MENSCH IN GEFAHR: „Marfa Rabkova ist eine Menschenrechtsverteidigerin und arbeitet als Koordinatorin des Freiwilligendienstes des Menschenrechtszentrums Viasna. / Sie wurde am 17. September festgenommen und am 25. September unter Paragraf 293(3) des Strafgesetzbuchs (“Training oder andere Vorbereitung von Menschen zur Teilnahme an Aufständen, oder Finanzierung solcher Aktivitäten”) angeklagt. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu drei Jahre im Gefängnis. Sie befindet sich zurzeit in der Untersuchungshafteinrichtung Nr. 1 in Minsk./ Marfa Rabkova ist eine gewaltlose politische Gefangene, die allein wegen ihres rechtmäßigen Einsatzes als Menschenrechtsverteidigerin schikaniert wird. Sie beobachtet Demonstrationen und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder andere Misshandlungen an friedlichen Protestierenden durch Beamt_innen der Sicherheitsbehörden. Marfa Rabkova hat keine Straftat begangen. Ihre Strafverfolgung ist eine erhebliche Verletzung der internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen des Landes./ Die belarussischen Behörden müssen aufhören, Mitglieder des Menschenrechtszentrums Viasna und andere zivilgesellschaftliche Aktivist_innen strafrechtlich zu verfolgen. Sie müssen die Rechte auf Vereinigungs‑, Versammlungs- und Meinungsfreiheit der belarussischen Bevölkerung respektieren.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 1.12.2020 unter > ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: wal
im wald
ulysses : 18.12 UTC — Einmal spazierte ich mit Mutter durch einen Wald. Die alte Dame, sie trug rote Turnschuhe, fragte mich, ob sie denn seltsam aussehen würde, so wie sie ging. Und ich antwortete: Nein, dein Gang ist vielleicht etwas steif geworden, etwas langsamer, vorsichtiger, aber nicht seltsam. Am Himmel kreiste ein Modellflugzeug mit einem Kopfpropeller, sehr leise, kunstvoll über einem Hügel, von dem aus wir Vaters Segelflugzeuge in herbstliche Winde hängten. In jenem Wald, ich erinnere mich, den ich mit Mutter spazierte, suchte ich als Junge nach Skeletten. Es war ein dichter Wald junger Tannen. Man erzählte, dass die Tiere sich dorthin zurückzogen, um in Ruhe zu sterben. Vermutlich deshalb habe ich sehr viele Knochen gefunden. Sie waren über Jahre hin über den Boden gewandert, das waren vermutlich Wildschweine gewesen. Ich trug zahlreiche Knochen nach Hause, um sie zu sortieren, mithilfe eines naturkundlichen Buches. In einem großen Karton verwahrte ich Knochen, die ich nicht zuordnen konnte. Einmal schüttete ich diese Knochen vor mich auf den Boden und setzt sie so zusammen, dass sich ein Tier abzeichnete, welches über mehrere Schädel verfügte und zahlreiche Beine. Das Tier war sehr lang, ein Tier, über dessen Leben ich aufregende Geschichten erzählen konnte. — stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR: „Der 47-jährige Kurde Arsalan Khodkam ist in Gefahr, im Gefängnis von Urumieh in der Provinz West-Asderbaidschan hingerichtet zu werden. Er war am 14. Juli 2018 wegen “Spionage” für die Kurdische Demokratische Partei des Iran (KDPI), eine bewaffnete Oppositionsgruppe, zum Tode verurteilt worden. Damals war er ein niedrigrangiger Angehöriger der Revolutionsgarden. Er hat diese Anschuldigungen immer bestritten und erklärt, dass die Behörden ihn der Spionage beschuldigten, nachdem sie erfahren hatten, dass er über Instagram mit einem Verwandten seiner Frau kommunizierte, der Mitglied der KDPI war. Arsalan Khodkam wurde weniger als drei Monate nach seiner Festnahme in einem unfairen Verfahren, das nur 30 Minuten dauerte, aufgrund von “Geständnissen”, die er seinen Angaben zufolge unter Folter und anderen Misshandlungen unterzeichnet hatte, zum Tode verurteilt. Er hatte zu keinem Zeitpunkt Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl. Im Februar 2020 versuchte sein Anwalt Einsicht in die Gerichtsunterlagen zu erhalten, um ein Gnadengesuch vorzubereiten. Die Staatsanwaltschaft teilte dem Rechtsbeistand jedoch mit, er könne Arsalan Khodkam nicht vertreten. Ein Gnadengesuch, das Arsalan Khodkam aus dem Gefängnis gestellt hatte, wurde abgelehnt. Im Mai 2020 wurden seine Familienangehörigen gewarnt, er könne jederzeit hingerichtet werden. / Nach seiner Festnahme am 23. April 2018 wurde Arsalan Khodkam in eine Hafteinrichtung der Revolutionsgarden in der Militärkaserne Almahdi in Urumieh gebracht. Dort hielt man ihn 36 Tage in Einzelhaft ohne Kontakt zu seiner Familie oder einem Rechtsbeistand. Während dieser Zeit wurde er seinen Angaben zufolge wiederholt gefoltert, um ihn zu einem “Geständnis” zu zwingen. Er sagte, er sei wiederholt ausgepeitscht bzw. mit Stöcken geschlagen und mit Fausthieben und Tritten traktiert worden, unter anderem auf den Rücken, wo er ein chirurgisches Implantat hat. Deshalb habe er mehrfach das Bewusstsein verloren. Die Verhörbeamt_innen sollen ihn über lange Zeiträume in schmerzhafter Weise die Hände gefesselt haben. Während dieser Zeit verweigerte man ihm den Gang zu Toilette, so dass er sich einnässte oder den Harn so lange einhielt, bis er Blasen- und Nierenschmerzen hatte. Er gab außerdem an, am Schlafen gehindert worden zu sein. / Arsalan Khodkam wurde von der Abteilung 1 des Militärgerichts in West-Aserbaidschan der “Feindschaft zu Gott” (moharebeh) durch “Spionage” für schuldig befunden. Er traf seinen vom Gericht bestimmten Rechtsbeistand zum ersten Mal während des Gerichtsverfahrens. Dieser habe vor Gericht nichts zu seiner Verteidigung vorgetragen. Die Abteilung 32 des Obersten Gerichtshof wies sein Rechtsmittel im Schnellverfahren zurück, ohne darauf einzugehen, dass unter Folter erpresste “Geständnisse” vor Gericht zugelassen wurden. Ein darauffolgender Antrag auf gerichtliche Überprüfung des Verfahrens wurde am 3. Oktober 2018 zurückgewiesen. Arsalan Khodkam hat bis heute keine schriftliche Fassung des Urteils gegen ihn erhalten. Die Anwendung der Todesstrafe wegen “Spionage” verstößt gegen das Völkerrecht, das die Todesstrafe auf die “schwersten Verbrechen”, wie vorsätzliche Tötungen, beschränkt. / Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe, ungeachtet der Schwere und der Umstände einer Tat, der Schuld, Unschuld oder besonderen Eigenschaften des Verurteilten, oder der vom Staat gewählten Hinrichtungsmethode, da sie das Recht auf Leben verletzt und die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen darstellt.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 28.9.2020 unter > ai : urgent action
von der wally nocheinmal
echo : 20.12 UTC — Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen von München aus zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelluft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnseidiges Haarnetz (Warum?), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, und Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, — Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. Seit einigen Stunden versuche ich zu erinnern, ob die alte Tante Wally mir je von der spanischen Grippe erzählte, die sie zweifellos in München erlebt haben muss. — stop
am telefon abends
delta : 0.25 UTC — Vor langer Zeit habe ich eine lustige Geschichte erlebt. In dieser Geschichte kommen ein Mädchen vor, die Mutter des Mädchens, die meine Schwester ist, ein Telefon, ein Fotoapparat, außerdem ein Fahrrad, das pink ist und ich. Die Geschichte ereignete sich abends. Das Mädchen rief mich an. Sie sagte ihren Namen und dann erzählte sie einfach darauf los, zum Beispiel, dass sie ein Fahrrad besitze, das pinkfarben ist, und dass sie mit dem Fahrrad schon alleine herumfahren könne, ohne umzufallen, und zwar durch den Wald. Plötzlich spricht sie nicht mehr, es ist still, aber ich höre sie atmen. Ich denke noch: Vor wenigen Monaten konnte sie nicht so gut erzählen, wie rasend schnell das geht, dass sich die Wörter formieren. Das Mädchen erzählte jetzt in ganzen Sätzen, es scheint so zu sein, dass sie nun, da sie über ganze Sätze verfügen kann, endlich alle ihre Geschichten sofort erzählen möchte. Eine helle, fröhliche Stimme. Aber dann doch diese seltsame Stille am Telefon, nur ihr Atem. Ich frage: Bist Du noch dran? Hallo! Kannst Du mich hören? Aber das Mädchen antwortet nicht. Immer noch ihr Atmen. Nach einer Minute plötzlich wieder ihre Stimme. Ich erfahre, dass ihre Mutter sie gerade fotografiert, wie sie mit mir telefoniert. Ich sage: Das freut mich. Wunderbar, wir werden fotografiert, Du und ich, ich bin in dem Telefon. Wieder Stille. Eine Pause. Eine sehr kurze Pause. Sagt das Mädchen: Quatsch mit Soße. — Gestern, es war Abend, als mich ein Freund anrief. Er sagte: Du klingst sehr nah an meinem Ohr. Trägst Du eine Maske? Wir sollten einen Schritt zurücktreten! — stop
ai : GUATEMALA
MENSCHEN IN GEFAHR: „Im März hat die guatemaltekische Regierung in einem Industriepark in Guatemala-Stadt ein Krankenhaus für COVID-19-Patient_innen eingerichtet. Jetzt wurden 46 dort arbeitende Instandhaltungs- und Reinigungskräfte entlassen. Als Grund für die Kündigungen verwies das Gesundheitsministerium auf Verwaltungsvorschriften, denen zufolge diese Arbeiter_innen einen Oberstufen- oder Universitätsabschluss besitzen müssen, um in dem Krankenhaus arbeiten zu können. Ein Großteil dieser Beschäftigten verfügt nur über eine grundlegende Schulbildung und kann die geforderten Nachweise nicht erbringen. Hinzu kommt, dass die gekündigten Personen, ähnlich wie Teile des medizinischen Personals, seit dem 24. März keinen Lohn erhalten haben. Arbeitslosenunterstützung haben sie ebenfalls nicht bekommen. / Hintergrund: Bereits vor der COVID-19-Pandemie erhielt Guatemala aufgrund seines schwachen Gesundheitssystems besondere Unterstützungen von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation OPS. Am 9. Juni meldete Guatemala 7.055 COVID-19-Fälle und 252 Pandemietote. / Im März richtete die Regierung Guatemalas in einem Industriepark der Hauptstadt namens Parque de la Industria ein Krankenhaus für COVID-19-Fälle ein. Die Klinik hatte eine Anfangskapazität von 319 Betten und wurde am 21. März eröffnet. Anfang Mai beschwerte sich das medizinische Personal öffentlich über fehlende Arbeitsverträge, nicht ausgezahlten Lohn und gefährliche Arbeitsbedingungen. Presseberichten zufolge, die auf Informationen des nationalen Rechnungshofs basieren, hat das COVID-19-Krankenhaus weniger als zwei Prozent des ihm vom Kongress zugewiesenen Budgets in Anspruch genommen. Der Grund dafür liegt in der geringen operativen Kapazität und dem Fehlen von entsprechend qualifiziertem Personal. / Die Krankenhausleitung gab an, dass die in der Klinik arbeitenden Personen über das Gesundheitsministerium eingestellt werden, wobei die in Haushaltsbestimmung 189 (Titel: “Sonstige Leistungen”) des öffentlichen Haushalts festgelegten Anforderungen zu befolgen sind. Vertreter_innen des Gesundheitsministeriums wiesen darauf hin, das Gesetz über den öffentlichen Dienst verlange, dass unter dieser Haushaltslinie eingestellte Personen einen Nachweis über ihren Oberstufen- oder Universitätsabschluss erbringen müssen. Der nationalen Ombudsstelle für Menschenrechte Procuraduría de los Derechos Humanos zufolge wurden diese Belege noch nicht verlangt, als das Gesundheitsministerium das betreffende Personal einstellte. Da 46 der im COVID-19-Krankenhaus beschäftigten Instandhaltungs- und Reinigungskräfte nicht die entsprechenden Unterlagen vorlegen konnten, wurden sie kurzerhand entlassen. Sie hatten erst knapp drei Monate lang in der Klinik gearbeitet und mussten teilweise ihre eigenen Werkzeuge und Materialien zur Arbeit mitbringen. Das Gesundheitsministerium identifizierte 38 Personen, die die Anforderungen nicht erfüllten. Die nationale Ombudsstelle für Menschenrechte hingegen meldete 46 Kündigungen im Bereich Instandhaltungs- und Reinigungspersonal. / Entgegen der Begründung des Gesundheitsministeriums besagt der Klassifikationsplan für Beschäftigungen im öffentlichen Sektor in Übereinstimmung mit Paragraf 35 des Gesetzes über den öffentlichen Dienst, dass bei einer Reihe von Stellen mit überwiegend “körperlicher und repetitiver Arbeit” keine über die Grundschule hinausgehende Schulbildung notwendig ist. Zudem ist im Handbuch zur Klassifikation der Haushaltslinien für den öffentlichen Dienst (Ministervereinbarung 291‑2012) keine Regelung zur Notwendigkeit eines Oberstufenabschlusses für die Anstellung von Personen unter Haushaltsbestimmung 189 aufgeführt. / Im COVID-19-Krankenhaus im Parque de la Industria in Guatemala-Stadt sind die Rechte der dort Arbeitenden – sowohl die der Instandhaltungs- und Reinigungskräfte als auch die des medizinischen Personals – bedroht. Diese Beschäftigten nicht angemessen zu schützen, bedeutet, nicht nur ihre sondern auch die Gesundheit der guatemaltekischen Bevölkerung aufs Spiel zu setzen. Seit Beginn der Pandemie haben Beschäftigte im Gesundheitswesen im ganzen Land öffentlich und wiederholt das Fehlen angemessener Schutzausrüstung kritisiert. Laut der nationalen Ombudsstelle für Menschenrechte hatten sich bis zum 24. Mai 2020 mindestens 49 Pflegekräfte und Ärzt_innen mit COVID-19 infiziert. Am 30. Mai 2020 forderte das Verfassungsgericht das Gesundheitsministerium auf, unverzüglich alle Beschäftigten im Gesundheitswesen mit entsprechender Schutzausrüstung auszustatten.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 20.7.2020 unter > ai : urgent action
ai : KASACHSTAN
MENSCH IN GEFAHR: »Der Menschenrechtsaktivist Alnur Ilyashev wurde am 17. April 2020 festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, Fehlinformationen verbreitet zu haben, die die „öffentliche Ordnung bedrohen“ und „beträchtliche Schäden“ an den „geschützten Interessen der Gesellschaft“ während des Ausnahmezustands verursachen. Die Vorwürfe stehen in Zusammenhang mit seinen kritischen Beiträgen über die Regierungspartei Nur Otan in den Sozialen Medien. Die Ermittler_innen behaupteten, die Beiträge hätten das Ziel, die öffentliche Meinung zum Thema „Inkompetenz der Aktivitäten der Nur-Otan-Partei“ hinsichtlich der COVID-19-Pandemie zu beeinflussen. Somit „könnten sie zu negativen Konsequenzen führen“. / Alnur Ilyashev hat kein Verbrechen begangen, sondern übte nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung aus. Er ist ein gewaltloser politischer Gefangener und muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden. Die kasachischen Behörden nutzen die COVID-19-Pandemie als Vorwand, um Kritiker_innen zu inhaftieren und Menschen einzuschüchtern. / Obwohl die Familienmitglieder von Alnur Ilyashev keinen Widerstand während zweier Wohnungsdurchsuchungen leisteten, wandte die Polizei körperliche Gewalt gegen sie an. Seine minderjährige Tochter hatte eine Panikattacke und wurde ohnmächtig, als die Polizei die Wohnung betrat und durchsuchte. Zu diesem Zeitpunkt waren keine Erwachsenen zuhause.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 8.6.2020 unter > ai : urgent action
zwei wale
marimba : 12.01 UTC — An einem nebligen Abend fuhr ich mit einem Fährschiff nach Staten Island. Ich ging eine Stunde spazieren, kaufte etwas Brot und Käse, dann wartete ich in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Einige Kinder spielten vor einem mächtigen Aquarium, sie tollten um den Glasbehälter herum. Plötzlich blieb eines der Kinder stehen, aufgeregt deutete es zum Aquarium hin. Weitere Kinder näherten sich. Sie schienen begeistert zu sein. Ich schlenderte zu ihnen hinüber, stellte mich neben sie. Da war etwas Erstaunliches zu sehen, da waren nämlich Elefanten im glasklaren Wasser, sie wanderten auf dem sandigen Boden des Aquariums in einer Reihe von Westen nach Osten. Ihre meterlangen Rüssel hatten sie zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der Seeluft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören, sobald ich eines meiner Ohren an das handwarme Glas des Wassergeheges legte. Auch Geräusche, wie ich sie von Mikrofonen kenne, die Walgesänge nahe Grönland aufgezeichnet hatten. Wie ich zur Oberfläche des Wassers hin blickte, entdeckte ich zwei Wale, die durch das Wasser schwebten, sie waren je groß wie eine Faust und stießen etwas Luft aus von Zeit zu Zeit, wie man das von wilden Walen kennt, die so groß sind, dass wir über sie staunen. Manchmal tauchten die kleinen Wale zu den Elefantentieren hin, behutsam näherten sie und schauten sich interessiert unter den Wandernden um, man schien sich natürlich zu kennen. — Ich konnte nicht schlafen. Noch in derselben Nacht fuhr ich nach Manhattan zurück. Ich machte einen Textentwurf für eine Zeitung, obwohl ich noch keine wirkliche Ahnung hatte, wie von den Zwergwalen zu erzählen sei. Ich notierte: Man möchte vielleicht meinen, bei der Gattung der Zwergwale handele es sich um Wale, die dem Wortlaut nach kleiner sind, als ihre doch großen Verwandten, Pottwale oder Grönlandwale, sagen wir, oder Blauwale. Nun sind sie bei genauerer Betrachtung wirklich winzig, nur 8 cm in der Länge. Als man sie in einer künstlich erzeugten Gebärmutter, ebenfalls winzig, heranwachsen ließ, glaubte im Grunde niemand, dass sie lebend zur Welt kommen würden. Plötzlich waren sie da, und verschwanden zunächst in einem Aquarium, das für sehr viel größere Fischwesen angelegt worden war. Nun waren die Wale zu klein, sie verloren sich in den Weiten des Beckens. Man legte zierliche Behälter an, versorgte sie mit Meereswasser, kühlte die Gewässer, sorgte für Wind und Wellen, selbst an Eisberge wurde gedacht, Eis von der Höhe eines menschlichen Fingers, die dort in der künstlichen Naturumgebung einfach so vom Himmel fielen. Jetzt konnte man sie gut sehen, aus der Nähe betrachten. Es waren zunächst drei Wale, sie existierten zwei Jahre, ehe man über eine Ausstellung, demzufolge über ihre Veröffentlichung diskutierte. Bislang hatte man gesagt: Wir dementieren und wir bestätigen nicht. So viel sei bemerkt: Diese winzigen Wale ernähren sich von Plankton, sie lieben Meereswalnüsse, sie tauchen oft stundenlang. Auch wurden Sprünge beobachtet, aber nur selten und nur bei Nachtlicht. Derzeit leben noch zwei kleinen Wale, der Dritte wurde zwecks Erforschung geöffnet.
hinter glas
tango : 17.38 UTC — Während eines Besuches in einem Aquarium begegnete ich vor Jahren einmal einem Fetzenfisch. Diese Begegnung war vielleicht der ersten Begegnung eines Kindes mit einer Weihnachtskugel vergleichbar. Ich konnte meinen Blick nicht von dem filigranen Wesen wenden, das hinter etwas Glas vor mir lautlos im Wasser schwebte. Ich war ganz sicher nicht der erste Mensch gewesen, den dieses feine Wesen im Aquarium wahrgenommen haben könnte, hunderttausende Augenpaare, Nasen, Finger, Menschen eben da draußen hinter den Scheiben, ungefährlich, manchmal kleine Menschen, die auf den Armen oder Schultern der großen Menschen hockten. Vor einigen Monaten nun bemerkte ich in einem Filmdokument eine Meereswalnuss, wunderbare Bezeichnung, ihr Leuchten, und wieder konnte ich mich nicht abwenden, habe mehrere Stunden über Meereswalnüsse geforscht in der digitalen Sphäre. Die Scheibe des Aquariums war indessen ein Bildschirm, Blick nur in eine Richtung, keine Begegnung, vielmehr eine Beobachtung. Ich werde bald einmal den Versuch unternehmen, Meereswalnüsse tatsächlich leibhaftig zu besuchen, wo sie leben. — stop
eine poststelle
india : 16.10 UTC — Auf der Anschriftseite eines Briefes war ein Text notiert, den ich zunächst nicht entziffern konnte. Ich hatte das Kuvert bei einem Händler entdeckt, dessen Sammlung von Briefkuverts auf einem Tisch unter einem Schirm sorgfältig ausgebreitet worden war. Es waren sehr viele Briefe, der Händler musste früh aufgestanden sein, um rechtzeitig vor Eintreffen der ersten Besucher des Flohmarktes mit seiner Darlegung fertig geworden zu sein. Es regnete. Ich stand unter dem Schirm und betrachtete einen Briefumschlag nach dem anderen Briefumschlag, sie waren zum Schutz in durchsichtige Folien eingeschlagen. Auf jenem Brief, von dem ich hier kurz erzähle, klebten zwei Briefmarken der Färöer-Inseln, sie waren noch gut zu erkennen, zwei Wale schwebten dort. Außerdem waren in einer Sprache, die ich nicht kannte, zahlreiche Zeichen, ein kleiner Text, unter einem Namen angebracht. Der Name lautete: Alma Pipaluk. Ich fragte den Händler, ob er wisse, was dieser kurze Textabschnitt bedeuten würde. Neugierig geworden kaufte ich den Brief, spazierte nach Hause und setzte mich an meine Schreibmaschine, tippte die Zeichen sorgsam in die Eingabemaske eines Übersetzungsprogramms. Die Sprache, die ich notierte, war die dänische Sprache, und bei dem Text, den ich vorgefunden hatte, handelte es sich um eine Anweisung an einen Briefzusteller, der von der Poststelle einer kleinen Siedlung namens Uummannaq aus, den Brief an seine Empfängerin liefern sollte. Der Text lautete in etwa so: Bitte nach Anorlernertooq nördliche Biegung am roten Haus vorbei rechts über den Steg zum gelben Haus an Alma, Pipaluk nicht vor September. Der Brief trug zwei postalische Stempelzeichen, akkurat aufgetragen. Er war geöffnet worden, irgendwann von irgendwem. — stop