MELDUNG. Awdijiwka, Komunlana St.1, 5. Etage, steinernes Zimmer : Kirsche No 322 [ Marmor, Carrara : 5.02 Gramm ] vollendet. — stop
Aus der Wörtersammlung: arm
lichtzeituhr
ulysses : 3.28 UTC — Es ist spät, ich fahre mit dem Taxi. Ein Marder beobachtet, wie ich aus dem Wagen steige, er hockt auf dem Schalensitz einer Kinderschaukel im Park. Das Schlafzimmerfenster Mutters ist hell erleuchtet, das einzige Licht, das inmitten der Nacht noch brennt, vermutlich ist sie mit der Zeitung in der Hand eingeschlafen. Auf dem Tisch im Wohnzimmer ein Teller, auf dem Teller ruht ein Mohnkuchen, der noch warm ist. Ich lösche das Licht neben der schlafenden alten Dame, es ist kurz nach drei Uhr. Der Schalter der Lampe leise, sehr leise, ich würde beinahe sagen, der Schalter ist ein Schalter ohne Geräusch. Aber der Lichtwechsel selbst, wenn das Licht ausgeht, scheint ein geräuschvoller, heftiger Vorgang zu sein. Und ich denke noch, morgen, wenn es wieder hell geworden sein wird, am Nachmittag bei Kaffee und Mohnkuchen, werde ich Mutter eine Geschichte vorlesen, die sie nachdenklich stimmen könnte. Die Geschichte, die ich im Jahr 2015 notierte, geht so: Liesl, die vor wenigen Tagen 85 Jahre alt wurde, erzählte von einer Zeitschaltuhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzubringen wünschte. Er habe, hatte ihr Sohn berichtet, nachts immer wieder einmal wahrgenommen, dass Liesl einschlafen würde, ohne ihre Nachttischlampe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Lichtscheins, den er vom Schlafzimmer der Mutter her kommen sah, aufgestanden und habe sich vorsichtig an ihr Bett begeben und das Licht gelöscht. Einmal habe er überlegt, ob er nicht das Gesicht seiner schlafenden Mutter, wie zum Beweis fotografieren sollte, ein so helles Gesicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, das Gesicht einer tatsächlich Schlafenden zu betrachten. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie keine Zeitschaltuhr neben sich wünsche, sie sei doch kein Aquarium, habe sie gesagt, lieber schlafe sie im strahlenden Licht der Nachtlampe ein, plötzliche Dunkelheit, um Himmelswillen, nein. Ihr Sohn reiste wieder ab. Liesl erzählte, dass sie mit ihm nie wieder über Zeitschaltuhren gesprochen habe, unlängst aber, in einer Septembernacht, sei dann plötzlich das Licht ausgegangen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vorsichtig aus dem Bett gestiegen, sei auf Knien durch das stockdunkle Zimmer gekrochen zu einem Lichtschalter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewesen, Donnerwetter! — stop
jazz
delta : 22.08 UTC — Ich nehme an, es könnte sinnvoll sein, dass ich, sobald ich über Echokammern nachzudenken beginne, mich zunächst nach meinen eigenen Echokammern erkundige, digitalen wie analogen Räumen, wie sie beschaffen sind, wie lange ich bereits unter ihren Filterschirmen lebe, was sich einmal da und einmal dort finden lässt, was ich höre, sehe, lese, demzufolge bald Ermittlungen möglich werden könnten über alle jene Substanzen, die ich nicht sehe, nicht höre, nicht zu lesen vermag. Es ist kurz nach 10 Uhr abends: Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? / Daniil Charms — stop
lichtbild
sierra : 3.24 — Man möchte fast glauben, die folgende Begebenheit könnte reine Erfindung sein, weil in unserer Zeit kaum vorstellbar ist, was ich in wenigen Sätze erzähle. Ich hatte mein Fernsehgerät beobachtet, dort waren auf dem Bildschirm Menschen zu erkennen, die auf Wagondächern eines Güterzuges von Mittelamerika aus durch Mexiko nach Nordamerika reisten. Eine gefährliche Fahrt, junge Männer, aber auch junge Frauen, immer wieder, so erzählt man, wurden sie beraubt oder fielen auf die Geleise und würden vom Zug überrollt oder von Blitzen heftiger Gewitter getroffen. Lang waren die Überlebenden bereits unterwegs gewesen, hatten nach einiger Zeit kaum noch zu essen oder zu trinken. Hunger und Durst würden sie ganz sicher gezwungen haben, vom Zug zu springen, wenn da nicht Menschen gewesen wären, arme Menschen, die entlang der Zugstrecke standen, um den Zugreisenden Wasser und Nahrungsmittel in Tüten zuzuwerfen. Eine Frau, Maria, erzählte, sie und ihre Familie würden immer wieder hierherkommen zu den Zügen mit ihren Broten, dabei hätten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Wenige würden sie gerne teilen, immerzu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unternehmen, um den Flüchtenden zu helfen. Bald verschwand sie aus dem Bild, trat in den dichten Wald zurück, auch der Zug entfernte sich langsam. — stop
namen
delta : 1.05 — Vor einigen Wochen hatte ich einen Luftpostbrief an Mr. Sini Shapiro nach Manhattan geschickt. Ich notierte ihm von einem weiteren Schreiben, das ich an ihn persönlich vor einiger Zeit nach Kalkutta (Indien) sendete. Der Brief war zurückgekommen, er trug Hinweise auf seiner Anschriftseite, die von mehrfachen vergeblichen Zustellversuchen zeugen, ein Kunstwerk, würde ich sagen, ein Dokument sorgfältiger Arbeit. Heute antwortete Mr. Shapiro. Er schrieb in einer E‑Mailnachricht, er habe sich gefreut, weil ich seinen Namen verwendete, um eine Briefsonde nach Kalkutta zu schicken. Außerdem freue er sich über meine Frage hinsichtlich bevorzugter Lektüren. Er übermittelte eine Namensliste jener Persönlichkeiten, deren Bücher Mr. Shapiro bald einmal lesen, deren Leben er bevorzugt studieren würde. — Es ist merkwürdig, ich habe nicht damit gerechnet, dass Mr. Sini Shapiro über eine E‑Mail-Adresse verfügen könnte. Es ist nun doch wahrscheinlich, dass Mr. Shapiro außerdem über eine Computerschreibmaschine verfügen wird, die der digitalen Sphäre verbunden ist. — stop
von seeanemonen und wandernden ohren
papa : 2.15 UTC – Nehmen wir einmal an, dem ursprünglichen Code einer Seeanemone würde ein weiterer Code hinzugefügt, eine sehr kurze Strecke nur, sagen wir Jack Kerouacs Roman The Town and The City mittels Nukleobasenpaaren notiert. Was würde geschehen? Inwiefern würde Jack Kerouacs Text Wesen oder Gestalt einer Seeanemone berühren? Würde der Text von Seeanemone zu Seeanemone weitergereicht, würde er sich nach und nach verändern, würde er vielleicht entlang der Küstenlinien wandern? Seit dem 8. Dezember 2014, ich hatte geträumt, sind menschliche Personen denkbar, die nur zu dem einem Zweck existieren, nämlich Ohren, ein gutes Dutzend wahlweise auf ihren Armen oder Schultern zu tragen, um sie gut durchblutet so lange zu konservieren, bis man sie von ihnen abnehmen wird, um sie auf eine weitere Person zu verpflanzen, die eine gewisse Zeit oder schon immer ohne Ohren gewesen ist. Unheimliche Sache auch nach zwei Jahren noch, da ich diesen Text zum ersten Mal überlegte. — stop
brooklyn : zur zeit der fliederblüte
sierra : 2.10 — Man stelle sich das einmal vor, wie man an einem warmen Frühlingstag in Brooklyn durch den Prospect Park spaziert. Gerade ist die Zeit der Fliederblüte angebrochen, die Bäume duften weit in die Straßen hinein, Möwen fliegen im Park herum, obwohl sie eigentlich niemals die Innenseite der Stadt besuchen, es ist eben ein besonderer Tag in einem nächsten Jahr. Und wie wir so im Park spazieren, meinen wir zu bemerken, dass das Licht ein anderes Licht ist, als noch vor Monaten, als wir zuletzt an diesem wunderbaren Ort ein paar Stunden Zeit verbrachten, um Waschbären zu zählen vielleicht, oder Eichhörnchen, Tauben, Menschen, diese Freude, jawohl, an der Zählung der Welt, an der Beobachtung der Farben. Heute aber ist das Licht ein anderes Licht geworden, noch immer oder wieder Sonne, aber auch ein seltsamer Schatten, keiner der Wolkenschatten, die immerzu von Licht durchsetzt gewesen sind, sondern ein Schatten, der energisch ist, der das Gleichgewicht des Lichtes in der Weite des Parks zu verändern scheint. Noch haben wir nicht zum Himmel geschaut, sondern uns nur gewundert, dass das Licht ein anderes Licht ist, ein Lichtgefühl, das sich grundsätzlich änderte, das könnte sein, ein merkwürdig blaues Licht, das auf den Blättern der Bäume flimmert, auf den Fellen der Eichhörnchen, im Gefieder der Tauben. Und da sehen wir, dass den Bäumen, den Eichhörnchentieren, den Tauben ihre Schatten fehlen, als wäre so etwas wie eine Sonnenfinsternis am Himmel aufgetreten. Höhe Caroll Street entdecken wir ein Tau, nein, ein metallenes Seil, das im Gestein fest verankert wurde, ein kräftiges Seil, das senkrecht aus dem Boden steigt, ein Seil, um welches sich weitere Seile aus dem Boden erheben. Gerade in dem Moment, als wir dort am Ort der im Wiesenboden verankerten Seilstränge angekommen sind, beobachten wir eine metallene Seilbahnkabine, in welcher ein Mensch steht, der langsam himmelwärts schwebt. Wir folgen ihm mit unseren Blicken hinauf zu einem riesigen Fesselballon, an welchem statt eines Korbes, Gebäude von Holz befestigt sind. Das sind wunderbare, kleine Häuser, sie sind in den Farben der Nordländer gestrichen, in Blau und Gelb und grün und rot, eine Traube bunter Häuser, die über Fenster verfügen, dort, wo sich an Häusern Fenster immer befinden. Aber die Türen, die Türen sind in den Boden der Häuser eingelassen, das ist schon seltsam, diese Türen, die sich dort befinden, wo man die Häuser niemals sieht, weil sie auf dem Boden ruhen. Wir stehen ganz still und schauen hinauf, und wir wundern uns wie weit es da doch hinaufgeht, Menschen winken aus geöffneten Fenstern, sie sind klein, ja, diese winkenden Wesen müssen unbedingt Menschen sein, an diesem wunderbar warmen Frühlingstag in Brooklyn im kommenden Jahr, einem Tag, an dem Silbermöwen in fürchterlichen Rudeln vom Meer her in die Stadt gekommen sind. — stop
unterwegs in den wolken
kilimandscharo : 5.28 — Das ist schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spaziert. Sie trägt Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünscht. Sie scheint sich zu fürchten, ernst schaut sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtet sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kennt, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut sind, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegen scheinbar ohne Ziel. Es ist feucht an diesem Morgen, Wolken berühren den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch stürzte, einfach so stürzte, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, solch ein Schlamassel. Hundert Meter weit ist sie schon gelaufen, da entdeckt sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht ist, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten kann. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine sind unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen müssen. Für einen Moment bleibt die alte Dame stehen. Es wird ganz still in diesem Augenblick. Sie beugt sich zur Klingel herab, und schon ist ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach ist es zu hören. — stop
mittags gegen 2
harmlose geschichte
echo : 0.58 — Ich stellte mir eine Minute vor, dann eine Stunde, dann einen Tag. Ich stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer, aß eine Banane, sah aus dem Fenster, setze mich an den Schreibtisch, stellte mir eine Woche vor, dann einen Monat, dann ein Jahr. Ich erhob mich, sah nach der Uhrzeit, dann aus dem Fenster, verließ das Haus, spazierte und kam zurück, setzte mich aufs Sofa. Eine harmlose Geschichte. Das leise Gaspfeifen der marineblauen Luftschiffkäfer, indem sie über meinem Schreibtisch steigen und sinken. Leichter Regen. In Aleppo soll für zehn Stunden jedwede Mordaktion aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung eingestellt worden sein. — stop