alpha : 2.58 — Ich beobachtete einen jungen Mann, der lange Zeit neben einer Ampel vor einer Kreuzung stand, eine vornehme und zugleich merkwürdige Erscheinung. Der Mann trug einen eleganten, grauen Anzug, hellbraune, feine Schuhe, ein weißes Hemd und eine Krawatte, feuerrot. Er machte etwas Seltsames, er setzte nämlich seinen rechten Fuß auf die Straße, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, als ob der Belag der Straße zu heiß wäre, um sie tatsächlich betreten zu können. Das ging eine Viertelstunde so entlang, ein früher Nachmittag, es regnete leicht. Der Mann schien nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachtete. Um uns herum waren sehr viele Menschen unterwegs gewesen, die die Kreuzung Broadway Ecke 30. Straße schnellfüßig unter sich drehenden Regenschirmen überquerten. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, der Mann würde sich verhalten wie eine Figur in einem sehr kurzen Film, der sich unablässig wiederholte. Einmal bleibt eine ältere Frau neben ihm stehen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch entschlossen auf die Straße, um kurz darauf zurückzukehren und dem jungen Mann eine Tüte Nüsse zu überreichen. In genau diesem Augenblick ließ ich los und spazierte weiter in Richtung South Ferry, ohne mich noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stille draußen vor den Fenstern, kühle Nacht. Erinnerte mich vor wenigen Stunden an Alexandros Panagoulis, an das vorgestellte Bild des Dichters, wie er im griechischen Militärgefängnis Bogiati in einer Zelle sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedichte, die er aufhebt in seinem Kopf. Lange musste ich nach seinem Namen suchen, er war verschwunden gewesen, als hätte ich nie von ihm gelesen. — stop
Aus der Wörtersammlung: uhr
von regenschirmen
romeo : 6.48 — In der Dämmerung die Vorstellung, ich würde unter Bäumen liegen, Vögel singen, was für ein wunderschöner Morgen, es ist warm, es ist kurz vor fünf. Ich höre wie sich ein großes Tier durchs Unterholz bemüht, das könnte ein Bär sein oder ein Hirsch oder ein Bison. Häuser existieren an diesem Morgen keine, weder Briefkästen noch Fahrräder, ich ruhe auf Blättern, die ich am Abend zuvor zu einem Haufen legte. Es ist vielleicht das Jahr 8022 vor Beginn unserer Zeitrechnung. Ich ahne noch nicht, dass ich bald eine Tasse Kaffee begehren werde. Ich bin glücklich, ich bin noch keinem Wolf begegnet. Aber ich habe, glaube ich, die Apparatur eines Regenschirms bereits erfunden, sie ist, wie mein Bett, von hölzernen Stäbchen und Blättern gefertigt. Vermutlich werde ich an einem weiteren Tag in demselben Leben erkennen, dass ich aus einem größeren Regenschirm ein Haus bauen könnte, heute aber, in der Morgendämmerung, gerade beginnen die Vögel zu singen, ich bin noch schläfrig, noch kein Erfindergeist. Es ist warm, es existieren weder Häuser noch Fahrräder, noch Briefkästen, noch Uhren. — stop
siatista mittags jahre später
echo : 5.08 — Vor Jahren einmal wurde mir erzählt, ein sehr alter Mann habe sich aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinten, weil er im hohen Alter noch hungern musste, an einem wunderschönen Maitag auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war damals zu erfahren gewesen, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge hin wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später soll das Projektil eine Fliege getötet haben, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. — Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? Ich habe noch immer keine Antwort auf diese Frage. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 507, Luftfahrt — 701, Automobile — 53], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 8, 19. Jahrhundert – 66, 20. Jahrhundert – 1001 , 21. Jahrhundert — 355 ], Trolleykoffer [ blau : 7, rot : 66, gelb : 5, schwarz : 532 ] physical memories [ bespielt — 6, gelöscht : 122 ], Armbanduhr — Audemars Piguet / Typ Royal Oak Grande : [ 1 ], Frösche [ Pärchen ] auf Treibholz [ 8 ], Öle [ 0.76 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 8, Kniegelenke – 66, Hüftkugeln – 2, Brillen – 562 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 54, Größen 38 — 45 : 88 ], Plastiksandalen [ 307 ], Kühlschränke [ 3 ], Telefone [ 65 ], Porzellanpuppenhände [ 16 ] Gasmasken [ 17 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 5, mit Taucher – 18 ], Pfeifenköpfe — Bruyèreholz [ 2 ], Engelszungen [ 51 ] | stop |
ein ball
whiskey : 0.12 — Einmal beobachtete ich in New York einen Mann, wie er das Verhalten eines Balles in einem Waggon der Subway studierte. Es war ein sonniger Tag im Januar, ich fuhr gerade mit der Linie N Richtung Coney Island, als der Mann, der mir im Zug unmittelbar gegenüber Platz genommen hatte, einen roten Ball, von weißen Punkten bedeckt wie ein Fliegenpilz, aus einer Tasche holte und auf den Boden legte. Sofort rollte der Ball gegen die Fahrtrichtung davon, verlor sich zunächst zwischen den gestiefelten Beinen einiger Reisender, war dann für einen Moment nicht zu sehen, sodass der Mann, der den Ball freigelassen hatte, sich nach vorn beugen musste, um ihn wieder in den Blick zu bekommen. Kurz darauf kehrte der Ball zurück, beschrieb einen weiten Bogen, stieß mehrfach gegen die Füße einer schlafenden Frau, die die Berührungen des Balles aber nicht zu bemerken schien und einfach weiterschlief. Indessen verzeichnete der Mann mittels eines Bleistiftes den Weg des Balles durch den Waggon in ein Notizbuch, scharfe Richtungswechsel, enge Kreise, oder auch ruhigere Bewegungen des Balles über den Gang des Waggons wurden in dieser Weise präzise dokumentiert. Einmal nahm ein Kind den Ball in seine Hände, da machte der Mann an dem Ort, da der Ball den Boden verließ, ein Kreuz auf sein Papier. Nach einer halben Stunde stieg der Mann aus dem Zug, und ich dachte noch, dass ich diesem Mann und seinem Ball vielleicht nie wieder begegnen würde. Ich notierte: Hier in New York begegnet man ständig Menschen, die man nie wieder sehen wird. Drei Tage später bemerkte ich einen roten Ball mit weißen Punkten auf einer Fähre nach Staten Island, er rollte langsam über das Hurricane-Deck. — stop
vor neufundland 1.16.28 uhr : kirschblüten
zoulou : 0.08 — Die Nachricht, ein afrikanischer Mann von der Elfenbeinküste habe bereits am vergangenen Mittwoch seinen 8 Jahre alten Sohn in einem Rollkoffer über die marokkanisch – spanische Grenze nach Europa transferiert. Das Kind wurde während einer Kofferdurchleuchtung lebend entdeckt, sein Vater festgenommen. Ich erinnere mich, vor zwanzig Jahren einmal beobachtet zu haben, wie am Zentralbahnhof ein Kind in ein Gepäckschließfach kletterte, eine Frau, vielleicht die Mutter des Kindes, klappte die Tür des Schließfaches zu, wartete einige Sekunden, dann öffnete sie die Tür wieder und das Kind kletterte aus dem Fach. Das Kind lachte. — Meldung von Noe aus 805 Fuß Meerestiefe vor Neufundland. ANFANG 01.14.02 | | | > s t o p habe das wort sommerzeit notiert. s t o p kurz darauf eingeschlafen. s t o p als ich erwache liegt meine hand noch auf der tastatur der maschine. s t o p ein gelber fisch. s t o p behutsam. s t o p als ob er mit meinem handschuh sprechen wollte. s t o p werde bald ohne luft sein. s t o p das ist denkbar, s t o p ohne erinnerung. h u n t i n g r e d f i s h f r o m a b o v e. s t o p planlos. s t o p ein lautloses ende. s t o p der duft der kirschblüten. s t o p von einem atemzug zum anderen. s t o p stark. s t o p süß. s t o p vielleicht flieder? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p | | | ENDE 01.16.28
lakritze
MELDUNG. Ein halbes Pfund Lakritze bei El Corte [ Plaça de Catalunya, 14, Barcelona ], damit in der Tüte ist Odile, eine Rose, zwanzigzwölf voller Glück über die Straße gegangen. Kurz darauf in Folge von Meteoriten durchschlagen: Kioskdach, 2 Passeig de Gràcia, 12 Uhr 14, 3 Gramm. Markise, 666 Gran Via de les Corts Catalanes, Erdgeschoss, 12 Uhr 16, 0.8 Gramm. Motorhaube, 67 Carrer del Bruc, 12 Uhr 17, 1.8 Gramm. Jedwede Feuersbrunst wurde gelöscht. — stop
minutenbild
himalaya : 3.12 — In einer Schublade meines Vaters entdeckte ich Bleistifte, Spitzer, Lineale, Rechenschieber, Uhren und eine Trillerpfeife. Zwei Klebstofftuben, hart wie Stein, waren nie geöffnet worden. In einer Schachtel von Metall eine Handvoll Batterien. Sie gehörten zu einem Blutdruckmessgerät, das ich selten beachtete, solange mein Vater noch lebte. Es war ein Gerät für alte Leute, scheinbar unsichtbar für die Augen eines jungen Mannes. Ich erinnere mich, beinahe hätte ich dieses Minutenbild vergessen, wie mein Vater vor seinem Schreibtisch sitzt, die Manschette des Prüfgerätes um den linken Arm gelegt. Das Geräusch einer Pumpe ist zu hören, ein Brummen. Wie mein Vater nun reglos wartet auf den Moment, da das Gerät die Umklammerung seines Armes lockern wird, ein scheuer Blick, so stelle ich mir vor, auf Leuchtziffern, deren Bedeutung er fürchtete oder über die er sich freute. Vor einigen Wochen fand ich in einem Ordner lange Zahlenreihen in Tabellen, die der alte Mann selbst angefertigt hatte. Seine akkurate Schrift, jede Zeile ein Zeugnis von Überwindung, ein Beweis, dass mein Vater sich kümmerte, dass er kein Flüchtender gewesen war. — stop
ai : SUDAN
MENSCH IN GEFAHR: „Sandara Farouq Kadouda wurde am 12. April vermutlich von Angehörigen des sudanesischen Geheimdienstes entführt. Der Verbleib der Ärztin und zweifachen Mutter ist unbekannt. Sandara Farouq Kadouda war am 12. April zu einer Veranstaltung in Omdurman unterwegs, die von der politischen Opposition in den Räumlichkeiten der National Umma Party organisiert worden war. Kurz nach 17.00 Uhr wurde ihr Wagen von einigen Männern in Zivilkleidung angehalten, die allem Anschein nach Angehörige des Geheimdienstes (National Intelligence Security Service — NISS) waren. Die Männer nahmen ihr das Handy ab, als sie gerade mit einer Freundin telefonierte. Diese hörte laute Stimmen, als Sandara Farouq Kadouda jemanden nach seinem Ausweis fragte. Kurz darauf wurde das Handy abgestellt. Der Wagen von Sandara Farouq Kadouda wurde 30 Minuten später an der Straße gefunden, er war verlassen und die Schlüssel steckten noch. Die Familie von Sandara Farouq Kadouda zeigte den Vorfall bei der Polizei und dem NISS an. Bisher weigern sich die Behörden jedoch, Informationen über ihren Verbleib und ihren Gesundheitszustand preiszugeben. Sandara Farouq Kadouda hat keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand oder ihrer Familie. Sie leidet an chronischer Unterzuckerung und muss daher einen speziellen Ernährungsplan einhalten und täglich Medikamente einnehmen. Allerdings ist unklar, ob sie Zugang zu der benötigten medizinischen Versorgung hat. Sie ist zudem in Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 25. Mai hinaus, unter »> ai : urgent action
von fröschen
echo : 5.16 — Ein Buch, das ich gestern in einer Postfiliale, Prenzlauerstraße 86, abholen wollte, war nicht erreichbar, da die Postfiliale, die mich von der Lagerung des Buches telefonisch unterrichtet hatte, geschlossen werden musste, die Angestellten der Filiale sind in einen Streik getreten. Das war nicht weiter schlimm, weil vorsorglich am Abend zuvor Briefe und Büchersendungen in eine benachbarte Postfiliale abtransportiert wurden, wie eine handschriftliche Notiz bezeugte. Ich setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr in die Berlinerstraße 8, wo sich mein Buch inzwischen aufhalten sollte. Aber auch dort war niemand anzutreffen, allerdings der Hinweis, alle Sendungen dieser Filiale, sowie übernommene Sendungen der Prenzlauerstraße 86, seien wegen außerordentlicher Betriebsversammlung in die Filiale am Madrider Platz verbracht. Zügig radelte ich weiter, eine doch beträchtliche Strecke war zurückzulegen quer durch die Stadt, es regnete, und ich dachte noch, der Himmel scheint beheizt zu sein, sommerlich warmes Wasser, die Luft duftete nach Flieder, über den Asphalt der Straßen hüpften tausende umbrafarbene Frösche, weiche Körper, lautlos, klaglos. Nahe dem Madrider Platz, unter Kastanienbäumen, hockten ein paar Leute wie unter Schirmen dicht an dicht. Es wurde langsam dunkel. Ich meine, zu diesem Zeitpunkt bemerkt zu haben, dass man an der Art und Weise, wie Menschen sich Schutz suchend auf den Boden setzen, erkennen kann, wie alt sie sind. – stop