Aus der Wörtersammlung: treppe

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esmeralda

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tan­go : 22.08 — Vor zwei Tagen, spä­ter Nach­mit­tag, über­reich­te mir ein schwer atmen­der Bote ein Päck­chen, auf des­sen Anschrif­ten­sei­te mit wuch­ti­gen Druck­buch­sta­ben eine Anwei­sung notiert wor­den war: Do not shake! Der jun­ge Mann, viel­leicht um mich zu war­nen, deu­te­te auf die Schach­tel in sei­ner Hand und sag­te: Ich rie­che, dass in die­sem Päck­chen etwas lebt! Und schon war er wie­der auf der Trep­pe ver­schwun­den. Tat­säch­lich han­del­te es sich bei dem Päck­chen um einen Lebend­trans­port, der in der ita­lie­ni­schen Hafen­stadt Tala­mo­ne auf­ge­ge­ben wor­den war. Eine Schne­cke hock­te in einer per­fo­rier­ten Schach­tel geduckt unter wel­ken Blät­tern. Als ich das klei­ne Tier vor­sich­tig auf einen Tel­ler setz­te, mach­te es zunächst einen sehr müden, erschöpf­ten Ein­druck. Sein Haus schien bald vom Kör­per zu rut­schen, auch wur­de kei­ner­lei Flucht­ver­such unter­nom­men, statt­des­sen saß die Schne­cke nahe­zu ohne Bewe­gung und schau­te mich an. Selbst, als ich mich mit einem Fin­ger näher­te, zog sie sich nicht in ihr Kalk­ge­win­de zurück. Eine hal­be Stun­de lang betrach­te­ten wir uns gedul­dig. Dann war spä­ter Abend gewor­den, ich hat­te mehr­fach tele­fo­niert, der Schne­cke ein Apfel­stück­chen ange­bo­ten, das Pack­pa­pier, in wel­ches die Sen­dung ein­ge­schla­gen gewe­sen war, auf der Suche nach einer Bot­schaft oder einem Absen­der, ein­ge­hend unter­sucht, und war dann kurz spa­zie­ren gegan­gen. Indes­sen hat­te sich die Schne­cke in Rich­tung der Süd­wand mei­ner Küche in Bewe­gung gesetzt, war von dort aus, eine schim­mern­de Spur hin­ter­las­send, wei­ter zur Die­le hin gewan­dert, erreich­te dort den Boden, um eine hal­be Stun­de spä­ter mein Arbeits­zim­mer zu betre­ten. Der­art lei­se war die Schne­cke wei­ter­ge­zo­gen, dass ich sie bei­na­he ver­ges­sen hät­te. Dann war Sams­tag, der Sams­tag ver­ging, zwei wei­te­re Stück­chen Apfel, und es wur­de Sonn­tag und wie­der Abend und es begann zu reg­nen. In die­sem Moment sitzt die Schne­cke einen hal­ben Meter hoch über dem Fuß­bo­den an der Wand mei­nes Wohn­zim­mers. Sie scheint zu schla­fen. Wie­der­um ist sie nicht in ihrem Häus­chen ver­schwun­den, was höchst merk­wür­dig ist. — stop

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polaroidanemonen

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hände

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alpha : 3.12 — Ein jun­ger Mann erklärt, was zu tun ist, damit ich unter Men­schen, also unter sei­nen Freun­den, nicht unan­ge­nehm auf­fal­len wer­de. Er sag­te: Wenn ich Dich mit­neh­me ins Vier­tel, hältst Du am bes­ten den Mund. Coo­le Män­ner spre­chen wenig, und wenn sie ein­mal spre­chen, dann ver­wen­den sie Wör­ter so spar­sam wie mög­lich! — Der jun­ge Mann, von dem hier die Rede ist, ver­brach­te sei­ne frü­he Kind­heit in Marok­ko. Da, wo ich zu Hau­se war, das ist ein Dorf oder eine klei­ne Stadt am Ran­de des Atlas­ge­bir­ges, die er jedes Jahr im Herbst besucht. Sei­ne Ver­wand­ten leben dort seit Jahr­hun­der­ten. Er zeig­te mir eine Foto­gra­fie, deu­te­te auf ein Haus von rot erdi­ger Far­be: Das ist das Haus mei­ner Geburt. Im Hin­ter­grund waren schrof­fe, baum­lo­se Ber­ge zu erken­nen, das Dorf selbst ruh­te gebor­gen in einem Kranz saf­ti­ger Wäl­der, Pal­men, Dat­teln, Fei­gen, Zypres­sen, Oran­gen, Zitro­nen. Der jun­ge Mann erklär­te, das Was­ser, das die­se schö­ne grü­ne Far­be mache, ent­kom­me ste­tig den stei­ner­nen Hügeln nahe der Häu­ser, die eigent­li­che Tür­me sei­en, stei­le, enge Trep­pen führ­ten in Zim­mer, wel­che nach oben hin schma­ler und schma­ler wür­den. Ich bin Afri­ka­ner, setz­te er hin­zu, mit Leib und See­le, eigent­lich bin ich mit Leu­ten wie Dir nicht bekannt, aber nun, da wir uns schon ein­mal begeg­net sind! Wenn ich Dich mit­neh­me, hältst also am bes­ten den Mund. Sie wer­den Dich begrü­ßen, weil sie freund­lich sind. Dann hebst Du die rech­te Hand bis in Höhe der Schul­ter, Du öff­nest Dei­ne Hand und sie wer­den ein­schla­gen, sie wer­den Dei­ne Hand fest drü­cken und das wird weh­tun, aber Du wirst Dir nichts anmer­ken las­sen. Nach eini­ger Zeit, Du hast nicht gespro­chen, son­dern nur zuge­hört, wer­den sie Dich mögen, weil Du cool bist. Zum Abschied machst Du eine Faust. Mit dem Rücken Dei­ner Faust berührst den Rücken der Fäus­te, die sich Dir ent­ge­gen­stre­cken, dann hast Du alles rich­tig gemacht, das mit den Hän­den ist not­wen­dig, und alles ist gut, und Du weißt ein wenig mehr als vor­her. — stop
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von eisbriefboten

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nord­pol : 6.33 — Ein Eis­brief­bo­te war­te­te ges­tern, es war ein Diens­tag, vor mei­ner Woh­nungs­tü­re im 22. Stock. Der Mann trug blaue Turn­schu­he der Mar­ke Nike, kur­ze, hel­le Hosen und ein wei­ßes Hemd, das viel zu groß gewe­sen war für sei­nen schmäch­ti­gen Kör­per. Er schwitz­te, weil er die Trep­pe neh­men muss­te, da in mei­nem Haus kei­ner­lei Auf­zug exis­tiert, wes­halb das Haus nicht sehr beliebt ist bei Gäs­ten und Boten. Meis­tens bie­te ich den hart arbei­ten­den Män­nern über die Funk­sprech­an­la­ge an, ihnen ent­ge­gen­zu­kom­men. Ich sage: Tref­fen wir uns im 11. Stock in 10 Minu­ten! Ges­tern aber war ich sehr müde gewe­sen. Ich trank einen Kaf­fee, tele­fo­nier­te mit einer Behör­de, und war­te­te dann still in aller Ruhe, bis der Mann bei mir oben unter dem Dach ange­kom­men war. Es sind die­se ers­ten Bli­cke, die ich nie ver­ges­se. Der erschöpf­te Bote öff­ne­te sei­ne Kühl­ta­sche und über­reich­te mir einen wei­te­ren eis­ge­kühl­ten wei­chen Behäl­ter, in wel­chem sich nun unmit­tel­bar ein Brief von Eis befand, den ich zunächst in mei­nen Gefrier­schrank zu wei­te­ren Eis­brie­fen und Eis­bü­chern leg­te. Kurz dar­auf setz­te ich mich ins Trep­pen­haus und hör­te dem jun­gen Mann bei sei­nem Abstieg zu. Er war sehr schnell unter­wegs gewe­sen, er schien zu flie­gen, stürz­te im fünf­ten oder sechs­ten Stock, Minu­ten lang war kein Laut zu hören, dann das Wim­mern einer Ambu­lanz. Da saß ich längst in mei­ner Küche und las, was mir ein Freund notier­te, wie er schrieb, mit gro­ßer Freu­de auf dem ver­gäng­lichs­ten Mate­ri­al, das ihm zur Ver­fü­gung ste­he: Lie­ber Lou­is, die­ser Brief ist geheim. Er wird sich auf­lö­sen, sobald oder bevor Du ihn gele­sen haben wirst. Du musst Dich also beei­len oder den Brief immer wie­der ein­mal in den Kühl­schrank zurück­le­gen oder ihn foto­gra­fie­ren, ehe er geschmol­zen sein wird. Sei behut­sam, mein Lie­ber. Lies bit­te nicht an Tagen, da es warm ist in Dei­ner Woh­nung unter dem Dach, es könn­te sein, dass Du in schwü­ler Luft nicht schnell genug lesen kannst. Ich ver­mu­te, ich habe die Wör­ter an die­ser Stel­le bereits ver­geb­lich geschrie­ben. Dein K. – stop
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3 uhr

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echo : 3.57 — Wäh­rend der Nacht lan­ge sit­zen. Nichts tun. Nur atmen. Gegen drei Uhr Abstieg zur Stra­ße. Die Trep­pe knarrt bei jedem Schritt vor Türen, hin­ter wel­chen Men­schen schla­fen. Auf der Stra­ße ein leich­ter Wind. Es ist kühl gewor­den. In den Bäu­men Geräu­sche, lei­se, lei­se, als wür­den die Vögel mur­meln im Schlaf. Es ist aber des­halb, weil es nie wirk­lich dun­kel wird in der Stadt. Stun­den­lang kann man sich über das Nahen des Mor­gens strei­ten. Wie ich zurück­kom­me, Licht weit oben, vier Fens­ter, beleuch­tet, alle wei­te­ren Fens­ter sind dun­kel. Der Blick auf ein Haus, in dem ein Nacht­mensch wohnt. Plötz­lich bin ich wie­der bei mir, tre­te in Zim­mer, die vor Kur­zem noch ohne mich gewe­sen sind. Mein Heft auf dem Tisch. Ich notie­re: Es ist sinn­voll, Süss­was­ser­kie­men­men­schen von Salz­was­ser­kie­men­men­schen zu unter­schei­den. Ich muss den Satz nicht begrün­den. Noch Dun­kel. — stop
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handtasche rot

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sier­ra : 6.35 — Im Haus, in dem ich manch­mal woh­ne, exis­tier­te vor lan­ger Zeit eine alte Frau. Sie war so alt gewor­den, dass sie von Näch­ten erzäh­len konn­te, die sie im Kel­ler des­sel­ben Hau­ses ver­bracht hat­te, weil Bom­ben vom Him­mel fie­len. Damals, als der Krieg ende­te, muss sie eine jun­ge Frau gewe­sen sein, sie hei­ra­te­te, gebar fünf Kin­der, wur­de geschie­den. Ihr Mann und ihre Kin­der waren längst gestor­ben, bis auf einen Sohn, der in ihrem Leben zuletzt kaum noch eine Rol­le spiel­te, ihr ein­zi­ger Enkel hat­te sie aus­ge­raubt, sie war eine wirk­li­che ein­sa­me Per­son. Jedes Jahr zu Sil­ves­ter stell­te sie klei­ne Mar­mor­ku­chen vor die Woh­nungs­tü­ren ihrer Nach­barn wie zur Erin­ne­rung, dass sie noch leb­te. Ich erin­ne­re mich gut, der Kuchen schmeck­te nach Nel­ken. Weni­ge Mona­te vor ihrem Tod kauf­te sie noch drei Kat­zen und ver­ur­sach­te einen Was­ser­scha­den. Von die­sem Zeit­punkt an wur­de offen über ihren Geis­tes­zu­stand gespro­chen, man fürch­te­te, mit der alten Frau in die Luft zu flie­gen, weil sie mit Gas koch­te und mit Koh­len heiz­te. Noch heu­te scheint der Kel­ler nach der alten Frau zu rie­chen, nach Öl und nach Eier­bri­ketts. Ges­tern nun habe ich mich wie­der ein­mal an die alte Frau erin­nert. Ich war bei einem jun­gen Mann ein­ge­la­den, in des­sen Wohn­zim­mer auf einem Gestell von Holz eine schwe­re Stahl­tür ruh­te. Die­se Tür hat­te sich bis vor Kur­zem noch im Kel­ler auf­ge­hal­ten. Es war die Tür zum Luft­schutz­bun­ker. In der Mit­te der Tür befand sich ein Spi­on von gepan­zer­tem Glas, ein win­zi­ges Auge, durch das die Frau, von der ich erzähl­te, als Mäd­chen noch gese­hen haben könn­te. Immer wie­der an die­sem Abend betrach­te­te ich jenes selt­sa­me Auge in der Tür, das gegen die Zim­mer­de­cke schau­te. – Sams­tag, kurz nach 3 Uhr. Es reg­net, die Luft ist hell vom Was­ser. Gera­de eben habe ich nach einem Text gesucht, den ich notier­te an dem Tag als die alte Frau gestor­ben war. Der Text ging so: Die alte Frau mit der roten Hand­ta­sche ist tot. Wäh­rend des Tages irgend­wann muss sie im Hos­pi­tal gestor­ben sein. Jetzt, es ist ohne sie wie­der Abend gewor­den, ver­lässt ihr Fern­seh­ge­rät das Haus. Ein Hin und Her auf der Stra­ße, noch nie gese­he­ne, tief flie­gen­de Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampf­ge­räu­sche, auch zar­tes Geze­ter, Ver­wün­schun­gen, Emp­feh­lun­gen, hei­se­re Stim­men. Der Sohn ist da und der Sohn des Soh­nes, betrun­ken steht der blut­jun­ge Gei­er auf der Stra­ße her­um und regelt den Ver­kehr. Woh­nungs­auf­lö­sung. Nun, zu vor­ge­rück­ter Stun­de, hat sich mir das Wort erschlos­sen. Ein Pro­zess der Entro­pie, der Ver­wer­tung, des Ver­schwin­dens. Ich sehe die Ver­schwun­de­ne, eine 89-jäh­ri­ge Frau in bun­ter Klei­dung, Steh­lam­pe in der Hand, das Haus ver­las­sen. Unlängst noch war sie unter­wegs gewe­sen. Sie hat­te bereits den Gang der Hoch­see­ma­tro­sen. Manch­mal ras­te­te sie im Schat­ten der Bäu­me. Sie ging spa­zie­ren, als mel­de sie sich an, Tag für Tag, und zurück. Nie­mand weiß genau wie lan­ge sie in der Gegend, die­sem Haus, die­ser Woh­nung leb­te, sie war schon da als Bom­ben fie­len, und noch immer, bis ges­tern, stolz, ein­sam und zu lang­sam für die rasen­de Stadt. Jawohl, sie war stolz gewe­sen, ließ sich nicht hel­fen, nie­mand durf­te ihr Milch oder den Sand für ihre Tie­re durch das Trep­pen­haus in die Woh­nung tra­gen. Manch­mal heul­te das Fern­seh­ge­rät durch die Wand. Jetzt ist es vor­bei, jetzt wer­den Mon­teu­re und Maler kom­men. Es ist vor­bei, auch für die Kat­zen. — stop

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lissabon

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sier­ra : 6.52 — Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zim­mer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Pro­gramm­fens­ter geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungs­los in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Pro­gramm­fens­ter öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­ni­en dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­gra­fie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schu­he. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schu­he. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­gra­fen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­gra­fie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zim­mer her, dass das Mit­tag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vor­mit­ta­ges geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss auf­ge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­che­ren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Pro­gramm­fens­ter nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu ent­de­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vor­der­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst ein­ge­schla­fen. — stop

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nachtameise

14

alpha

~ : sam
to : Mr. louis
sub­ject : WANDERAMEISE

Mein lie­ber Freund Lou­is, es gibt Neu­es zu berich­ten. Ich bin näm­lich umge­zo­gen, von einer Woh­nung in eine ande­re Woh­nung, bei­de befin­den sich in dem­sel­ben Haus. Jah­re­lang, wie Du weißt, leb­te ich im 3. Stock, jetzt schaue ich vom 25. Stock­werk auf die Stra­ße hin­un­ter. Die Men­schen sind noch klei­ner gewor­den, ihre Stim­men nicht län­ger zu hören. Ich woh­ne unter dem Dach. Manch­mal lie­ge ich rück­lings auf dem Boden und den­ke, dass es hier ganz wun­der­bar ist, weil ich nie wie­der von Schrit­ten geweckt wer­de, wenn ich schla­fe. Natür­lich ist der Auf­stieg beschwer­lich, kein Lift nach wie vor, aber die Luft scheint hell zu sein, auch nachts, weil sie so gut riecht, nach See­luft, ja, nach See­luft. Vor weni­gen Stun­den öff­ne­te ich das Fens­ter nach Süden hin und füt­ter­te Möwen mit Brot, seit­her umkrei­sen sie lau­ernd das Haus. Die Woh­nung neben­an scheint leer zu ste­hen, von unten ist lei­se Kla­vier­mu­sik zu hören, nichts wei­ter. Es ist über­haupt sehr still hier oben. Wäh­rend ich nachts, eine Wan­der­amei­se, mei­ne Bücher und Papie­re nach oben schlepp­te, war ich kei­ner Men­schen­see­le begeg­net. Aber ich hör­te Stim­men, nicht von den Türen, von irgend­wo her, als wären Men­schen in den Stu­fen, dem Holz des Trep­pen­ge­län­ders, den Wän­den des alten Hau­ses gefan­gen. In den höhe­ren Stock­wer­ken befin­den sich Brief­käs­ten mit schwe­ren, eiser­nen Deckeln, in wel­che man Bot­schaf­ten abwer­fen kann. Natür­lich bin ich nicht sicher, ob sie noch funk­tio­nie­ren. Ich habe zur Pro­be eine Nach­richt fol­gen­den Inhal­tes an mich selbst abge­schickt: Etwas Selt­sa­mes ist gesche­hen. Bin ges­tern Abend ein­ge­schla­fen, obwohl ich in einem äußerst span­nen­den Buch geblät­tert hat­te. Viel­leicht war’s die schwe­re, war­me Luft oder eine schlaf­lo­se Nacht der ver­gan­ge­nen Jah­re, die rasch noch nach­ge­holt wer­den muss­te. So oder so schlum­mer­te ich eine Stun­de tief und fest im Gras und wäre ver­mut­lich bis zum frü­hen Mor­gen hin in die­ser Wei­se anwe­send und abwe­send zur glei­chen Zeit auf dem Boden gele­gen, wenn ich nicht sanft von einer nacht­wan­deln­den Amei­se geweckt wor­den wäre. Kaum hat­te ich die Augen geöff­net, war ich schon mit einer Fra­ge beschäf­tigt, die ich erst weni­ge Stun­den zuvor ent­deckt hat­te, mit der Fra­ge näm­lich, wie Tief­see­ele­fan­ten hören, was sie mit­ein­an­der spre­chen, da doch die Sprech­ge­räu­sche ihrer Rüs­sel sehr weit von ihren Ohren ent­fernt jen­seits der Was­ser­ober­flä­che zur Welt kom­men und rasch in alle Him­mels­rich­tun­gen ver­schwin­den. Eine dif­fi­zi­le Fra­ge, eine Fra­ge, auf die ich bis­her viel­leicht des­halb kei­ne Ant­wort gefun­den habe, weil ich eine Ant­wort nur im Schlaf fin­den kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Dein Sam. Guten Mor­gen! — stop

gesen­det am
17.03.2013
8.15 pm
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polaroidmusiker

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wenedikt jerofejew : die reise nach petuschki

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sier­ra : 22.01 – Unter den Büchern, die bei mir woh­nen, fin­det sich eines, das von einem gro­ßen rus­si­schen Erzäh­ler geschrie­ben wur­de, von Wene­dikt Jero­fe­jew, der nicht mehr unter uns Leben­den weilt, Alko­hol hat ihn umge­bracht oder er sich selbst oder wie auch immer. Sein Buch berich­tet die Rei­se eines Trin­kers vom Kurs­ker Bahn­hof zu Mos­kau nach Petusch­ki, einem rus­si­schen Städt­chen drau­ßen in der Wei­te. Eine Höl­len­fahrt, ein Buch, das ich nie­mals auf­ge­ben wer­de, ein Gespräch mit Engeln: War­um hast Du alles aus­ge­trun­ken, Wen­ja! – Von Zeit zu Zeit trag ich das Bänd­chen in mei­nen Hän­den, schau hin­ein, lese Wör­ter und Sät­ze, aber ich habe die Geschich­te nie bis zu ihrem letz­ten Satz gele­sen, kann nicht genau sagen, war­um das so ist. Viel­leicht wün­sche ich ins­ge­heim, dass das Buch kein Ende fin­den möge. Es ist kein umfang­rei­ches Buch, nein, nein, 170 Sei­ten, und sein Rücken zer­schlis­sen, sodass ich manch­mal näher­tre­ten und nach ihm suchen muss. Gele­gent­lich, als Wene­dikt Jero­fe­jew noch unter uns war, hat­te ich mir vor­ge­stellt, wie ich ihn ein­mal besu­chen wür­de, wie ich vor sei­nem höl­zer­nen Haus auf einer Trep­pe sit­zend war­te, wie er auf mich zukommt, wie ich sei­ne Hand neh­me, wie ich das zit­tern­de Feu­er sei­ner Lebens­höl­le spü­re, wie ich zu ihm sage: Wen­ja, mein lie­ber Wen­ja, lies mir vor! Und wie wir dann auf einer Trep­pe in der Son­ne sit­zen, Flie­gen tan­zen über unse­ren Köp­fen, sei­ne Stim­me: Lou­is, hör zu! – Alle sagen, – der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein ein­zi­ges Mal gese­hen. Wie vie­le Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brum­men­dem Schä­del Mos­kau durch­quert, von Nor­den nach Süden, von Wes­ten nach Osten, aufs Gera­te­wohl, von einem Ende zum ande­ren, aber den Kreml habe ich kein ein­zi­ges Mal gese­hen. — stop

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josephine besucht chelsea

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ulys­ses : 15.07 — Ich erin­ne­re mich an einen Tag im Mai des Jah­res 2010, als Jose­phi­ne und ich durch den Cen­tral Park spa­zier­ten. Es war ein war­mer Tag gewe­sen, ein Tag, an dem Wasch­bä­ren ihre Ver­ste­cke im Unter­holz flüch­te­ten, um den Som­mer zu begrü­ßen. Nie zuvor hat­te ich Wasch­bä­ren per­sön­lich gese­hen, und auch an die­sem Tag hat­te ich kaum Zeit, sie zu beob­ach­ten, weil die betag­te Dame an mei­ner Sei­te süd­wärts dräng­te. Gut gelaunt schien sie ihr Alter nicht im min­des­ten zu spü­ren, und so folg­ten wir der 8th Ave­nue Rich­tung South Fer­ry, pas­sier­ten die Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on, das zen­tra­le Post­amt und die Penn Sta­ti­on, um nahe dem Joy­ce-Thea­ter in die 18th Stra­ße ein­zu­bie­gen. Bei­na­he zwei Stun­den waren wir bis dort­hin unter­wegs gewe­sen, es däm­mer­te bereits. Vor dem Haus 264 West blieb Jose­phi­ne ste­hen. Sie hol­te ihr Tele­fon aus der Hand­ta­sche und mel­de­te mit lau­ter Stim­me, dass sie bereits unten vor dem Haus ste­hen wür­de und abge­holt zu wer­den wün­sche! Ein Herr, in etwa dem­sel­ben Alter, in dem sich Jose­phi­ne befand, öff­ne­te uns kurz dar­auf die Tür. Er war mit einem Haus­man­tel beklei­det, der in einem tie­fen Blau leuch­te­te, hat­te kei­ner­lei Haar auf dem Kopf und trug Turn­schu­he. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich wun­der­te über sei­ne gro­ßen Füße, denn der Mann, den mir Jose­phi­ne mit dem Namen Valen­tin vor­stell­te, war eher zier­lich, wenn nicht klein gera­ten. Wäh­rend wir eine enge Trep­pe in den sechs­ten Stock hin­auf­stie­gen, dach­te ich an die­se Schu­he und auch dar­an, ob ich selbst in ihnen über­haupt lau­fen könn­te. Bald tra­ten wir durch eine schma­le Tür, hin­ter der sich ein Raum von uner­war­te­ter Grö­ße befand, ein Saal viel­mehr, mit einer hohen Decke und einem gut gepfleg­ten Boden von Holz, der nach Oran­gen duf­te­te. Lin­ker Hand öff­ne­te sich ein Fens­ter, das die gesam­te Brei­te des Rau­mes füll­te, mit einem groß­ar­ti­gen Aus­blick auf Chel­sea, auf Dach­gär­ten, Anten­nen und Satel­li­ten­wäl­der, ich glaub­te, vor einer Stadt ohne Stra­ßen zu ste­hen. Und da war nun die­ser alte Mann in sei­nem blau­en Haus­man­tel, der uns bat, auf einem Sofa Platz zu neh­men, wel­ches das ein­zi­ge Möbel­stück gewe­sen war, das ich in dem Raum ent­de­cken konn­te. Ein paar Was­ser­fla­schen reih­ten sich an einer der Wän­de, die von Back­stein waren, von hel­lem Rot, und an die­sen Wän­den waren nun Papie­re, Foto­ko­pien von Buch­sei­ten, genau­er, akku­rat anein­an­der gereiht, sodass sie die Wän­de des Saa­les bedeck­ten. Jose­phi­ne schien sehr berührt zu sein von die­sem Anblick. Sie saß mit durch­ge­drück­tem Rücken auf dem Sofa und bewun­der­te das Werk ihres Freun­des, der uns zu die­sem Zeit­punkt bereits ver­ges­sen zu haben schien. Er stand vor einer der Buch­sei­ten und las. Es han­del­te sich um ein Papier des 1. Band der Entde­ckungs­rei­sen nach Tahi­ti und in die Süd­see von Georg Fors­ter in eng­li­scher Über­set­zung. Und wie wir den alten Mann beob­ach­te­ten, erzähl­te mir Jose­phi­ne, dass er das mit jedem der Bücher machen wür­de, die er lesen wol­le, er wür­de sie ent­fal­ten, ihre Zei­chen­li­nie sicht­bar machen, er lese immer im Ste­hen, er sei ein Wan­de­rer. — stop

jose­phi­ne

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schildkröte

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nord­pol : 6.55 — Ich hör­te eine Geschich­te, die von einer Frau und einem Haus erzählt, das sich in einer alten nord­grie­chi­schen Stadt befin­det. Es ist ein statt­li­ches, stei­ner­nes Haus, die Böden des Hau­ses sind von Holz wie die Trep­pen und Türen. Ein hoch­be­tag­ter Oli­ven­baum steht unweit des Hau­ses. Manch­mal sit­zen dort Sper­lin­ge und pfei­fen. Im Win­ter kann man Wöl­fe hören, wenn man die Fens­ter des Hau­ses öff­net. Gele­gent­lich kom­men Schlan­gen zu Besuch und Eidech­sen und Amei­sen und Schild­krö­ten, ja, es gibt sehr vie­le Schild­krö­ten im Gar­ten des Hau­ses, aber nicht im Win­ter, in kei­nem Win­ter, soweit Men­schen zurück­den­ken kön­nen, hat irgend­je­mand Schild­krö­ten in der Nähe des Hau­ses, im Gar­ten oder in der Stadt gese­hen. In dem stei­ner­nen Haus also wohnt eine Frau. Sie wohnt seit weni­gen Wochen allein, weil ihre Mut­ter gestor­ben ist. Über zehn Jah­re lag die uralte Mut­ter in ihrem Bett und wur­de von ihrer Toch­ter, die gleich­wohl eine älte­re Frau ist, gepflegt. Das ist so üblich in Grie­chen­land, dass sich die jün­ge­ren um die älte­ren Men­schen küm­mern, auch wenn sie selbst schon alte Men­schen gewor­den sind. Als nun die Mut­ter der alten Frau starb, war es plötz­lich sehr still im Haus. Es war so still, dass die Frau glaub­te, ihre Mut­ter noch zu hören. Nachts ver­nahm sie den Wind, aber der Wind war drau­ßen gewe­sen hin­ter den Fens­tern, und sie hör­te das Dach, wie es flüs­ter­te. Manch­mal schloss die alte Frau ihre Augen in der Dun­kel­heit und schlief ein. Es war immer das­sel­be, sie hör­te im Schlaf die Stim­me ihrer Mut­ter, wie sie nach ihr rief, und ihr Atmen und wie ein Glas zu Boden stürz­te und wie die Bett­de­cke gewen­det wur­de. Davon wur­de sie immer­zu wach, und sie hör­te schar­ren­de Geräu­sche von der Trep­pe her, und wie­der den Wind. Das ging Wochen so, kaum eine Nacht konn­te die alte Frau schla­fen, weil sie mein­te, ihre Mut­ter zu hören. Ein­mal vor weni­gen Tagen, nach­dem sie wie­der ein­mal wach gewor­den war, ver­ließ die alte Frau nachts ihr Bett. Sie stieg die Trep­pe hin­ab in die Küche. Wie sie das Licht anschal­te­te, sah sie inmit­ten der Küche eine klei­ne, jun­ge Schild­krö­te sit­zen. Ges­tern erst soll Schnee gefal­len sein. — stop

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