Aus der Wörtersammlung: eigentlich

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funkköpfe

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romeo : 6.22 — Ein klei­ne Geschich­te habe ich rasch zu erzäh­len. Sie ereig­ne­te sich ges­tern Abend gegen 22 Uhr. Ich war zu die­sem Zeit­punkt außer­or­dent­lich müde gewor­den, hat­te gera­de einen Brief an einen Freund geschrie­ben, in dem ich von neu­ro­chir­ur­gi­schen Kon­struk­ti­ons­ar­bei­ten in Funk­vo­gel­köp­fen berich­te­te, wie ich der Ein­pflan­zung eines Peil­sen­ders bei­gewohnt hat­te genau­er, von der Öff­nung eines Möwen­schä­dels, sowie ers­ten Flug­steue­rungs­ver­su­chen, Abstür­zen, aber auch geglück­ten Flug­ma­nö­vern, Loo­pings, über wel­che sich jene ers­te unter den fern­ge­steu­er­ten Möwen selbst ver­mut­lich sehr gewun­dert haben dürf­te. Kaum hat­te ich den Brief fer­tig notiert, klin­gel­te das Tele­fon. Ich wur­de in mei­ner Kon­zen­tra­ti­on gestört, und zwar genau in dem Moment, da ich die Adress­zei­le mei­nes E‑Mailprogramms bear­bei­te­te. Schon war es pas­siert, ich hat­te mei­ne E‑Mail ver­se­hent­lich an das Büro Wla­di­mir Putins geschickt, was nun eigent­lich von mei­ner Posi­ti­on aus nicht sehr gefähr­lich ist, aber doch unan­ge­nehm, weil ich dort­hin nicht in per­sön­li­cher Wei­se schrei­ben woll­te, weil man nicht weiß, wer bei Putin in Mos­kau her­ein­kom­men­de E‑Mails liest, und ob sie viel­leicht über­setzt oder wei­ter­ge­lei­tet wer­den. Inter­es­san­ter­wei­se beob­ach­te ich nun mit­tels der Live-Ver­si­on der Google–Analyticsmaschine, dass mei­ne Par­tic­les – Tex­te seit Stun­den von Mos­kau her betrach­tet wer­den. Da ist ein ziem­lich eigen­ar­ti­ges Gefühl, das sich schritt­wei­se ent­fal­tet. Bald frü­her Mor­gen. Die Amseln vor dem Fens­ter pfei­fen. Ich habe mir eine Enten­brust gebra­ten. Sie dampft wun­der­schön auf einem Tel­ler vor mir auf dem Tisch. Ja, eine wirk­lich unheim­li­che Geschich­te ist das, die Vögel, die Köp­fe, der Kreml. — stop
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vom rechnen

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echo : 6.57 — Als Kind beob­ach­te­te ich mei­nen Vater manch­mal, wenn er schlief. Aber eigent­lich schlief mein Vater damals nie, weil ich glaub­te, dass mein Vater, sobald er sei­ne Augen schloss, zu rech­nen begann. Das waren kom­pli­zier­te Pro­ze­du­ren der Alge­bra, wes­we­gen mein Vater für vie­le Stun­den sei­ne Augen nicht wie­der öff­nen konn­te. Er lag ganz still rech­nend auf dem Sofa im Wohn­zim­mer, vor allem an Sonn­tag­nach­mit­ta­gen oder an Wochen­ta­gen abends. Meis­tens hat­te er zum Rech­nen sei­ne Schu­he aus­ge­zo­gen. Ich erin­ne­re mich an graue oder schwar­ze Strümp­fe, die sich ein wenig beweg­ten. Natür­lich rech­ne­te mein Vater auch dann, wenn er wie­der wach gewor­den war. Er besaß eine Hand­com­pu­ter­ma­schi­ne von Texas Instru­ments, die über Leucht­schrift ver­füg­te in roter Far­be, klei­ne Zei­chen, die sich arbei­tend so schnell beweg­ten, dass sie unbe­weg­ten Krei­sen ähn­lich wur­den. Wenn mein Vater mit die­ser Maschi­ne rech­ne­te, mach­te er sich Noti­zen mit­tels eines Blei­stif­tes auf karier­tes Papier. Das schien sehr viel müh­sa­mer zu sein, als mit geschlos­se­nen Augen auf dem Sofa zu lie­gen, weil man sich in die­ser Wei­se Noti­zen machen muss­te. Wenn ich wie mein Vater sein woll­te, leg­te ich mich auf mein Bett und mach­te die Augen zu. Damals war bereits deut­lich gewor­den, dass ich kein guter Mathe­ma­ti­ker wer­den wür­de. Anstatt zu rech­nen, träum­te ich. Ich träum­te viel­leicht davon, dass ich nicht rech­nen konn­te. Ges­tern habe ich von etwas ande­rem geträumt. Ich habe geträumt, wie ich die Augen­li­der mei­nes Vaters weni­ge Minu­ten nach­dem er gestor­ben war mit zit­tern­den Hän­den berühr­te. — stop

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eiszimmer

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sier­ra : 6.52 — Vor eini­gen Tagen habe ich einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich kann mit Fug und Recht behaup­ten, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, woll­te ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­eis­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen, man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. — stop
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brummkreisel DOYU 66Y

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bamako : 18.55 — Ich habe über das Pro­blem leben­der Brumm­krei­sel nach­ge­dacht. Das ist näm­lich so, dass ein Lebe­we­sen, das einem Brumm­krei­sel ähn­lich sein wür­de, über zwei Abtei­lun­gen ver­fü­gen soll­te, über eine der Erde ver­bun­de­ne Fuß– oder Basis­ab­tei­lung einer­seits, sowie über eine sich dre­hen­de, krei­sen­de Ein­heit ande­rer­seits, die sich in den Momen­ten der Karus­sell­fahrt in Frei­heit, also unab­hän­gig von dem geer­de­ten Teil des Brumm­krei­sel­we­sens bewe­gen müss­te und doch ein­deu­tig ihm gehö­ren wür­de. Dem­zu­fol­ge wür­de die krei­sen­de Abtei­lung die­ses Wunsch­we­sens nach Ende ihrer rasen­den Fahrt zu sich selbst zurück­keh­ren, das heißt, sich mit der war­ten­den Fuß­ab­tei­lung in orga­ni­schem Sin­ne wie­der ver­ei­nen. Eigent­lich ist das ins­ge­samt nicht schwer zu den­ken. Ein Gefäß, anstatt eines Kop­fes, könn­te auf den Schul­tern der Basis­ab­tei­lung exis­tie­ren, eine Fas­sung, in wel­cher sich die unte­re Spit­ze des wir­beln­den Kör­per­tei­les frei dre­hend bewe­gen wür­de. In die­sem Gefäß soll­ten sich Öle befin­den, die dem mensch­li­chen Liqu­or ähn­lich sind. Nach einer Pha­se der Rota­ti­on wür­den sich in die­ser Flüs­sig­keit Blut­ge­fä­ße und Ner­ven­bah­nen, die zuvor gelöst wor­den waren, von unten nach oben erneut mit­ein­an­der in Ver­bin­dung brin­gen, sodass das Wesen bald wie­der zu einer voll­stän­di­gen Per­son gewor­den sein wird. Augen und Ohren, so stel­le ich mir vor, soll­ten sich in der unte­ren Abtei­lung befin­den, auch Füße zum Ste­hen und Wan­dern und alle Orga­ne, die für einen gesun­den Stoff­wech­sel not­wen­dig sind. Ja, so könn­te das mög­lich sein, das ist denk­bar, das macht Kno­ten im Kopf. — stop

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handohren

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sier­ra

~ : oe som
to : louis
sub­ject : HANDOHREN
date : may 27 12 3.05 a.m.

Lie­ber Lou­is, Mit­ter­nacht ist längst vor­über. Ich bin ruhig, aber ich kann nicht schla­fen. Seit Tagen geht das so mit mir, dass ich die Augen schlie­ße und doch wach lie­ge, zumin­dest nicht wirk­lich auf die ande­re Sei­te gelan­ge. Ich spü­re wie sich das Schiff auf und ab bewegt, manch­mal erhe­be ich mich und gehe spa­zie­ren an Deck, oder ich besu­che Lin, die sich für den Monat Mai in Nacht­schicht befin­det. Seit drei Tra­gen sitzt sie in der Werk­statt an der Über­tra­gung des Romans Mol­loy von Samu­el Beckett. Ich darf ihr zuse­hen, wie sie Zei­chen für Zei­chen aus dem papie­re­nen Buch kopiert, eine geschmei­di­ge Bewe­gung, sie schreibt, ohne ihren Blick auf den Stift zu rich­ten. Jedes Wort, das sie in Angriff nimmt, wird zunächst in den Raum geflüs­tert: Wach­tel­kö­nig. Als ob sie eine Anwei­sung geben wür­de, als ob ihre schrei­ben­de Hand über gehei­me Ohren ver­füg­te. Ich wünsch­te mir, ich könn­te ihre Hän­de ein­mal ein­ge­hend unter­su­chen, einen Bericht schrei­ben über die Ent­de­ckung der Hand­oh­ren kurz nach Mit­ter­nacht auf einem Schiff vor Neu­fund­land. Eigent­lich, lie­ber Lou­is, woll­te ich Dir von mei­nem ers­ten Besuch bei Noe in der Tie­fe berich­ten, was ich dort gese­hen habe, sei­ne Augen wie sie mei­ne Augen betrach­te­ten durch das Pan­zer­glas. Ich den­ke, ich bin noch nicht so weit. Ich wer­de Dir aus­führ­lich notie­ren, sobald ich ein­mal eine Nacht durch­ge­schla­fen habe. Es ist mög­lich, dass ich das Tau­chen nicht ver­tra­ge oder Noe’s hel­len Blick viel­leicht, der mich ver­folgt, ich gebe das zu, Noe’s Blick ver­folgt mich. Manch­mal den­ke ich, dass nicht rich­tig ist, was wir tun. Gute Nacht! Ahoi! Dein OE SOM

gesen­det am
27.05.2012
1620 zeichen

oe som to louis »

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ein inspektor der stille

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sier­ra : 16.05 — Seit eini­gen Tagen spa­ziert ein drah­ti­ger Herr von klei­ner Gestalt in mei­nem Kopf her­um. Er ist so deut­lich zu sehen, dass ich mei­nen könn­te, ich wür­de ihn ein­mal per­sön­lich gese­hen haben, eine Figur, die durch die Stadt New York irrt auf der Suche nach Lärm­quel­len, die so beschaf­fen sind, dass man ihnen mit pro­fes­sio­nel­len Mit­teln zu Lei­be rücken könn­te, Hupen, zum Bei­spiel, oder Pfeif­ge­räu­sche jeder Art, Klap­pern, Krei­schen, ver­zerr­te Radio­stim­men, Sire­nen, alle die­se ver­rück­ten Töne, die nicht eigent­lich begrün­det sind, weil sie ihre Ursprün­ge, ihre Not­wen­dig­keit viel­leicht längst ver­lo­ren haben im Lau­fe der Zeit, der Jah­re, der Jahr­zehn­te. Ich erin­ne­re mich in die­sem Moment, da ich von mei­ner Vor­stel­lung erzäh­le, an einen schril­len Ton in der Sub­way Sta­ti­on Lex­ing­ton Ave­nue / 63. Stra­ße nahe der Zugangs­schleu­sen. Die­ser Ton war ein irri­tie­ren­des Ereig­nis der Luft. Ich hat­te bald her­aus­ge­fun­den, woher das Geräusch genau kam, näm­lich von einer Klin­gel mecha­ni­scher Art, die über dem Häus­chen der Sta­ti­ons­vor­ste­he­rin befes­tigt war. Die­se Klin­gel schien dort schon lan­ge Zeit instal­liert zu sein, Kabel, von grü­nem Stoff umman­telt, die zu ihr führ­ten, waren von einer Schicht öli­gen Stau­bes bedeckt. Äußerst selt­sam an jenem Mor­gen war gewe­sen, dass ich der ein­zi­ge Mensch zu sein schien, der sich für das Geräusch inter­es­sier­te, weder die Zug­rei­sen­den, noch die Tau­ben, die auf dem Bahn­steig lun­ger­ten, wur­den von dem Geräusch der Klin­gel berührt. Auch die Sta­ti­ons­vor­ste­he­rin war nicht im min­des­ten an dem schril­len­den Geräusch inter­es­siert, das in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den ertön­te. Ich konn­te kei­nen Grund, auch kei­nen Code in ihm erken­nen, das Geräusch war da, es war ein Geräusch für sich, ein Geräusch wie ein Lebe­we­sen, des­sen Exis­tenz nicht ange­tas­tet wer­den soll­te. Wenn da nun nicht jener Herr gewe­sen wäre, der sich der Klin­gel näher­te. Er stand ganz still, notier­te in sein Notiz­heft, tele­fo­nier­te, dann war­te­te er. Kaum eine Vier­tel­stun­de ver­ging, als einem U‑Bahnwaggon der Linie 5 zwei jun­ge Män­ner ent­stie­gen. Sie waren in Over­alls von gel­ber Far­be gehüllt. Unver­züg­lich näher­ten sie sich der Klin­gel. Der eine Mann fal­te­te sei­ne Hän­de im Schoss, der ande­re stieg auf zur Klin­gel und durch­trenn­te mit einem muti­gen Schnitt die Lei­tung, etwas Ölstaub rie­sel­te zu Boden, und die­se Stil­le, ein Faden von Stil­le. — stop

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PRÄPARIERSAAL — ich sage immer: es geht mir gut.

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gink­go : 3.05 — Ich erin­ne­re mich an Olga, die sich kaum beweg­te, wäh­rend sie von ihren Ein­drü­cken des Prä­pa­rier­saa­les berich­te­te. Die jun­ge Frau schien wäh­rend unse­res Gesprä­ches jeder­zeit auf ihren Kör­per zu ach­ten, eine Tän­ze­rin, die in einer vor­ge­nom­me­nen Posi­ti­on gedul­dig und dis­zi­pli­niert eine Stun­de lang zur Übung ver­harrt, nur ihre Hän­de beweg­ten sich unent­wegt wie klei­ne Vögel über den Tisch, weil sie ihre Gedan­ken mit Zeich­nun­gen auf Ser­vi­et­ten unter­stüt­ze. Ihre war­me, wei­che Stim­me, die in die­ser Nacht­mi­nu­te vom Ton­band­ge­rät aus mit leich­tem Akzent zu mir spricht: > Ich mache das so. Ich stel­le mir Bezugs­punk­te vor. Wo also beginnt eine Struk­tur und wo endet sie, ein Mus­kel zum Bei­spiel. Und dann den­ke ich mir einen Nerv und fra­ge, wo setzt die­ser Nerv eigent­lich an? / Als ich am ers­ten Tag in die Ana­to­mie kam, habe ich mich zunächst gewun­dert, weil ich ein moder­nes Gebäu­de erwar­tet hat­te, einen Raum, der kalt ist. Außer­dem war ich über­rascht, eine so genaue Prä­pa­rier­an­lei­tung zu bekom­men. Nach zwei oder drei Wochen habe ich am Fuß prä­pa­riert. Plötz­lich der Gedan­ke, dass die­se Füße einen Men­schen ein Leben lang getra­gen haben. Da muss­te ich wei­nen. Wenn ich in die­sen Tagen nach Hau­se kom­me, sehe ich mei­ne Mut­ter, die in der Küche steht. Sie fragt, wie es mir geht. Ich sage immer: Es geht mir gut. Wenn ich mit Freun­den spre­che, mache ich oft ein­mal einen Spaß. Ich erzäh­le nicht alles, weil ich doch Respekt habe vor den Toten dort. Alles zu erzäh­len, wäre fast zu intim. Wenn mei­ne Freun­de bemer­ken, dass das dort eigent­lich eher ein wis­sen­schaft­li­cher Raum ist, ver­lie­ren sie sofort ihr Inter­es­se. / Da war also eine Hand. Die­se Hand war am Gelenk abknickt, sie wur­de nur noch von etwas Haut und Seh­nen und Gefä­ßen am Kör­per gehal­ten, weil ein Kno­chen ent­fernt wor­den war. Die­ser Anblick, ein Bild der Ver­hee­rung, hat mir schmerz­lich zuge­setzt. — stop
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union square : funkempfänger

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ulys­ses : 0.08 — Im Taxi, in eine Wand ein­ge­las­sen, die den Raum des Fah­rers von mei­nem Raum sorg­fäl­tig trennt, ein Fern­seh­ge­rät, das sich nicht aus­schal­ten lässt. Über­haupt schep­pert das Fahr­zeug in einer Wei­se, als wären sämt­li­che Schrau­ben, die am Mor­gen die­ses schö­nen Tages zu lösen gewe­sen waren, mit Absicht frei­ge­las­sen. Es ist ein altes Taxi, eines, das man foto­gra­fie­ren könn­te, es wäre nicht mög­lich, zu sagen, in wel­chem Jahr in New York man sich genau befin­det, nicht ein­mal das Jahr­zehnt wäre ein­deu­tig fest­zu­stel­len, in die­sem Taxi könn­te mein Vater noch gefah­ren sein, zu einer Zeit, da ich selbst noch kaum des Lau­fens mäch­tig gewe­sen war. Viel­leicht lässt sich das Fern­seh­ge­rät des­halb nicht aus­schal­ten, weil es eigent­lich nicht in die­ses Fahr­zeug gehört, es ist eine nach­träg­lich ein­ge­bau­te Per­sön­lich­keit, die Sequen­zen einer aktu­el­len Wirk­lich­keit emp­fängt und wie­der­gibt. Irgend­wo muss das Auto über einen Funk­emp­fän­ger ver­fü­ge für Fern­seh­wel­len. Gera­de sehen wir Mr. Rom­ney, aber wir hören ihn nicht, weil das Auto­mo­bil schep­pert und weil der Fah­rer ver­sucht sich mit mir zu unter­hal­ten, wäh­rend ich ver­su­che, ihm mit­zu­tei­len, dass ich das Fern­seh­ge­rät ger­ne lei­ser stel­len wür­de, oder aus­schal­ten noch viel lie­ber, um ihn, den Fah­rer ver­ste­hen zu kön­nen. Am Uni­on Squa­re hal­ten wir an, und der Mann, der mich fährt, ein sehr jun­ger, sehr kor­pu­len­ter schwar­zer Mann ver­lässt sein Auto­mo­bil, um sich die Sache mit dem Fern­seh­ge­rät näher anzu­se­hen. Eine beson­de­re Situa­ti­on ist nun ent­stan­den, weil der Fah­rer eigent­lich sein Fahr­zeug nie ver­lässt, so sieht er jeden­falls aus, es könn­te sein, dass er nicht wie­der hin­ein­fin­det in sei­nen Wagen und es ist noch dazu kei­ne Zeit für sol­che Din­ge, wir ste­hen inmit­ten des Ver­kehrs, es könn­te alles mög­li­che pas­sie­ren an die­ser Stel­le. – stop

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queens : ein mädchen

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lima : 22.06 — Es ist spä­ter Nach­mit­tag. Queens. Eigent­lich woll­te ich durch die Gegend strei­fen, in der Lou­is Arm­strong gelebt hat­te, sein Haus besu­chen, das zu einem Muse­um gewor­den ist. Als ich ein­tref­fe, Sta­ti­on North Coro­na, bereits Däm­me­rung. Die Stra­ßen schwach beleuch­tet. In der Nähe eines Fens­ters, das von der Sub­way in einem Abstand von 1 Meter pas­siert wird, sitzt ein dun­kel­häu­ti­ges Mäd­chen vor einem Fern­seh­ge­rät. Ich wür­de das Mäd­chen gern fra­gen, ob es mich sehen kann, ob es die Züge noch hört, die in fünf Minu­ten Fre­quenz an ihrem Wohn­zim­mer vor­über kom­men. Das sind schep­pern­de Züge, krei­schen­de, quiet­schen­de, ble­cher­ne Röh­ren. stop. Schlan­gen. stop. Unge­tü­me. stop. Wie vie­le Jah­re, wie vie­le Züge, die das Mäd­chen viel­leicht nicht hör­te? — stop

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new york — hurricane deck

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tango : 22.28 — Von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de. Als wär der Sonn­tag ohne Augen­licht gewe­sen. Als hät­te ich nur geträumt, über den Atlan­tik geflo­gen zu sein, fünf­tau­send Kilo­me­ter schloh­wei­ßer Wol­ken­de­cke bis kurz vor Neu­fund­land. Jamai­ka-Sta­ti­on. Roo­se­velt Island. Lex­ing­ton Ave­nue. Das hel­le Zim­mer im 22. Stock. Ein küh­ler Wind bläst über den Bal­kon. Rau­schen von tief unten von der Stra­ße her. Wie ich bald vor das Haus tre­te, kommt mir eine älte­re Frau ent­ge­gen, in einen fei­nen Man­tel­stoff gehüllt, Hän­de seit­lich gegen den Hals gefal­tet. Eigent­lich müss­te ich ihr unver­züg­lich fol­gen, sehen, war­um sie das macht, einer Geschich­te fol­gen, und die­sem damp­fen­den, rot und grün und blau blin­ken­den Dioden­hund, der sie beglei­tet, einem Rie­sen­tier, das ich berüh­ren soll­te, sei­ne Tem­pe­ra­tur zu füh­len. Ich ver­ste­he an die­sem Abend kein Wort in mei­nem Kopf. Ja, die­ses Rau­schen der Stadt. Süd­wärts wan­dern. Aus dem Boden sind die Stim­men der Sub­way­spre­cher zu hören, next sta­ti­on : grand cen­tral, das Rum­peln, das Zischen der Züge. Ich könn­te ein paar Stun­den noch so wei­ter­ge­hen und schla­fen. — stop



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