Aus der Wörtersammlung: augen

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nachtmann

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lima : 3.28 — Seit Jah­ren, Nacht für Nacht gegen drei Uhr, höre ich das Pfei­fen eines Zei­tungs­bo­ten, der auf einem Fahr­rad von Osten her in unse­re Stra­ße kommt, um nach einer Schlei­fe von weni­gen Minu­ten, die ihn west­wärts führt, wie­der zu ver­schwin­den. Ich bin ihm in die­ser lan­gen Zeit nie per­sön­lich begeg­net, und ich kann auch nicht mit Sicher­heit sagen, wel­che Zei­tung er in die Brief­käs­ten unse­res Hau­ses steckt. Ein ein­zi­ges Mal habe ich neu­gie­rig aus dem Fens­ter gespäht, ich erin­ne­re mich an eine bit­ter­kal­te Nacht. Die Gestalt des Man­nes war weit ent­fernt zu sehen gewe­sen, er trug eine Woll­müt­ze, Hand­schu­he und eine Leder­ja­cke, das ist viel­leicht der Grund, wes­halb er auch in hei­ßen Som­mer­näch­ten in mei­nen Augen wei­ter­hin eine Woll­müt­ze trägt und pfeift, weil ihm mög­li­cher­wei­se kalt ist und ein­sam. Es ist selt­sam, in all den Jah­ren sei­ner Gegen­wart in mei­nem Leben, schei­ne ich kei­nen wei­te­ren Gedan­ken zu sei­ner Per­son hin­zu­ge­fügt zu haben, als wäre der Mann eine abge­schlos­se­ne Geschich­te, die sich exakt wie­der­holt. Plötz­lich, vor weni­gen Minu­ten, die Fra­ge, ob der Mann even­tu­ell in der Zei­tung liest, die er zu den schla­fen­den Men­schen bringt, und ob ihm nicht manch­mal des­halb unheim­lich zumu­te sein könn­te. — stop

ping

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ein junge

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india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flug­ha­fen­ter­mi­nal beob­ach­te­te ich einen Mann, der sich äußerst spar­sam, lan­ge Zeit über­haupt nicht beweg­te. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zei­tung, neben der Zei­tung Fol­gen­des: eine Tas­se Kaf­fee, ein Glas Was­ser, Zucker­wür­fel, Notiz­block und Blei­stift. Eine hal­be Stun­de ver­ging in die­ser Wei­se, die Hän­de des Man­nes ruh­ten in sei­nem Schoß. Ein­mal rück­te der Mann sei­nen Kof­fer, der hin­ter ihm an der Wand park­te, ein klei­nes Stück zur Sei­te, ein ander­mal hob er sei­ne Kaf­fee­tas­se in die Luft, um sie in einem Zug aus­zu­trin­ken. Dann wie­der kei­ner­lei Bewe­gung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagier­te weder auf Laut­spre­cher­durch­sa­gen noch küm­mer­te er sich um Men­schen, die das Café auf Lauf­bän­dern pas­sier­ten, es waren vie­le chi­ne­si­sche Rei­sen­de dar­un­ter, die gera­de erst aus Shang­hai und Peking in gro­ßen Flug­zü­gen ein­ge­trof­fen waren. Der Mann starr­te auf eine Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie, die auf der Titel­sei­te einer Zei­tung abge­druckt wor­den war. Ein Jun­ge lag dort unbe­klei­det auf einer Bast­mat­te mit­ten auf einer schmut­zi­gen, feuch­ten Stra­ße. In eini­ger Ent­fer­nung, im Hin­ter­grund, war­te­ten Men­schen, die den Jun­gen beob­ach­te­ten. Der Jun­ge schwit­ze, sei­ne schwar­ze Haut war von Flie­gen bedeckt, er sah mit halb geschlos­se­nen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutz­an­zug steck­te. Anstatt eines Kop­fes war auf den Schul­tern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zer­knit­ter­te Hau­be, genau­er, die unter Luft­druck zu ste­hen schien. Das Wesen hat­te sei­ne rech­te Kunst­stoff­hand nach dem Jun­gen, der ein­sam auf dem Boden lie­gend ver­harr­te, aus­ge­streckt, es woll­te ihn viel­leicht ermu­ti­gen, auf­zu­ste­hen und zu ihm an den Rand der Stra­ße zu kom­men. Obwohl sich die Hand nicht beweg­te, ver­mit­tel­te sie den Ein­druck, dass sie sich bewegt haben muss­te und wei­ter­hin bewe­gen wür­de, weil die Stel­lung ihrer Fin­ger nur in die­ser ver­mu­te­ten Bewe­gung einen Sinn ergab. Ja, die­se Hand muss­te in der Zeit des Bil­des eine win­ken­de Hand gewe­sen sein, aber es war deut­lich zu sehen, dass der Jun­ge ver­mut­lich nicht län­ger die Kraft hat­te, auf­zu­ste­hen oder zu krie­chen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüs­tern, oder die Flie­gen auf sei­nem Kör­per zu ver­trei­ben. Es war still, voll­kom­men still, nichts zu hören. — stop

ping

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schläfer

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bamako : 5.14 — Wer um halb vier Uhr mor­gens am Zen­tral­bahn­hof in eine Stra­ßen­bahn steigt, wird bald bemer­ken, dass es sich bei die­sen Stra­ßen­bah­nen um Ver­kehrs­mit­tel han­delt, in wel­chen schla­fen­de Men­schen rei­sen. Mehr­fach habe ich, zufäl­li­gen Him­mels­rich­tun­gen fol­gend, Expe­di­tio­nen unter­nom­men. Ent­we­der ist es die Zeit, weder Tag noch Nacht, die dazu führt, dass kein Mensch dort wach sein kann, oder aber etwas schwebt in der Luft, das unwi­der­steh­lich müde macht. Auch ich selbst schla­fe bei­na­he sofort, wenn ich mich set­ze. Ich gehe also auf und ab, nie­mand bemerkt mich, auch der Fah­rer der Stra­ßen­bahn scheint um die­se Zeit fest zu schla­fen. Ein­mal, kürz­lich, waren unge­wöhn­lich vie­le Fahr­gäs­te unter­wegs. Ich konn­te sie hören, lei­se Lebens­äu­ße­run­gen von der Art des Gesprächs, das wache Men­schen mit­ein­an­der füh­ren, wenn sie sich schon lan­ge nichts mehr zu sagen haben. Sobald ich schla­fen­de Men­schen im Vor­über­kom­men heim­lich betrach­te, Men­schen, die ihre Augen mit etwas Haut zuge­deckt haben, kann ich kaum glau­ben, dass sie jemals gefähr­lich sein könn­ten, böse mit­tels gespro­che­ner oder geschrie­be­ner Wor­te, gewalt­tä­tig mit Fäus­ten, Mes­sern, Pis­to­len. Ich mei­ne, unter ihren schim­mern­den Lid­häut­chen träu­men­de Augen erken­nen zu kön­nen, manch­mal schnap­pen sie nach etwas Licht. — stop
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kleiner kopf

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romeo : 22.01 – Ich begeg­ne­te ges­tern am frü­hen Mor­gen einem Mann, den ich vor Jah­ren schon ein­mal beob­ach­tet hat­te. Er war­te­te unter Fern­rei­sen­den ste­hend ver­geb­lich auf einen Zug. Ich erin­ne­re mich noch gut an unse­re ers­te Begeg­nung. Er hat sich seit­her kaum ver­än­dert, ver­fügt nach wie vor über einen unge­wöhn­lich klei­nen, zum Him­mel hin spitz zulau­fen­den Kopf. Damals, im Mai des Jah­res 2011, saß er auf einer Bank, Ter­mi­nal 2, des Flug­ha­fens, sei­ne Hän­de hiel­ten eine Tas­se Kaf­fee vor einen klei­nen Mund, klei­ne hel­le Augen starr­ten in die­se Tas­se, kurz fixier­ten sie mich, dann wie­der die Ober­flä­che des Kaf­fees, der sich im Gefäß lang­sam dreh­te. Stau­nend war­te­te ich in der Nähe des Man­nes auf einer wei­te­ren Bank, öff­ne­te ein Buch, aber anstatt zu lesen, sah ich immer wie­der hin zu dem klei­nen Kopf. Ich konn­te mir nicht den­ken, wie es mög­lich ist, mit einem der­art klei­nen Kopf zu über­le­ben. Man stel­le sich das ein­mal vor, der Kopf des Man­nes war nicht sehr viel grö­ßer gewe­sen als der Kopf eines Kin­des von zwei oder drei Jah­ren. Eigent­lich, dach­te ich, müss­te die­ser Mann tot sein oder aber von ein­ge­schränk­tem Denk­ver­mö­gen. Danach aller­dings sah der Mann nicht aus, er trug die fei­ne Klei­dung eines Geschäfts­rei­sen­den, außer­dem war er ver­mut­lich in der Lage, aus Bli­cken Gedan­ken zu lesen, wes­we­gen ich bald selbst zum Gegen­stand inten­si­ver Beob­ach­tung wur­de. — Null Uhr zwölf in Kobanê, Syria. — stop
ping

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camilla

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hima­la­ya : 5.32 — Ob Camil­la wirk­lich exis­tier­te, ver­mag ich nicht mit Sicher­heit zu sagen. Aber der klei­ne Mann, Feli­pe, der von Camil­la erzähl­te, exis­tiert tat­säch­lich, er hat mir wäh­rend einer mor­gend­li­chen Bus­fahrt die Hand gege­ben, eine klei­ne, raue Hand, die Hand eines Man­nes, der ein Leben lang hart gear­bei­tet haben muss. Ein Fin­ger sei­ner Hand fehl­te, glau­be ich, ja, ich bin mir nicht sicher, ich mei­ne gespürt zu haben, dass etwas fehl­te, sein fes­ter Hän­de­druck, und als ich nach­se­hen woll­te, hat­te Feli­pe sei­ne Hand eilig hin­ter dem Rücken ver­steckt. Ich frag­te ihn, wo er gebo­ren wur­de, er ant­wor­te­te mit einem Namen, der wun­der­schön in mei­nen Ohren klang, einen spa­ni­schen Namen. Er wohn­te in die­ser Stadt sein Leben lang. Fünf­zig Jah­re arbei­te­te er in einer Fabrik, in wel­cher Papie­re erzeugt wur­den, die in der Lage waren, Strom zu lei­ten. Man mach­te aus die­sen merk­wür­di­gen Papie­ren zum Bei­spiel Bücher, die sich in küh­ler Luft erwärm­ten. Beim Schnei­den der Papier­bö­gen könn­te die Geschich­te mit dem Fin­ger pas­siert sein vor lan­ger Zeit, als Camil­la noch nicht in sei­nem Leben gewe­sen war. Wie Feli­pe von Camil­la erzähl­te, leuch­te­ten sei­ne Augen, er ist doch ein groß­ar­ti­ger Erzäh­ler. Dass sie ihn trotz sei­nes feh­len­den Fin­gers lieb­te, erzähl­te er nicht, aber dass sie ein wenig grö­ßer war als er selbst, und dass sie über wun­der­ba­re Ohren ver­füg­te, die wackel­ten, wenn sie lach­te. Mit dem Alter wur­de Camil­la klei­ner. Weil auch Feli­pe klei­ner wur­de, änder­te sich nichts dar­an, dass sie grö­ßer war. Wie ich ihn so sah, neben sei­nem Kof­fer sit­zend im schau­keln­den Bus, dach­te ich dar­an, dass wir noch immer in einer Zeit leben, da Men­schen sich damit abfin­den müs­sen, dass Fin­ger für immer ver­schwin­den, oder Camil­la mit ihren beben­den Ohren. — stop

polaroidwindows

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kurz nach mitternacht

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echo : 1.28 — Um kurz nach Mit­ter­nacht öff­ne­te ich ein Fens­ter. Sofort fühl­te ich, dass ich beob­ach­tet wer­de. Tat­säch­lich saß rechts an der noch war­men Wand des Hau­ses eine win­zi­ge, viel­leicht jun­ge Spring­spin­ne. Ich habe das Licht ihrer Augen wahr­ge­nom­men oder eine Bewe­gung. Sie duck­te sich, als ich mich näher­te, aber sie flüch­te­te nicht. Ich konn­te mir die­ses Ver­hal­ten zunächst nicht erklä­ren, dann hat­te ich die Idee, dass die Spin­ne mich viel­leicht kennt. Mög­li­cher­wei­se wur­de ich schon drei oder vier Wochen lang beob­ach­tet, ohne die Beob­ach­tung der Spin­ne bemerkt zu haben. Ver­mut­lich war die Spin­ne, als sie mei­ner Gestalt zum ers­ten Mal ansich­tig wur­de, sofort geflüch­tet. Ich stel­le mir vor, sie könn­te sich in die Tie­fe gestürzt haben, wo sie im Gar­ten von einem Löwen­zahn­blatt auf­ge­fan­gen wur­de. Am fol­gen­den Tag mach­te sich die Spin­ne wie­der auf den Weg nach oben. Sie wird ver­mut­lich in Etap­pen gewan­dert sein, zwei oder drei Tage, dann wie­der Nacht, das War­ten auf zar­te Fal­ter, auf süßes, flie­gen­des Fleisch. Ein war­mer Wind. Ein Fens­ter, das sich öff­net. Wie­der­um Flucht in die Tie­fe, erneu­ter Auf­stieg, müh­sam und schmerz­voll, hin­auf, wo der rie­si­ge Vogel wohnt, wo das Licht ist, der war­me Wind, das Fens­ter, Flucht nun aber zu Fuß, nur ein oder zwei Meter abwärts und wie­der zurück. Es ist erstaun­lich. Von alle­dem habe ich nichts bemerkt. Zurück an die Arbeit. In die­ser Nacht las­se ich das Fens­ter geöff­net. Ben­ny Good­man spielt Live at Car­ne­gie Hall. Ich sit­ze und war­te. — stop

polaroiddowntown

 

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am nachttisch

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india : 3.02 — Ich träum­te von Win­ter­flie­gen. Als ich auf­wach­te, erin­ner­te ich mich, vor Jah­ren ein­mal über Win­ter­flie­gen nach­ge­dacht zu haben. Ich notier­te Fol­gen­des: Die Gat­tung der Win­ter­flie­gen soll­te in eisi­ger Umge­bung exis­tie­ren, in Höh­len, die sie mit ihren Flie­gen­fü­ßen per­sön­lich in den Schnee ein­gra­ben. Viel­leicht, das ist mög­lich, sind Win­ter­flie­gen von Natur aus eher küh­le Wesen, oder aber sie tra­gen einen wär­men­den Pelz, ein Fell, wie das der Eis­bä­ren, wei­che, wei­ße Män­tel von Haut und Haar, die ihre äußerst lang­sam schla­gen­den Her­zen schüt­zen. Die­se Flie­gen, dach­te ich, wer­den ein­hun­dert Jah­re oder älter, sie könn­ten sich von feins­ten Stäu­ben ernäh­ren, vom Plank­ton, das aus den vom Wind gebeug­ten Wäl­dern ange­flo­gen kommt, von Moo­sen, Bir­ken­pol­len, vom Kot­sand nor­di­scher Füch­se. Ich stell­te mir vor, sie sind weiß, so weiß, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spa­zie­ren. Man wird mei­nen, der Schnee bewe­ge sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, statt­des­sen sind es die Flie­gen, die nicht grö­ßer sind als jene Flie­gen, die nacht­wärts im Som­mer aus einem Apfel stei­gen. – Ein ruhi­ger Tag, Augen zu, warm, Son­ne. — Abends sit­ze ich in der Küche am Tisch. Ich öff­ne eine Schreib­ma­schi­ne, die ich vor drei Jah­ren aus dem akti­ven Schreib­ma­schi­nen­le­ben in mein Schreib­ma­schi­nen­mu­se­um trans­fe­rier­te, um nach­zu­se­hen, ob ich sie viel­leicht noch ein­mal in Gang set­zen könn­te. Klei­ne Schrau­ben tür­men sich zu einem Berg, es riecht nach Metall, nach Zinn, wie in der Kind­heit, wenn ich mei­ne Nase an Radio­ge­rä­te drück­te. An der Wand in nächs­ter Nähe hockt Esme­ral­da, sie scheint mich zu beob­ach­ten oder das Inne­re der Schreib­ma­schi­ne. Aus dem Neben­zim­mer drin­gen noch immer Kampf­ge­räu­sche, Schüs­se von Geweh­ren, hel­le Töne, als wür­den Kie­sel­stei­ne anein­an­der schla­gen. Auch gro­ße Kali­ber sind zu ver­neh­men, deren genaue Bezeich­nun­gen ich nicht ken­ne, Mör­ser viel­leicht, Pan­zer­ka­no­nen, Maschi­nen­waf­fen. Ein Mann, ich möch­te sei­nen Deck­na­men an die­ser Stel­le nicht ver­zeich­nen, sam­melt Fil­me in der digi­ta­len Sphä­re, die er zu end­lo­sen Ket­ten knüpft, Sze­nen aus dem syri­schen Bür­ger­krieg, zuletzt von dem Kampf um Kobanê. Per­so­nen ste­hen auf einer Stra­ße, sie feu­ern auf Häu­ser, plötz­lich fal­len sie um. Ein jun­ger Mann hüpft vor dem Kör­per einer jun­gen Frau, die auf dem Rücken liegt, ein Teil ihres Gesich­tes fehlt. Der jun­ge Mann preist Gott, er stellt sei­nen Stie­fel auf die Brust der jun­gen Frau, die ver­mut­lich, nein sicher, gegen ihn kämpf­te. Bär­ti­ge Män­ner eilen gebückt über Fel­der, einem der Män­ner fliegt ein Arm davon. — stop

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ping

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eidechsen

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echo : 1.35 — Eine Bekann­te, die in einem kur­di­schen Berg­dorf groß gewor­den ist, erzähl­te, sie habe als Kind im Som­mer mit Eidech­sen gespielt, im Win­ter hüpf­te sie vom Dach ihres Eltern­hau­ses in den Schnee. Es gab kein Tele­fon und die Schu­le lag drei Stun­den zu Fuß ent­fernt. Man konn­te die Kin­der von Wei­tem über den Weg sprin­gen sehen, wie sie nach Hau­se kamen, da hat­ten sie noch 2 Stun­den zu gehen. Eine kar­ge Land­schaft, kaum Bäu­me, aber blü­hen­de Büsche, deren Namen sich nicht so leicht in die deut­sche Spra­che über­set­zen las­sen. Ihren ers­ten Toten hat­te das Mäd­chen wahr­ge­nom­men, als sie noch nicht schrei­ben konn­te. Er lag auf dem Rücken auf einer Stra­ße unweit der Schu­le. Ein dün­ner Fluss von Blut kam unter dem Kör­per her­vor, auf dem Flie­gen klet­ter­ten. Sie habe die Augen fest zuge­macht, zu spät. Es ist jetzt eine schwe­re Zeit für sie und ihre Fami­lie. Ich erzähl­te ihr von Fil­men, die ich gese­hen hat­te, auf mei­nem Bild­schirm unter dem Dach. Tau­sen­de Kin­der, Frau­en, Män­ner, die vor IS-Scher­gen in die Ber­ge flüch­te­ten, ohne Was­ser und Nah­rung. Natür­lich kann­te sie alle die­se Bil­der. Ich sag­te, ich wäre bei­na­he sicher, dass die Art und Wei­se, wie ich flüch­ten­de, lei­den­de Men­schen auf Bild­schir­men betrach­te, von der Art der Fern­rohr­be­ob­ach­tung sei. Sie ant­wor­te­te unver­züg­lich, lei­se Stim­me. — stop
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polaroidfenster

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überall liegen Bücher herum

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echo : 2.26 — Frü­her ein­mal exis­tier­ten Bücher, deren Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren. Bevor man die Sei­ten die­ser Bücher lesen konn­te, muss­te man sie von­ein­an­der tren­nen. Selt­sa­mer­wei­se hat­te ich ihre Exis­tenz ver­ges­sen, bis ich soeben sol­che Bücher in einem Text von Natha­lie Sar­rau­te bemerk­te. Aber viel­leicht ist das Wort ver­ges­sen, in die­sem Zusam­men­hang nicht rich­tig gewählt, ich hat­te jah­re­lang nicht an sie gedacht, im Gehei­men waren sie ver­mut­lich immer anwe­send gewe­sen. Sofort begann ich damit, die Umge­bung mei­ner Erin­ne­rung zu erkun­den. Ich ent­deck­te eine Tan­te. Wenn die Tan­te zu Besuch kam, küss­te sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauch­sup­pe, weil sie einen Gemü­se­händ­ler kann­te, der ihr Lauch­stan­gen schenk­te. Die­se Tan­te also, deren Gesicht zer­furcht war von unzäh­li­gen Fal­ten, schenk­te mir ein­mal ein Buch genau die­ser erwähn­ten Art, ein Buch, des­sen Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren, sodass ich jede Sei­te mit einer Sche­re zunächst von der nächs­ten tren­nen muss­te. Das Buch war kein Kin­der­buch gewe­sen, ich hat­te noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu die­sem Zeit­punkt, aber Natha­lie Sar­rau­te, die damals unge­fähr in mei­nem Alter gewe­sen sein könn­te, in einem Alter, als mich die Tan­te mit den Lauch­stan­gen noch besuch­te. Sie notier­te: Es lie­gen über­all Bücher her­um, in allen Zim­mern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekom­men sind … klei­ne­re, mitt­le­re und gro­ße … Ich neh­me die Neu­an­kömm­lin­ge in Augen­schein, ich schät­ze die Mühe, die jedes erfor­dern wird, die Zeit, die es mich kos­ten wird … Ich wäh­le eins aus und set­ze mich mit dem auf­ge­schla­ge­nen Buch auf den Knien hin, ich umklam­me­re das brei­te Papier­mes­ser aus grau aus­se­hen­dem Horn, und ich fan­ge an … zuerst zer­trennt das waa­ge­recht gehal­te­ne Papier­mes­ser den obe­ren Falz der vier zusam­men­hän­gen­den Dop­pel­sei­ten, dann senkt es sich, rich­tet sich wie­der auf und glei­tet zwi­schen die bei­den Sei­ten, die nur noch längs­seits mit­ein­an­der ver­bun­den sind … dann kom­men die „leich­ten“ Sei­ten, sie sind an ihrem lan­gen Rand offen und bra­chen nur noch oben getrennt wer­den. Und wie­der die vier „schwie­ri­gen“ Sei­ten … und dann vier „leich­te“, und dann vier „schwie­ri­ge“, und so wei­ter, immer schnel­ler, mei­ne Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwind­lig … „Hör jetzt auf, mein Lieb­ling, das reicht, hast du wirk­lich nichts Inter­es­san­te­res zu tun? Ich wer­de beim Lesen selbst auf­schnei­den, das stört mich nicht, ich mache das ganz auto­ma­tisch …“ Es kommt jedoch nicht infra­ge, dass ich auf­ge­be. — stop / Natha­lie Sar­rau­te Kind­heit — aus der fran­zö­si­schen Spra­che über­setzt von Eri­ka und Elmar Tophoven

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katta

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del­ta : 1.28 — In den Abtei­lun­gen des Regen­wal­des : 28° Cel­si­us. Schwe­re, feuch­te Luft wie ein war­mes Tuch, das ich mit jedem Atem­zug durch mei­ne Lun­ge zie­he. Noch tropft küh­les Was­ser einer Regen­ma­schi­ne von den Bäu­men. Ein Kat­ta badet auf einem stei­ner­nen Tisch, an dem ich Platz neh­me, ohne sich von mei­ner Gegen­wart stö­ren zu las­sen. Viel­leicht habe ich nach Wochen, die ich unter sei­nen Bäu­men sit­zend zuge­bracht habe, einen Abdruck in sei­nem Gehirn hin­ter­las­sen, der in dem Moment, da ich im Pal­men­haus erschei­ne, anstatt Gefahr, die Gestalt einer Sul­ta­ni­ne zeigt. Scheue, has­ti­ge Bli­cke tief­schwar­zer Augen­per­len, dann wie­der hef­ti­ge Bewe­gun­gen des Kop­fes gegen den Stein, die prä­zi­se in der Art und Wei­se der Lemu­re vor­ge­tra­gen wer­den. — Immer wie­der die Fra­ge: Was sieht die­ser klei­ne Affe, wenn er mich betrach­tet? Was hört er, was nimmt er von mir wahr? Ein Wesen viel­leicht, das weder Bäu­me noch Wän­de des glä­ser­nen Hau­ses zu bestei­gen ver­mag, einen Mann, der schreibt. Bewe­gun­gen zwei­er Hän­de gegen ein Stück leuch­ten­des Holz, das kaum hör­bar klap­pert. Ein Schnur­ren, sobald gesetz­te Zei­chen­fol­gen aus dem vor­läu­fi­gen Spei­cher in das tie­fe­re Gedächt­nis der Maschi­ne über­tra­gen wer­den. Ein noch deut­li­cher hör­ba­res Geräusch, sobald eine Infor­ma­ti­on aus dem Gedächt­nis der Maschi­ne wie­der ver­schwin­det, ein Geräusch, das dem Geräusch einer Hand­voll Muschel­san­des ähnelt, der durch hoh­le Äste eines Bau­mes rinnt. Eine Hand, die unsicht­bar wird zunächst, um kurz dar­auf Früch­te auf den Tisch abzu­le­gen. — Ist die­se Hand, die sich über den Tisch fort­be­wegt, um eine Amei­se zu ver­trei­ben, die Hand des Man­nes, der nicht flie­gen, der nicht klet­tern kann, oder ist die­se Hand ein Tier für sich, das Sul­ta­ni­nen auf dem Tisch erzeugt, sobald der Mann, der nie­mals fliegt, der nie­mals klet­tert, zuge­gen ist? – stop

polaroidakrobaten



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