echo : 22.58 UTC — An diesem späten Abend würde ich gern eine Geschichte erzählen. Sie handelt von einer Frau, die in der Lage ist, das Gewicht einer Ameise mittels der Zeigefingerbeere ihrer rechten Hand präzise zu bestimmen. Sie sagt: Diese Ameise wiegt 8.7 Milligramm. Ein zierliches Wesen, dachte ich, das sich im Moment des Wiegens auf der Fingerbeere der feinfühligen Frau niedersetzte und sich nicht im Mindesten rührte. Eigentlich eine seltsame Geschichte, die ich gern genauso erzählt haben würde, als wäre sie Wirklichkeit. Etwas muss sich verändert haben während der vergangenen Monate. — stop
Aus der Wörtersammlung: dach
manhattan, 5th avenue no 45
himalaya : 15.15 UTC — Vor einigen Wochen hörte ich, das New Yorker Wohngebäude eines wohlhabenden Mannes in der 5th Avenue sei nicht etwa 68, sondern in Wirklichkeit, also mit bloßem Auge zählbar, 58 Stockwerke hoch. Ich dachte, der wohlhabende Besitzer des Hauses könnte vielleicht in mittlerer Höhenlage seines Gebäudes äußerst flache, kaum sichtbare Stockwerke errichtet haben. Kurz darauf las ich, der wohlhabende Mann habe seinem Gebäude tatsächlich zehn nicht existierende Stockwerke mittels Sprache hinzugefügt, demzufolge erfunden. Ich las weiterhin, dass der wohlhabende Mann selbst diesen Vorgang geistiger Erhöhung seines Bauwerkes bestätigt und als einen Vorgang übertriebener Wahrhaftigkeit bezeichnet haben soll. Das scheint nun doch eine verrückte Geschichte zu sein, oder aber eine Geschichte, die von einem Verrückten handelt. Wie, frage ich mich sorgenvoll, kann man einer Personengruppe oder einer Person argumentierend begegnen, die offensichtlich mit dem Gedanken spielt, eine Welt alternativer Wahrheit (Fakten) mittels permanenter Wiederholung in Wahrnehmung und Überzeugung der Menschen einzustempeln? — Früher Morgen. Ich habe noch etwas Weiteres zu vermelden, das schmerzt. Ein Freund, der am kommenden Donnerstag zum 26. Mal New York besuchen wollte, weil er seit drei Jahren Lilly liebt, die zeitlebens in Brooklyn in der Atlantic Avenue lebt, weil sie dort geboren wurde, wird seinen Koffer nicht packen, weil er wiederum in der persischen Stadt Izeh das Licht der Welt erblickte. Er lebt seit 28 Jahren äußerst friedvoll in der Bundesrepublik Deutschland. — stop
no 45
olimambo : 23.52 UTC – Gestern habe ich etwas Seltsames mit mir selbst erlebt. Ich saß am Tisch vor meiner Schreibmaschine, als es plötzlich dunkel wurde in der Wohnung, nur etwas Licht vom Himmel war noch zu erkennen gewesen. Auch war es ganz still geworden, John Coltrane in dem Augenblick verstummt, als sich das Radio ausschaltete, ein Klicken, kaum wahrnehmbar. Nach ein oder zwei Minuten bemerkte ich, dass der Bildschirm meiner Schreibmaschine noch hell ins Zimmer strahlte, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass es stockfinster geworden war, eine seltsame Beobachtung, dass ich das Licht der Schreibmaschine nicht als eigentliches Licht wahrgenommen habe. Was, fragte ich mich, würde ich unternehmen, wenn nun nach zwei oder drei Stunden meine Schreibmaschine sich erschöpft ausschalten würde, wie mein Radio sich ausgeschaltet hatte. Nehmen wir einmal an, dachte ich, es wird dunkel bleiben und still für Monate oder Jahre, wäre ich in der Lage, mich an meine Gedanken, an meine Geschichten, die sich in der Schreibmaschine noch immer aufhalten werden, aber nicht lesbar sein würden, erinnern? Tatsächlich überlegte ich bald, ob es möglich wäre, mit Gegenständen, die sich in meinem Besitz befinden, Strom zu erzeugen. Wie lange Zeit müsste ich eine Handkurbel drehen, um kurz darauf für eine Stunde Zeit, Texte auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine lesen zu können. — Kurz vor Mitternacht. Agenturen melden, dass Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern im Transferbereiches des New Yorker John F. Kennedy Airport gestrandet, das heißt, festgehalten sind. — stop
winterspur
sierra : 16.02 UTC — Ich spazierte einmal im Gebirge durch den Schnee. Es war ein eiskalter Wintertag, der Himmel von einem wundervollen Polarblau, das ich gern gepflückt und mit mir in der Manteltasche nach Hause getragen hätte. Vögel waren nicht zu sehen, aber sie waren zu hören gewesen, dumpfe Geräusche wie aus einem Traum heraus. Ja, die Vögel schliefen, nichts anderes war möglich, hockten unter Schneeschirmen, die sich über Tannen und Fichtennadeln spannten, und warteten auf den Frühling. Ein Pfad führte durch den Wald, eine Spur, die Tiere bei Nacht und Menschen bei Tag gemeinsam in den Schnee eingetragen haben mochten. Wenn ich ganz still stand, konnte ich leise mein Herz in der Brust schlagen hören. Ein seltenes Ereignis, das eigene Herzgeräusch von unten herauf, oder war das doch nur eine Vorstellung gewesen. Und ich dachte an Eichhörnchen, ich dachte, gut, dass ich kein Eichhörnchen bin in diesem Winter. Eine Stunde ging ich so den Pfad entlang, dann kehrte ich um. — stop
seltsam
ulysses : 1.18 — Wie ist es möglich, Geschichten zu erzählen, die seltsam sind, ohne sofort selbst für seltsam oder merkwürdig oder gar gefährlich gehalten zu werden, da doch diese merkwürdigen Geschichten in meinem Kopf entstehen? Ich habe L. von Esmeralda erzählt, dass Esmeralda eine Schnecke sei, die in meiner Wohnung lebe, als wäre sie eine Katze, dass ich das kleine Tier füttern würde, dass ich meine Wohnung im Winter beheize, auch wenn ich nicht anwesend sei, damit Esmeralda nicht frieren möge. Liebe L. sagte ich, ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mir aus freien Stücken eine Schnecke zu kaufen oder aber zur Sommerzeit in einem Garten einzufangen, nein, niemals, wenn nun jedoch eine Schnecke als Geschenk, als kostenfreie Offerte auf postalischem Wege zu mir reiste, warum sollte ich das Geschenk zurückweisen, warum nicht einen Versuch unternehmen, ein guter oder vorzüglicher Schneckenhalter zu werden? Wir werden es versuchen, sagte ich zur Schnecke kurz nachdem sie angekommen war. Jahre sind seither vergangen, Esmeralda scheint mit ihrem Leben in meiner Wohnung einverstanden zu sein. Einmal öffnete ich die Tür zum Treppenhaus und wartete. Ein anderes Mal öffnete ich ein Fenster und wartete wiederum einige Zeit, Esmeralda blieb oder kehrte zurück. Es stellt sich nicht zum ersten Mal die Frage: Wie alt werden Schnecken? Ist Esmeralda nicht vielleicht bereits viel zu alt, um noch als gewöhnliche Schnecke betrachtet werden zu können? — stop
ein wort
alpha : 3.28 — In einem Gespräch hörte ich ein schreckliches Wort. In dem Augenblick, da ich das Wort hörte, dachte ich: Diesem Wort bin ich nie zuvor begegnet. Jetzt, da ich das schreckliche Wort in meinem Kopf habe, werde ich es nie wieder vergessen, ich werde dieses Wort nie wieder verlieren. — Leichter Schneefall. Weitere Herzwörter eingefangen: herzfänger, herzfarbe, herzfeibel, herzfell, herzfenster, herzfieber, herzfinger, herzfleisch, herzförmig, herzform, herzfressend, herzfreude, herzfreund, herzbefriedung, herzfröhlich, herzfrömmigkeit, herzfromm, herzfülle, herzgebeint, herzgebet, herzgeblüt, herzgeboppelt, herzgedanke, herzgefahr, herzgefangener, herzgefühl, herzgeist, herzgekrabbelt, herzensbruch, herzfaenger, herzlichkeit, herzenschrein, herzbefriedigung, herzensehr, herzruehrung, herzrührung, herzenleide, herzbekehrung, herzgeliebt, herzgemein, herzgeneigt, herzgeschrei, herzgeselle, herzgespan, herzgespann, herzgesperr, herzgespiele, herzgespött, herzgespräch, herzgetreu, herzgewächs, herzgewinnend, herzgewünscht, herzgolden, herzgras, herzgrube, herzgründlich, herzgrund, herzgülden, herzgut, herzhäuslein, herzhäutlein, herzhaft, herzhaftig, herzhaftigkeit, herzhaftiglich, herzherzlichen, herzhoch, herzhoffärtig, herzhohl, herzhold, herzhorn, herziehen, herzig, herzigen, herziglich, herzigung, herzinbrünstig, herzinnig, herzinniglich, herzisch, herzkäfer, herzkalt, herzkammer, herzkeim, herzkind, herzkirsche, herzkitzelnd, herzklee, herzklopfen, herzklopfend, herzklopfer, herzklopfung, herzknochen, herzknorpel, herzkölblein, herzkönig, herzkörnig, herzkohl, herzkrabbe, herzkränkend, herzkränkung, herzkrampf, herzkrank, herzkrankheit, herzkraut, herzkündiger, herzkützelnd, herzlabung, herzläppchen, herzlappen, herzlaub, herzleer, herzleid, herzlein, herzleuchte, herzleuchtend, herzlich, herzlichen, herzlichgeliebt, herzlichhoch, herzlichkeit, herzlicht, herzlieb, herzliebchen, herzliebend, herzlockend, herzlos, herzlose, herzlosigkeit, herzmacher, herzmahner, herzmangel, herzmarille, herzmensch, herzmitte, herzmixtur, herzmuschel, herzmutter, herznagel, herznagen, herznagend, herznehmend, herznetz, herznoth, herzohr, herzpein, herzpfeil, herzpfeilgemalt, herzpfirsche, herzpförtlein, herzpfrieme, herzpochen, herzpolei, herzpolle, herzpolyp, herzprieme, herzprobe, herzprüfer, herzpulver, herzpunkt, herzpuppern, herzrad, herzräuberisch, herzraubend, herzregierend, herzregung, herzreich, herzrein, herzreis, herzreue, herzring, herzritte, herzrittig, herzröhre, herzrösleingras, herzrührend, herzrührlich, herzrührung, herzruhig, herzsack, herzsaft, herzsame, herzschild, herzschlag, herzschlecht, herzschlechtig, herzschlechtigkeit, herzschmerzlich, herzschneidend, herzschrein, herzschwäche, herzsehnlich, herzseufzend, herzsieben, herzspann, herzspanne, herzsperr, herzspruch, herzstachelnd, herzstärkend, herzstärkung, herzstein, herzstemmend, herzstich, herzstosz, herzstrick, herzsucht, herzsüchtig, herztäuschend, herztausig, herztheilen, herzthür, herztief, herztrauer, herztrauerlich, herztraurig, herztraut, herztreu, herztreulich, herztute, herzung, herzvater, herzverbunden, herzverdriesz, herzverdrusz, herzverein, herzvergifterin, herzverknüpft, herzvernügen, herzvertraut, herzvielgeliebt, herzvoll, herzwasser, herzweh, herzwerth, herzwillig, herzwingen, herzwisser, herzwünschend, herzwunde, herzwunder, herzwurm, herzwurz, herzwurzel, herzzernagend, herzzerreiszend, herzzerschneidend, herzzittern, herzzucker, herzzwinger,
stop
phänomenal
marimba : 4.32 — Helena, die vor wenigen Tagen sechs Jahre alt geworden ist, fragte mich am Telefon, inwiefern sich ein Regenschirm von einem Schneeschirm unterscheide. Das ist eine aufregende Geschichte, dachte ich, ich habe von der Existenz der Schneeschirme noch nie zuvor gehört. Das ist nämlich so, sagte Helena, wenn es Regenschirme gibt, muss es auch Schneeschirme geben, wie Sonnenschirme und Windschirme. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte ich Helenas Frage. Du willst wissen, inwiefern sich Regenschirme von Schneeschirmen unterscheiden? Habe ich Dich richtig verstanden? Ja, antwortete Helena, was heißt inwiefern? Plötzlich war sie nicht mehr am Telefon. Ich hörte ihre Schritte, wie sie durch die ferne Wohnung lief, sie schien nach etwas zu suchen. Bald hörte ich ihre Stimme, sie erzählte eine Geschichte von einem Frosch, den sie im Garten entdeckt hatte, ihre Mutter lachte. Nach einer Weile hörte ich Helenas Schritte wieder näherkommen, dann ihre Stimme. Ich habe Dich fast vergessen, dass Du am Telefon bist, sagte Helena, das ist phänomenal. Sie lachte. Das ist ja wirklich phänomenal. Was bedeutet: phänomenal? — stop
drei brillen
delta : 3.32 — Leichter Schneefall, ohne Wind, schaukelnde Lichtpelzfetzen. Eichhörnchen jagen über die Straße hin und her, als freuten sie sich. Gegen zwei Uhr notiere ich eine E‑Mail an Moses Fernandez, von dem ich hörte, dass er in einem Haus nahe Pinamar bei Buenos Aires leben soll. Lieber Moses, Lilli, die sie persönlich kennenlernten in diesem Sommer, erzählte, dass sie eine Maschine entwickelt haben, die in der Lage sein soll, winzige, für menschliche Augen nicht entzifferbare Schriftzeichen zu notieren. Ich würde sehr gerne eine Schriftprobe in Auftrag geben. Würden Sie mir bitte einen kurzen Text, den ich im Anschluss an Sie senden werde, in nicht lesbare Größe transferieren. Ich verfüge über ein Mikroskop, um die Qualität ihrer Arbeit prüfen zu können. Wenn möglich, senden Sie das Schriftstück bitte auf dem Luftpostwege an folgende Adresse: Louis 8711 Kvarøy Sjøhus Norway. Mit bestem Dank im Voraus verbleibe ich mit herzlichen Grüßen: Ihr Louis /// Textprobe no1: go > 17.03 — Heute Morgen, war noch dunkel im Haus, hörte ich ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch näherte sich über die Treppe abwärts. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine der Brillen meiner Mutter, die seit dem Vorabend über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen bis zu einem Gewicht von 80 Gramm in die Luft zu heben, sie vorwärtszubewegen oder rückwärts durch Räume oder den Garten. Langsam durchquerte die Brille den Raum, kreiste einmal um meinen Kopf, und landete schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem meine Mutter sitzt, sobald sie ihr Frühstück zu sich nehmen möchte. Über drei Brillen verfügt meine Mutter, und jede dieser Brillen kann nun fliegen. Eine Brille wurde im Dachgeschoss stationiert, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte zu ebener Erde. Wenn nun Morgen werden wird, zu einer Zeit, da fast alle Menschen noch schlafen, erwachen vor den Vögeln bereits die Brillen meiner Mutter. Sie beginnen zu blinken, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels Funksignalen orientieren. Bald fliegen sie los, die Dachgeschossbrille ins Dachgeschoss, die Brille der ersten Etage in die erste Etage, die Brille des Erdgeschosses ins Erdgeschoss. Das Suchen hat ein Ende, alles wird gut! — stop ///
oft habe man tage lang gewartet
nordpol : 2.58 — Von ihrer Zeit, die sie als Flüchtlingskind auf dem Land verbrachte, erzählt Mutter immer wieder gern. Sie hatten genug zu essen, weil sie und ihre Schwestern bei einer Bauernfamilie wohnten. Wenn der Vater am Wochenende zu Besuch kam, ahnte sie nichts von Tieffliegerangriffen auf Züge, mit welchen der Vater reiste, aber an seine staubigen Anzüge, weil er sich auf den Boden werfen musste. Die brennende Stadt München, obwohl in großer Entfernung liegend, war im Schein der Feuer damals am Horizont zu erahnen gewesen, wie Abendrot inmitten der Nächte. Dann das Warten auf eine Nachricht am nächsten Morgen. Oft habe man tagelang gewartet. Sie selbst habe zweimal einen Bombenangriff auf München erlebt, das war zu Beginn des Luftkrieges. Sie habe sich nicht gefürchtet, es sei vielmehr spannend gewesen, mit ihren Nachbarn und anderen Leuten so eng in einem Keller zu sitzen. Es gab Pralinen für die Kinder und einen Geschichtenerzähler. Ein Jahr später sei ihre große Schwester nach einem Angriff lange Zeit verschüttet gewesen und deshalb für Wochen verstummt. In dieser Zeit habe sie gehört, dass die Schollwöcks abgeholt worden seien, sie könne nicht sagen, weshalb sie als Kind schon wusste, dass das Abholen etwas Schreckliches gewesen sein musste für die, die abgeholt wurden. Sie habe beobachtet, dass die Abgeholten niemals wiedergekommen seien, und dass von ihnen bald nicht mehr gesprochen wurde. Das alles habe sie als Kind schon so bemerkt, weil Kinder sehr viel mehr bemerkt haben, als die Erwachsenen vielleicht glaubten. Dass die Eltern in der Wohnung vor dem Krieg das Hitlerbild immer umgedreht haben, davon durfte sie nicht erzählen, in der Schule nicht und auch anderswo nicht. Einmal sei sie vom Land her wieder in die zerstörte Stadt zurückgekommen, es war ein nebliger Tag gewesen, sie habe zunächst gedacht, es sei der Nebel, aber das Haus, in dem sie und ihre Schwestern aufgewachsen waren, existierte nicht mehr. Damals würden sie Bisamratten gegessen haben, die schmeckten sehr gut, und der Vater sei gelb geworden im Gesicht, weil seine letzte Niere langsam versagte. In dieser Zeit habe der Vater ihr viel von der Welt erzählt, wie sie funktioniert, er sei verstört gewesen, dann sei er gestorben. — stop
über grönland
sierra : 0.25 — Plötzlich, wir flogen gerade über Grönland dahin, wurde das Mädchen wach mitten in der Nacht während eines Fluges gegen die Zeitrichtung von Ost nach West. Als wir in New York starteten, beinahe dunkel, oben, in großer Höhe über Boston wurde es etwas heller, Himmelsfarben von zartem Blau und orangefarbenen Tönen, die sich während des Nachtfluges kaum veränderten. Rauschende Stille unter dem Kabinendach, das sich über schlafenden Menschen wölbte, da und dort leuchtete der Bildschirm eines Computers oder eines Telefons im Dämmerlicht. Es war kühl geworden, vielleicht deshalb, weil es kühl geworden war, wachte das Mädchen auf. Das Mädchen war eine Japanerin, ungefähr sechzehn Jahre alt, zierlich, sie schien sehr routiniert im Fliegen zu sein, reckte sich, sah kurz zu mir hin, sah, dass ich eine Decke ausgebreitet hatte über meinen Beinen, fischte selbst eine Decke unter ihrem Sitz hervor, breitete sie über ihren Schoß, holte ein Handy aus ihrer Handtasche, die seltsam schillerte, als würde sie aus Flüssigkeit bestehen, und begann sofort zu schreiben. Das war eine seltsame Art und Weise zu schreiben, wie das Mädchen schrieb. Eine Hand, ihre linke Hand, hielt sie unter der Decke verborgen, in der rechten Hand ruhte das Telefon wie ein kleiner Vogel rücklings, so dass sein Telefonbauch sichtbar wurde, eine Tastatur, über welche nun ein Daumen in einer Geschwindigkeit hüpfte, dass ich meinen Blick nicht lösen konnte. Sie schrieb sehr lange Zeit, notierte WhatsApp — Nachrichten an Personen, deren Avatare ich gut, deren Zeichen ich unmöglich zu lesen vermochte, an Menschen oder Computer, die ihr unverzüglich antworteten, so dass sie von einem Dialog in einen anderen hüpfte, indessen sie ihrerseits beobachtete, wie ich meinerseits ihren Daumen beobachtete, was sie nicht weiter zu stören schien, vielleicht weil ihr gefiel, dass ich ihre Geschicklichkeit bestaunte, oder auch weil sie fand, dass sie über einen hübschen Daumen verfügte. Ihr Daumen war klein, dachte ich noch, weil er einer winzigen Japanerin gehörte, die in der Zeit, da sie neben mir saß, keinen Laut von sich gab. Ihren notierenden Daumen beobachtend, schlief ich schließlich ein. Als ich erwachte, war auch das Mädchen wieder eingeschlafen. Sie lag unter der Decke, die sie bis zu ihren Schultern hochgezogen hatte, ihre Hände waren vermutlich vor der Brust gekreuzt, genau dort bewegte sich etwas, hüpfte. Das war über Irland gewesen. Struktur eines neuen Jahrtausends. — stop