Aus der Wörtersammlung: gefäß

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PRÄPARIERSAAL : tonspule

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sier­ra : 2.36 — Ton­spu­le 68. Micha­el erzählt: > Ich beob­ach­te, dass ich mei­nen leben­di­gen Kör­per mit dem toten Gewe­be vor mir auf dem Tisch ver­glei­che. Ich lege Ner­ven, Mus­keln und Gefä­ße einer Hand frei, bestau­ne die Fein­heit der Gestal­tung, über­le­ge wie exakt das Zusam­men­spiel die­ser ana­to­mi­schen Struk­tu­ren doch funk­tio­nie­ren muss, damit ein Mensch Kla­vier spie­len, grei­fen, einen ande­ren Men­schen strei­cheln kann, wie umfas­send die Inner­va­ti­on der Haut, um Wär­me, Käl­te, ver­schie­de­ne Ober­flä­chen erfüh­len, ertas­ten zu kön­nen. Immer wie­der pen­delt mein Blick zwi­schen mei­ner leben­di­gen und der toten Hand hin und her. Ich bewe­ge mei­ne Fin­ger, ein­mal schnell, dann wie­der lang­sam, ich schrei­be, ich notie­re, was ich zu ler­nen habe, bis zur nächs­ten Prü­fung am Tisch, und beob­ach­te mich in die­sen Momen­ten des Schrei­bens. Abends tref­fen wir uns in der Biblio­thek hier gleich um die Ecke und ler­nen gemein­sam. Vor allem vor den Testa­ten wer­den die Näch­te lang. Ich kann zum Glück gut schla­fen. Unse­re Assis­ten­tin ist eine jun­ge Ärz­tin, die noch nicht ver­ges­sen hat, wie es für sie selbst gewe­sen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freund­lich zu uns. Aber natür­lich ach­tet sie streng auf die Ein­hal­tung der Regeln, kein Han­dy, kein Kau­gum­mi im Mund, ange­mes­se­ne Klei­dung. Manch­mal ver­sam­melt sie uns und wir pro­ben am Tisch ste­hend das nahen­de Tes­tat, es gibt eigent­lich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt wer­den, das erhöht natür­lich unse­re Auf­merk­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on enorm. Ein­mal erzähl­te sie uns eine Geschich­te, die mich sehr berühr­te. Sie sag­te, ihre Mut­ter sei sehr stolz, dass sie eine Ärz­tin gewor­den ist. Sie habe ihr ein­ge­schärft: Was Du gelernt hast, kann Dir nie­mand mehr neh­men. Aber natür­lich, als wir die fei­nen Blut­ge­fäs­se betrach­te­ten, die unser Gehirn mit Sau­er­stoff ver­sor­gen, wur­de mir bewusst, dass wir doch auch zer­brech­lich sind, dass unser Leben sehr plötz­lich zu Ende gehen kann. Im Moment will ich dar­an aber nicht den­ken. Ich bin froh hier sein zu dür­fen, ich habe lan­ge dar­auf gewar­tet. Manch­mal gehe ich durch den Saal spa­zie­ren. Wenn ich Lun­gen­flü­gel betrach­te, oder Her­zen, oder Kehl­köp­fe, Lage und Ver­lauf ein­zel­ner Struk­tu­ren, dann erken­ne ich, dass im All­ge­mei­nen alles das, was in dem einen Kör­per anzu­tref­fen ist, auch in dem ande­ren ent­deckt wer­den wird, kein Kör­per jedoch ist genau wie der ande­re, damit wer­de ich in Zukunft zu jeder­zeit rech­nen. — stop
polaroidfähre

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paris

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sier­ra : 5.25 — In der Mor­gen­däm­me­rung kom­me ich an, es ist die Stadt Paris gewe­sen, Gare de l’Est. Im Zug hat­te eine Frau von mons­trö­sen Aus­ma­ßen neben mir Platz genom­men, press­te mich gegen eine Wand des Abtei­les, ich konn­te kaum atmen, und wie ich den Bahn­hof ver­las­se, folgt sie mir. Ich gehe west­wärts Rich­tung Mont­par­nas­se. Plötz­lich sit­ze ich in einem Café, in dem alle Gegen­stän­de von Holz sind. Der Boden, die Wän­de, Stüh­le, Tische, auch die Tel­ler, Ser­vi­et­ten, Tas­sen und die Blu­men in ihren höl­zer­nen Gefä­ßen, das Was­ser der Vasen, der Kaf­fee, selbst die Frau, am Nach­bar­tisch, die sich freund­lich nach einer Ziga­ret­te erkun­digt, scheint zu grö­ße­ren Tei­len aus Holz zu bestehen, Hals, Stirn, Wan­gen, Arme und Hän­de, eines ihrer Augen. Auf dem Tisch vor mir sitzt eine Amei­se. Sie bewegt sich kaum. Ich weiß, dass sie zu mir gehört, ich habe sie gekauft. Der Mann, der mir die Amei­se ver­kauf­te, steht auf der Stra­ße vor dem Café und spricht mit jener Frau, die mir folgt. Er trägt einen Hut, eine Melo­ne, die Frau scheint wei­ter­hin zu wach­sen. Bei­de schau­en in mei­ne Rich­tung, sie lachen. Dann kommt der Mann zurück. Er schüt­tet eine Hand­voll Sul­ta­ni­nen auf den Tisch, sagt, dass ich die Früch­te in Schei­ben zer­le­gen sol­le, weil Amei­sen, gera­de die­se Amei­se, die zu mei­nem Eigen­tum gewor­den ist, Sul­ta­ni­nen bevor­zugt ver­zeh­ren wür­den. Das klei­ne Tier ist sehr kost­bar. Es ist eine Amei­se, die ihr Leben heim­lich mit Samu­el Beckett geteilt haben soll, ich habe das schrift­lich, eine Amei­se mit einem wun­der­vol­len Gehirn, sie ist sehr alt, ver­fügt über Ohren und spricht mit den Füh­lern. Ich weiß nicht, wie ich die Amei­se trans­por­tie­ren soll, des­halb wache ich auf und wun­de­re mich, weil ich kein Licht sehe. Aber ich spü­re die Schrit­te einer Amei­se auf mei­nem Bauch. Sie läuft kreuz und quer, bald sitzt sie unter­halb mei­nes lin­ken Auges. Das Tier scheint zu war­ten. — stop

polaroidglas

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australien

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oli­mam­bo : 3.26 — Im ana­to­mi­schen Insti­tut, unter dem Prä­pa­rier­saal, befin­den sich Arbeits­räu­me für Prä­pa­ra­to­ren, das sind klei­ne­re Zim­mer, in wel­chen metal­le­ne Tische ste­hen, hel­les Licht, sehr hel­les Licht, Lupen­leuch­ten, Pin­zet­ten, Skal­pel­le, Gefä­ße aller Art. Ich besuch­te dort meh­re­re Male einen älte­ren Herrn, durf­te ihm gegen­über Platz neh­men, beob­ach­te­te ihn bei der Arbeit an einem Herz, das vor uns auf dem Tisch ruh­te. Ich erin­ne­re mich noch gut an sei­ne hel­len, fein­glied­ri­gen Hän­de, wie sie rasend schnell Gewe­be vom Herz­kör­per zupf­ten. Der alte Mann war sehr erfah­ren in der Prä­pa­ra­ti­on, und er war schweig­sam, also spra­chen wir wenig. Ges­tern Abend habe ich an ihn gedacht, weil ich nach einem Tele­fon­ge­spräch eine Fra­ge ent­deck­te, die ich nun ger­ne sofort an ihn rich­ten wür­de, wenn ich nur wüss­te, ob er noch exis­tiert. Ich wür­de näm­lich ger­ne erfah­ren, wie es mög­lich sein kann, das Ske­lett eines Men­schen, der gera­de erst gestor­ben ist, sei­nem Kör­per zu ent­neh­men und auf dem Luft­post­weg von Aus­tra­li­en nach Euro­pa zu sen­den. Genau das ist näm­lich vor nicht ein­mal einem hal­ben Jahr­hun­dert gesche­hen. Eine Freun­din, die in Grie­chen­land auf­ge­wach­sen war, eine Grie­chin also, erzähl­te mir ges­tern, sie habe in ihrer Schul­zeit ein mensch­li­ches Ske­lett vor Augen gehabt, von dem sie wuss­te, dass es echt gewe­sen war, dass es zu einem Bür­ger der Stadt, in der sie leb­te, gehör­te. Die­ser Mann war nach Aus­tra­li­en aus­ge­wan­dert, um vor der Armut und Hoff­nungs­lo­sig­keit, in der er leb­te, zu flüch­ten. Kaum in Aus­tra­li­en ange­kom­men, starb der Mann. Und weil er nichts wei­ter zu ver­schen­ken hat­te, ver­mach­te er sein Ske­lett der Schu­le sei­ner Stadt. Der Mann hieß mit Vor­na­men Teofa­nis, wes­halb auch das Ske­lett die­sen Namen trug. Teofa­nis kehr­te also an den Ort zurück, an dem er gebo­ren wor­den war, genau­er sogar in das Klas­sen­zim­mer, in dem er sei­ne Matu­ra abge­legt hat­te, um dort dau­er­haft zu ver­wei­len in einer fei­nen Geschich­te, deren eigent­li­ches Ende in der Zeit noch nicht abzu­se­hen ist. — stop

polaroidtraumbild

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PRÄPARIERSAAL : nachthörnchen

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nord­pol : 5.15 — Seit zwei Stun­den sitzt ein Eich­hörn­chen auf mei­nem Fens­ter­brett. Es ist mit­ten in der Nacht und so kalt, dass ich den Atem des klei­nen Tie­res, das um die­se Uhr­zeit eigent­lich tief schla­fen soll­te, in der Dun­kel­heit zu erken­nen ver­mag. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht viel­leicht täu­sche. Es ist denk­bar, dass ich mir das Eich­hörn­chen nur vor­stel­le. Und wie ich über die Mög­lich­keit der Täu­schung nach­den­ke, bemer­ke ich, dass die Vor­stel­lung eines Eich­hörn­chens mit­tels weit geöff­ne­ter Augen tat­säch­lich gelin­gen kann und zwar je für ein oder zwei Sekun­den in einem Bild, das pul­siert, das in der drit­ten Sekun­de schon wie­der ver­lo­ren ist und zunächst dann wie­der erscheint, wenn ich das Wort Eich­hörn­chen den­ke oder Eich­hörn­chen­schweif. Ich muss das wei­ter beob­ach­ten. Wenn ich nun die Noti­zen Micha­els aus dem Prä­pa­rier­saal, die vor mir auf dem Tisch lie­gen, betrach­te, weiß ich, dass sie kei­ne Täu­schung sind, weil ich das Papier, auf dem sie sich befin­den, berüh­ren, vom Tisch heben, fal­ten und wie­der ent­fal­ten kann, und damit gleich­wohl Micha­els Zei­chen, die kei­ner­lei pul­sie­ren­der Bewe­gung unter­wor­fen sind. Er schreibt: Ich beob­ach­te, dass ich mei­nen leben­di­gen Kör­per mit dem toten Gewe­be vor mir auf dem Tisch ver­glei­che. Ich lege Ner­ven, Mus­keln und Gefä­ße einer Hand frei, bestau­ne die Fein­heit der Gestal­tung, über­le­ge, wie exakt das Zusam­men­spiel die­ser ana­to­mi­schen Struk­tu­ren doch funk­tio­nie­ren muss, damit ein Mensch Kla­vier spie­len, grei­fen, einen ande­ren Men­schen strei­cheln kann, wie umfas­send die Inner­va­ti­on der Haut, um Wär­me, Käl­te, ver­schie­de­ne Ober­flä­chen erfüh­len, ertas­ten zu kön­nen. Immer wie­der pen­delt mein Blick zwi­schen mei­ner leben­di­gen und der toten Hand hin und her. Ich bewe­ge mei­ne Fin­ger, ein­mal schnell, dann wie­der lang­sam, ich schrei­be, ich notie­re, was ich zu ler­nen habe, bis zur nächs­ten Prü­fung am Tisch, und beob­ach­te mich in die­sen Momen­ten des Schrei­bens. Abends tref­fen wir uns in der Biblio­thek hier gleich um die Ecke und ler­nen gemein­sam. Vor allem vor den Testa­ten wer­den die Näch­te lang. Ich kann zum Glück gut schla­fen. Unse­re Assis­ten­tin ist eine jun­ge Ärz­tin, die noch nicht ver­ges­sen hat, wie es für sie selbst gewe­sen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freund­lich zu uns. Aber natür­lich ach­tet sie streng auf die Ein­hal­tung der Regeln, kein Han­dy, kein Kau­gum­mi im Mund, ange­mes­se­ne Klei­dung. Manch­mal ver­sam­melt sie uns und wir pro­ben am Tisch ste­hend das nahen­de Tes­tat, es gibt eigent­lich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt wer­den, das erhöht natür­lich unse­re Auf­merk­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on enorm. Ein­mal erzähl­te sie uns eine Geschich­te, die mich sehr berühr­te. Sie sag­te, ihre Mut­ter sei sehr stolz, dass sie eine Ärz­tin gewor­den ist. Sie habe ihr ein­ge­schärft: Was Du gelernt hast, kann Dir nie­mand mehr neh­men. Aber natür­lich, als wir die fei­nen Blut­ge­fä­ße betrach­te­ten, die unser Gehirn mit Sau­er­stoff ver­sor­gen, wur­de mir bewusst, dass wir doch auch zer­brech­lich sind, dass unser Leben sehr plötz­lich zu Ende gehen kann. Im Moment will ich dar­an aber nicht den­ken. Ich bin froh hier sein zu dür­fen, ich habe lan­ge dar­auf gewar­tet. Manch­mal gehe ich durch den Saal spa­zie­ren. Wenn ich Lun­gen­flü­gel betrach­te, oder Her­zen, oder Kehl­köp­fe, Lage und Ver­lauf ein­zel­ner Struk­tu­ren, dann erken­ne ich, dass im All­ge­mei­nen alles das, was in dem einen Kör­per anzu­tref­fen ist, auch in dem ande­ren ent­deckt wer­den wird, kein Kör­per jedoch ist genau wie der ande­re, damit wer­de ich in Zukunft zu jeder Zeit rech­nen. — stop

polaroidtraumzeichnung

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PRÄPARIERSAAL : verwandlung

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alpha : 1.55 — Mein Ton­band­ge­rät wird viel­leicht bald auf­hö­ren zu exis­tie­ren. Ein Knis­tern ist zu ver­neh­men, sobald sich die Moto­ren der Maschi­ne in Bewe­gung set­zen. Wenn ich sie schüt­te­le, scheint etwas in ihr her­um­zu­fal­len, wes­halb ich sie in die­ser Nacht öff­nen wer­de, um nach­zu­se­hen, ob ich etwas tun kann, um ihren Ver­fall auf­zu­hal­ten. Es ist jetzt 1 Uhr 32 Minu­ten. Noch dre­hen sich die Räder der Maschi­ne. Gera­de eben erzähl­te Yolan­de aus Kame­run von ihrer Erfah­rung der Ver­wand­lung in der Umge­bung ana­to­mi­scher Arbeit : > Ich habe schon am ers­ten Abend gespürt, dass sich in mei­nem Leben etwas ver­än­dern wür­de. Ich kann mich, wie ich schon sag­te, nicht sehr gut an mei­nen ers­ten Tag im Prä­pa­rier­saal erin­nern. Als ich nachts vor dem Spie­gel stand, waren mei­ne Augen gerö­tet. Das mach­te mir Sor­gen. Ich konn­te nicht ein­schla­fen und dar­um bin ich im Zim­mer auf und abge­lau­fen. Und plötz­lich hat­te ich ein ganz star­kes Gefühl von Leben­dig­sein in mir. Ich hat­te das Gefühl, dass die­se all­täg­li­chen, klei­nen Schwie­rig­kei­ten unter Men­schen, unbe­deu­tend sind. Alles völ­lig unwich­tig. Ich habe dann sehr gut geschla­fen. — Wenn ich von mei­ner Erfah­rung des Prä­pa­rier­kur­ses erzäh­le, reagie­ren die Men­schen mit respekt­vol­lem Stau­nen. Ihre Augen wer­den groß und immer grö­ßer, je mehr sie erfah­ren. Sie mei­nen sehr häu­fig, dass sie das selbst nie­mals aus­hal­ten wür­den. Dann erzäh­le ich gern von mei­nen Freun­den am Tisch. Ich habe als sehr wert­voll emp­fun­den, in einem Team arbei­ten zu kön­nen. Wir mach­ten die­sel­ben Erfah­run­gen und hat­ten ein gemein­sa­mes Ziel: das Erler­nen der Struk­tu­ren des mensch­li­chen Kör­pers. Außer­dem fand ich sehr ange­nehm mit den Hän­den arbei­ten zu kön­nen, ich konn­te die Mate­rie anfas­sen, Mus­keln und Ner­ven und Blut­ge­fä­ße. Wir waren alle weiß geklei­det, viel­leicht fühl­ten wir uns des­halb wie in einer ande­ren Haut. In dem Moment, da ich mei­nen wei­ßen Kit­tel anzog und mei­ne Hand­schu­he, hat­te ich das Gefühl mich zu ver­wan­deln. Auch dann, wenn ich mir nur aus­mal­te, wie ich mei­ne Hand­schu­he über­streif­te, ver­wan­del­te ich mich auf der Stel­le. — stop

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apfelohren

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del­ta : 6.35 — Ges­tern hab ich eine lus­ti­ge E‑Mail emp­fan­gen. Sie war irgend­wann wäh­rend ich schlief auf mei­nem Com­pu­ter laut­los ein­ge­trof­fen. Die Per­son, die mir geschrie­ben hat­te, woll­te wis­sen, wie ich vor­ge­he, wenn ich nachts einen Apfel oder eine Apri­ko­se oder Bana­nen belau­sche. Ich hat­te zunächst eini­ge gute Grün­de auf die­se Fra­ge nicht ein­zu­ge­hen, gera­de auch des­halb, weil der Absen­der der E‑Mail, einen selt­sa­men Namen ange­ge­ben hat­te, des­sen Exis­tenz ich über die Goog­le — Such­ma­schi­ne ver­geb­lich zu prü­fen such­te. Aber dann schien mir doch reiz­voll zu sein, dem Absen­der der E‑Mail zu ant­wor­ten. Ich notier­te kurz und bün­dig, dass ich, wenn ich einen Apfel belau­sche, den Apfel in eine mei­ner Hän­de neh­me, um ihn tat­säch­lich an eines mei­ner Ohren zu füh­ren. Was man, wenn man in die­ser Wei­se vor­geht, hören kann, ist natür­lich zunächst das Rau­schen des Blu­tes in den eige­nen Ohr­ge­fä­ßen, sonst aber nichts, abge­se­hen von Geräu­schen viel­leicht, die man sich gründ­lich vor­zu­stel­len ver­mag, Geräu­schen orga­ni­schen Zer­falls zum Bei­spiel, einem Pfei­fen, einem Sau­sen, oder den Beiß­ge­räu­schen eines Wurm­kie­fers in grö­ße­rer Apfel­tie­fe. Ich attes­tier­te in einem Ant­wort­schrei­ben sehr ernst­haft, dass ein Apfel ein stil­les Wesen sei, immer­hin habe ich nicht nur einen, ich habe min­des­tens fünf Äpfel belauscht, Bir­nen, Trau­ben, Bana­nen, Pfir­si­che, alle sind sie ohne tat­säch­li­che Geräu­sche in den Fre­quen­zen mensch­li­chen Hör­ver­mö­gens. Dafür leg ich eine Hand ins Feu­er, jawohl, es ist Mon­tag: Rasen­de Wol­ken. — stop

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bienenkönigin

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tama­rin : 6.41 — Eine Urkun­de exis­tiert seit eini­gen Wochen, die bezeugt, dass der Kör­per mei­nes ver­stor­be­nen Vaters tat­säch­lich ver­brannt wur­de. Dort ist in groß­zü­gi­gen Buch­sta­ben alt­deut­scher Schrift ver­merkt, wann die Ver­bren­nung erfolg­te, Jahr, Tag, Stun­de. Die Dau­er des Ver­bren­nungs­vor­gan­ges wur­de auf eine Minu­te genau ange­zeigt. Ich dach­te zunächst, irgend­je­mand muss sich an einer Uhr ori­en­tiert haben, weil viel­leicht eine Vor­schrift exis­tiert, die prä­zi­se Zeit­an­ga­ben erfor­dert. Nach der Ver­bren­nung, auch das ist nach­weis­bar so gesche­hen, wur­de ein Gefäß, in dem Ato­me mei­nes Vaters ent­hal­ten waren, auf den Post­weg gebracht. Das ist durch­aus mög­li­che Metho­de letz­ter Rei­sen, da allein Sen­dun­gen, die leben­de Tie­re oder sterb­li­che Über­res­te von Men­schen ent­hal­ten vom Trans­port auf dem Post­weg aus­ge­schlos­sen sind. Aus­ge­nom­men von die­ser Vor­schrift: Urnen und wir­bel­lo­se Tie­re, wie Bie­nen­kö­ni­gin­nen und Fut­ter­in­sek­ten. Selt­sa­me Geschich­te. Ich muss dar­über nach­den­ken, obwohl ich im Moment noch nicht weiss, wor­über genau und war­um. — stop

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ohrentraum

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bamako : 5.55 — War im Restau­rant. Dort schritt die Zeit sehr viel schnel­ler als übli­cher­wei­se vor­an. Jeder ein­tre­ten­de Besu­cher wur­de gewarnt, unge­fähr so: Guten Abend mein Herr, wir wol­len sie dar­auf hin­wei­sen, dass ein Abend bei uns sie um etwa ein Jahr älter wer­den lässt. Tat­säch­lich fla­cker­te im Saal das Licht auf­ge­regt, das waren viel­leicht Däm­me­run­gen, Näch­te und Tage. Auch mein Herz schlug wie ver­rückt und das Blut zisch­te durch mei­ne Blut­ge­fä­ße. Ich ver­speis­te 250 Gramm gerös­te­ter mensch­li­cher Ohren in einer sanf­ten Zitro­nen­sauce. Als ich erwach­te, hör­te ich mei­ne eige­ne Stim­me, die etwas sag­te, das ich nicht ver­stand. Ich mach­te Kaf­fee und ich notier­te mei­nen Traum unver­züg­lich. Über die Notiz setz­te ich das Wort: Ohren­traum. — stop

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brummkreisel DOYU 66Y

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bamako : 18.55 — Ich habe über das Pro­blem leben­der Brumm­krei­sel nach­ge­dacht. Das ist näm­lich so, dass ein Lebe­we­sen, das einem Brumm­krei­sel ähn­lich sein wür­de, über zwei Abtei­lun­gen ver­fü­gen soll­te, über eine der Erde ver­bun­de­ne Fuß — oder Basis­ab­tei­lung einer­seits, sowie über eine sich dre­hen­de, krei­sen­de Ein­heit ande­rer­seits, die sich in den Momen­ten der Karus­sell­fahrt in Frei­heit, also unab­hän­gig von dem geer­de­ten Teil des Brumm­krei­sel­we­sen bewe­gen müss­te und doch ein­deu­tig zu ihm gehö­ren wür­de. Dem­zu­fol­ge wür­de die krei­sen­de Abtei­lung die­ses Wunsch­we­sens nach Ende ihrer rasen­den Fahrt zu sich selbst zurück­keh­ren, das heißt, sich mit der war­ten­den Fuß­ab­tei­lung in orga­ni­schem Sin­ne wie­der ver­ei­nen. Eigent­lich ist das ins­ge­samt nicht schwer zu den­ken. Ein Gefäß, anstatt eines Kop­fes, könn­te auf den Schul­tern der Basis­ab­tei­lung exis­tie­ren, eine Fas­sung, in wel­cher sich die unte­re Spit­ze des wir­beln­den Kör­per­tei­les frei dre­hend bewe­gen wür­de. In die­sem Gefäß soll­ten sich Öle befin­den, die dem mensch­li­chen Liqu­or ähn­lich sind. Nach einer Pha­se der Rota­ti­on wür­den sich in die­ser Flüs­sig­keit Blut­ge­fä­ße und Ner­ven­bah­nen, die zuvor gelöst wor­den waren, von unten nach oben erneut mit­ein­an­der in Ver­bin­dung brin­gen, so dass das Wesen bald wie­der zu einer voll­stän­di­gen Per­son gewor­den sein wird. Augen und Ohren, so stel­le ich mir vor, soll­ten sich in der unte­ren Abtei­lung befin­den, auch Füße zum Ste­hen und Wan­dern und alle Orga­ne, die für einen gesun­den Stoff­wech­sel not­wen­dig sind. Ja, so könn­te das mög­lich sein, das ist denk­bar, das macht Kno­ten im Kopf. — stop

ping

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PRÄPARIERSAAL — ich sage immer: es geht mir gut.

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gink­go : 3.05 — Ich erin­ne­re mich an Olga, die sich kaum beweg­te, wäh­rend sie von ihren Ein­drü­cken des Prä­pa­rier­saa­les berich­te­te. Die jun­ge Frau schien wäh­rend unse­res Gesprä­ches jeder­zeit auf ihren Kör­per zu ach­ten, eine Tän­ze­rin, die in einer vor­ge­nom­me­nen Posi­ti­on gedul­dig und dis­zi­pli­niert eine Stun­de lang zur Übung ver­harrt, nur ihre Hän­de beweg­ten sich unent­wegt wie klei­ne Vögel über den Tisch, weil sie ihre Gedan­ken mit Zeich­nun­gen auf Ser­vi­et­ten unter­stüt­ze. Ihre war­me, wei­che Stim­me, die in die­ser Nacht­mi­nu­te vom Ton­band­ge­rät aus mit leich­tem Akzent zu mir spricht: > Ich mache das so. Ich stel­le mir Bezugs­punk­te vor. Wo also beginnt eine Struk­tur und wo endet sie, ein Mus­kel zum Bei­spiel. Und dann den­ke ich mir einen Nerv und fra­ge, wo setzt die­ser Nerv eigent­lich an? / Als ich am ers­ten Tag in die Ana­to­mie kam, habe ich mich zunächst gewun­dert, weil ich ein moder­nes Gebäu­de erwar­tet hat­te, einen Raum, der kalt ist. Außer­dem war ich über­rascht, eine so genaue Prä­pa­rier­an­lei­tung zu bekom­men. Nach zwei oder drei Wochen habe ich am Fuß prä­pa­riert. Plötz­lich der Gedan­ke, dass die­se Füße einen Men­schen ein Leben lang getra­gen haben. Da muss­te ich wei­nen. Wenn ich in die­sen Tagen nach Hau­se kom­me, sehe ich mei­ne Mut­ter, die in der Küche steht. Sie fragt, wie es mir geht. Ich sage immer: Es geht mir gut. Wenn ich mit Freun­den spre­che, mache ich oft ein­mal einen Spaß. Ich erzäh­le nicht alles, weil ich doch Respekt habe vor den Toten dort. Alles zu erzäh­len, wäre fast zu intim. Wenn mei­ne Freun­de bemer­ken, dass das dort eigent­lich eher ein wis­sen­schaft­li­cher Raum ist, ver­lie­ren sie sofort ihr Inter­es­se. / Da war also eine Hand. Die­se Hand war am Gelenk abknickt, sie wur­de nur noch von etwas Haut und Seh­nen und Gefä­ßen am Kör­per gehal­ten, weil ein Kno­chen ent­fernt wor­den war. Die­ser Anblick, ein Bild der Ver­hee­rung, hat mir schmerz­lich zuge­setzt. — stop
ping