das den Horizont verbirgt. Ich präpariere an dem Körper einer Frau. Ich glaube, sie ist mir vertraut geworden. Wenn ich morgens zu ihr komme, habe ich den Eindruck, sie bereits lange Zeit zu kennen. Sie scheint sehr geduldig zu sein. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass diese tote Frau auf uns wartet. Ich hatte in den ersten Tagen des Präparierkurses die Vorstellung, sie würde uns zuhören oder schlafen und träumen. Und wir bewegen uns also behutsam, als wären wir sehr junge Eltern, die ein uraltes Kind behüten. Ist das nicht seltsam? Ich habe immer wieder die Empfindung von Ruhe, von Stille, von Schlaf. Ich überlegte, was wäre, wenn wir den Körper dieser alten Frau nicht untersuchen, nicht zerlegen würden, sondern nur sehr sorgfältig pflegen. Wir würden dann viele Jahre, Tag für Tag und Morgen für Morgen, in den Saal kommen und sie umsorgen, damit sie uns nicht zerfällt. Wir würden sie vor dem Licht der Sonne schützen, vor Pilzen, und wir würden sie befeuchten, wir würden sie davor bewahren, zu Staub zu werden. Irgendwann wäre sie dann jünger als wir selbst, ich meine, ihre Erscheinung. Ich finde manchmal sehr merkwürdig, dass ich so etwas denke. — stop
new york januar 1938
echo : 4.58 — 25 °C. Endlich wieder so weit, dass Falter durchs geöffnete Fenster kommen, Schatten an den Wänden, klimpernde Körper unter Lampionlampenschirmen. Wie sie bald still sitzen werden in der Dunkelheit des kommenden Tages. Großartige Stille, nur das Summen der Luft, alles schläft. An der Entdeckung der Basskäfer weitergearbeitet, anstatt durch Schnee zu wandern, Schnee war nicht möglich, Flocken, die vom Januarsturm senkrecht gegen das Fenster eines Zimmers peitschen, in dem ich gestern aufhörte gegen 5 Uhr in der Früh. Eigentlich hatte ich vor, in dieser Nacht mit Schneeschuhen an der Küste zu laufen, Benny Goodman im Ohr. Wie zum Teufel könnte es möglich werden, für ein paar Minuten nur, leibhaftig nach New York zurück in das Jahr 1938 zu gelangen, in ein Jahr, in dem ich selbst tatsächlich nicht einmal eine Idee gewesen war? — stop
ohren gebraten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : OHREN
In der vergangenen Nacht hab ich von Euch geträumt. Hört zu! Wir spazierten am Atlantik an einem frühen Abend in der Dämmerung. Schnee war gefallen. Eis schindelte in der Bucht vor Coney Island, ein verrücktes Geräusch, eines, das ich nicht beschreiben kann, vielleicht weil das Geräusch so flüchtig gewesen war, dass ich nichts festhalten konnte von seiner Substanz in meiner Erinnerung, obwohl uns das Geräusch über Stunden begleitete. Ihr hattet rote Stiefel an den Füßen und wart in Pelze gewickelt, viel zu groß, sodass man Euch kaum noch sehen konnte. Einmal wachte ich auf, sah mich im Zimmer um, schlief dann sofort weiter, weil ich Euere hellen Stimmen noch hören konnte. Ihr hattet Euch in der Nähe einer fahrbaren Bude in den Schnee gesetzt. Feuer flackerten in Fässern. Unweit lag ein Walfisch im Wasser ohne Haut. Über den Flammen schaukelten Pfannen, in welchen menschliche Ohrmuscheln in der Hitze sausten. Das Krachen, das Knistern des knusprigen Fleisches zwischen unseren Zähnen begleitete mich durch den vergangenen Tag, der ein Tag gewesen war, da ich bald stündlich die Gegenwart meiner Wachohren prüfte. Nie zuvor habe ich mir vorzustellen versucht, wie ich selbst oder meine Ohren, – nein, das ist schon eine ganz andere Geschichte, die ich Euch nur dann erzählen werde, wenn Ihr mir schreiben solltet, dass ihr sie unbedingt hören wollt. Euer Louis, gute Nacht!
gesendet am
27.05.2011
8.48 MESZ
1433 zeichen
eisfischer
echo : 3.28 — Ein Film, der von einer Reise nach Nordkorea erzählte. Dort für Stunden geblieben, in kuriosen Geschichten weiterer Filme, Geschichten, die von schneekalten Bibliotheken erzählten, von hungrigen Eisfischern, von Menschen, die ihre Reisen durchs Land zu Fuß unternehmen, nachts sollen die Städte Nordkoreas stockdunkel sein. Da waren, kurz nach Mitternacht meiner europäischen Zeit, drei Arbeiter, die an einem Flussufer sich mit Schaufeln in die Erde gruben. Gleich neben ihnen wartete eine Frau, die sich kaum bewegte, sie bewachte die grabenden Männer mit ihren Augen, wie andere Augenpaare Schnee räumende Menschenkolonnen beaufsichtigten, die eine Autobahn, auf der keine Autos fuhren, vom Tageseis befreiten. In einer Wohnung saß eine ältere Frau von äußerst freundlicher Erscheinung, die vom Gaskrieg erzählte, den die Amerikaner ins Land tragen könnten, und dass sie selbst dafür zuständig sei, sobald sie das Gas entdecken würde, Masken an ihre Nachbarn im Haus auszuteilen. Der große Führer. Das Land der Morgenstille. Dampflokomotiven werden mit Reifenresten beheizt. Unter der Hauptstadt Pjöngjang fahren Züge der Berliner Verkehrsbetriebe. In einer Vitrine im Museum im Inneren eines Berges, der Kopf eines Bären, den noch Ceausescu geschossen haben soll. — stop
kilimandscharo
ulysses : 5.05 – Folgendes: Ein Buch für Bergsteiger sollte von leichtem Wesen sein, sagen wir, leicht wie eine Handvoll Federn müsste es sein, damit man das leichte Buch im Gepäck nicht bemerkt, wenn man aufwärts oder abwärts schreitet. Janet Frames Roman An Angel at My Table in der Ausgabe für Himmelsstürmer, wöge gerade noch 12 oder 15 Gramm und würde im Falle höchster Not, gleichwohl zur Nahrung dienen, jeder Bissen so wirkungsvoll im hungrigen Bauch wie ein gebratener Entenvogel oder eine Staude feinster Bananen. Auch ist wünschenswert zu dieser späten Stunde der Nacht, dass das Buch, zur Entfaltung gebracht, sich als winddichtes Zelt erweisen könnte, oder als Fallschirm zur rechten Zeit. In einer Schneehöhle geborgen, wenn Eisstürme näherkommen, würde man lesen im Buch, auch das ist denkbar, lesen zum Beispiel, um Ruhe zu bewahren, Seite um Seite könnte man vorwärts oder rückwärts fabulieren und alles nach und nach verspeisen, bis man gerettet oder das Wetter angenehmer geworden sein wird. — stop / für h.d.
malta : eine scheeweiße frau
tango : 10.18 – Kurz nach 10 Uhr morgens sind heute ein paar seltsame Dinge geschehen. Ich saß auf einem schmalen Balkon in angenehmster Luft und hörte dem bezaubernden Gesang eines nicht sichtbaren Vogels zu. Eine Fähre, vielleicht von Sizilien her, kreuzte indessen den Ausschnitt des Meeres, den ich von meinem Stuhl aus wahrnehmen konnte. Sobald sie verschwunden gewesen war, öffnete ich die Times vom Vortag und las, dass noch immer nicht bekannt geworden sei, wo der chinesische Künstler Ai Weiwei gefangen gehalten wird. In Japan versuchte man weiterhin unter höchster Gefahr in verseuchtem Gebiet, Opfer des Tsunami zu bergen. In diesem Moment öffnete sich ein Fenster jenseits der Straße, eine Frau, deren Gesicht schneeweiß gewesen war, starrte mich für einige Sekunden an. Das war ein merkwürdiger Blick, ein Blick, als ob sie mich in diesen Sekunden mit ihren Augen fotografieren würde. Bald zog sie ihren Kopf wieder zurück in den Schatten des Raumes, um kurz darauf wiederzukehren, mit einem Korb in der Hand, der an einer Schnur befestigt war. Sie seilte den Korb zur Straße hin ab, sah mich in dieser Bewegung wieder fotografierend an, beobachtete demzufolge, wie ich ihrem Korb mit den Augen folgte. Vor dem Haus weit unter uns wartete ein Briefträger. Der junge Mann entnahm dem Korb ein Schriftstück und legte stattdessen eine Flasche hinein. Unverzüglich holte die Frau den Korb wieder zu sich nach oben. Kräftige Bewegungen ihrer dürren Arme. Auch ihre Arme waren so strahlend weiß, dass ich den Eindruck hatte, sie wären aus Licht gemacht oder von der Einsamkeit des Zimmers. — stop
alesund
romeo : 22.58 — Plötzlich bin ich in Alesund am Meer. Meine Arme liegen traumwärts auf einem Tisch von Holz. Bäume wachsen auf ihrer Haut, Regenwälder, dicht. Wenn ich mich mit einem Ohr nähere, hör ich das Brüllen der Affen, das Singen der Vögel. Blaues, ewiges Licht. Die Erde steht still. Ein schneeweißes Schiff gleitet geräuschlos am Pier vorüber. Eisberge schaukeln am Horizont. Wenn ich sie betrachte, schlafe ich auf der Stelle ein. — stop
luftpostbrief
lima : 0.55 — Manchmal sitze ich im Zug und fotografiere mit meinem Kopf. Ich betrachte eine Frau, einen Mann, ein Kind für zwei oder drei Sekunden, und versuche mir bereits in der nächsten Minute ein Lichtbild in Erinnerung zu rufen. Ich denke: blauer Schal, Hände, feine Hände, Augen blau, Augen müde, Augen glücklich, blau und müde, Turnschuhe, gelbe Turnschuhe, Zeitung, was für eine Zeitung, Haarfarbe, Schneehaut, Mund, lächelnder Mund, hörte eine fremde Sprache, was für eine Sprache könnte das gewesen sein? Ich sitze also mit einem Bild in meinem Kopf im Zug und lausche einer Stimme. Das Bild spricht. Das Bild lebt weiter. In jedem Bild, das in einem Zug aufgenommen wird, findet sich Bewegung, jene Stimmbewegung vielleicht, oder bereits die Bewegung der Erfindung. Weshalb waren die Augen müde und ihr Ausdruck glücklich? Eine Liebesgeschichte? Oder war es die Zeitung? Ja, was war das noch für eine Zeitung? Vielleicht ein Irrtum, vielleicht war die Zeitung keine Zeitung, sondern ein Brief gewesen, ein lang erwarteter Brief, ein Brief, liebevoll von Hand geschrieben, ein Luftpostbrief, leicht, sehr leicht, ein Brief, noch kühl vom Flug. stop. Das Geräusch des Papiers. stop. Knisternd. stop. Aufstehen! stop. Den Zug verlassen! stop. Mit geschlossenen Augen. — stop
interview tahrir square februar 2011 kurz vor ausbruch staatlicher gewalt gegen aktivisten/innen auf dem platz source : zero silence project
kairobildschirm
echo : 5.38 — Ich erinnere mich, dass ich im Schlaf zu mir sagte: Das will ich nicht weiter träumen. Unverzüglich wurde ich wach. – Schnee ist gefallen, ein weißes Tuch liegt auf den Bürgersteigen. Das Kairofenster flimmert seit bald vierzehn Stunden auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine. Kamelreiter prügeln auf Demonstrierende ein, Steine fliegen durch die Luft, Kühlschränke von Hausdächern, um Menschen zu töten. Mit der Dämmerung kommen Barrikaden, Ölfeuerflaschen, taumeln hin und her, brennende Autos, der hellgraue Rauch der Panzermotoren, die Stimmen der Kommentatoren, die Zahlen verletzter und getöteter Menschen melden. Auf dem Platz der Befreiung wird nach Steinen gegraben. Millimeter hohe Menschenfiguren schleifen liegende Millimeter hohe Menschenfiguren über den Boden. Reine Mordlust scheint ausgebrochen zu sein. – Es ist jetzt 5 Uhr und 30 Minuten. Seit drei Stunden wird scharf geschossen. Niemand weiß, woher die Schüsse kommen. Eine junge Frau, 24, die sich auf dem Platz befindet, erzählt weinend von Menschen, die soeben getötet wurden. Wie das möglich sein könne, dass die Welt nicht eingreife, dass keine Hilfe komme. We will not leaving this place. Sie nennt ihren Namen. — stop