Aus der Wörtersammlung: gelb

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vom rotkehlchen

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char­lie : 16.02 — Am 28. Juli 2014 bereits wur­de am Fuße eines Ber­ges im Schat­ten einer Buche eine Rechen­ma­schi­ne gefun­den, in ihren Ver­zeich­nis­sen ein Ord­ner, den der Besit­zer der Rechen­ma­schi­ne Herr Lud­wig L. mit der Bezeich­nung Archiv ver­se­hen hat­te. Es han­delt sich um einen unge­wöhn­lich umfang­rei­chen Ord­ner, 425 Giga­byte groß, in dem 1245 ver­schlüs­sel­te Fil­me ent­hal­ten sein sol­len. Wo sich Herr L. zu die­sem Zeit­punkt befin­det, weiß nie­mand so genau. Er soll sich auf den Weg auf­wärts gemacht haben, zuletzt wur­de er auf moos­be­wach­se­nen Stei­nen eines Bach­bet­tes klet­ternd gese­hen. Er mach­te auf einer Höhe von 872 Metern einen fröh­li­chen Ein­druck, war mit fes­ten Schu­hen, einem gel­ben Ruck­sack, Regen­schirm und Regen­um­hang aus­ge­rüs­tet, einem Seil wei­ter­hin, Kara­bi­nern, sowie einem klei­nen Ham­mer und einem Kom­pass. So jeden­falls wur­de er beschrie­ben von meh­re­ren Zeu­gen, die ihm begeg­net sein wol­len. Sie sagen alle das­sel­be: Der Mann war glück­lich. Ein­mal stand er bis zu den Hüf­ten im kal­ten Was­ser eines Kes­sels, den der Bach gleich­mü­tig in das Gestein des Ber­ges gegra­ben hat­te. Er grüß­te zur Brü­cke hin­auf, Wan­de­rer beob­ach­te­ten ihn. Ein Rot­kehl­chen bade­te in sei­ner Nähe. Forel­len hüpf­ten aus dem Was­ser, glän­zen­de Rücken im Licht der Son­ne, die durch die kar­gen Wip­fel strahl­te. Auf 2105 Metern Höhe begeg­ne­te der Mann einem Hir­ten und sei­nem Hund, dann war er ver­schwun­den. Kei­ner­lei Spur seit­her, auch heu­te nicht, da sich ein Zoll­be­am­ter der Unter­su­chung der zurück­ge­las­se­nen Rechen­ma­schi­ne wid­me­te. Es ist 15 Uhr, Frei­tag. — stop

ping

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valletta : west street

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nord­pol : 2.54 — Ges­tern Abend erreich­te mich eine E‑Mail von Geor­ges. Er schreibt: Mein lie­ber Lou­is, wie ich durch die Stadt Val­let­ta schlen­der­te, bemerk­te ich in der West Street nahe St. Lucia eine klei­ne Werk­statt. Sie war düs­ter, aber gera­de noch hell genug, dass ich ein Mäd­chen erken­nen konn­te, das an einem Tisch saß, sie schien Haus­auf­ga­ben zu machen. Ich rich­te­te mei­ne Kame­ra auf das Mäd­chen, um es zu foto­gra­fie­ren, da hob sie den Kopf und sah mich an, mit einem freund­li­chen Blick. Ich frag­te, ob ich ein­tre­ten dür­fe. Es war ein wirk­lich düs­te­rer Ort, das Licht der Stra­ße erreich­te gera­de noch den Tisch, auf dem das Schul­heft des Mäd­chens lag, und es war kühl, und es ging ein leich­ter Wind. In der Tie­fe des Rau­mes erkann­te ich einen wei­te­ren Tisch, der von einer Glüh­bir­ne beleuch­tet wur­de, die ohne Schirm von der Decke bau­mel­te. Hin­ter dem Tisch hock­te ein dun­kel­häu­ti­ger, alter Mann mit wei­ßem Haar. Ich grüß­te auch in sei­ne Rich­tung. Als ich mich gera­de her­um­dre­hen woll­te, um auf die Stra­ße zurück­zu­keh­ren, schal­te­te der Mann einen glä­ser­nen Leucht­glo­bus an. Ein schö­nes blau­es und gel­bes Licht von Mee­ren und Wüs­ten strahl­te in den Raum, vor des­sen Wän­den Rega­le bis zur Decke rag­ten. Dort war­te­ten wei­te­re Erd­ku­geln, es waren eini­ge Hun­dert bestimmt. Ich bemerk­te, dass der Mann auf dem Tisch Gläs­chen mit Far­be zu einer Rei­he abge­stellt hat­te, er selbst hielt einen fei­nen Pin­sel und ein Mes­ser mit einer win­zi­gen Klin­ge in der Hand. Außer­dem ruh­te der Glo­bus vor dem Mann auf dem Kopf, viel­leicht des­halb, weil er ein­mal aus sei­ner Fas­sung genom­men und augen­schein­lich her­um­ge­dreht wor­den war, der Süd­pol befand sich im Nor­den, der Nord­pol im Süden der leuch­ten­den Kugel, an wel­cher der Mann mit sei­nen Werk­zeu­gen arbei­te­te. Es war eine Arbeit für ruhi­ge Hän­de. In dem Moment, als ich näher gekom­men war, nah­men sie gera­de die Ent­fer­nung des Schrift­zu­ges Cape Town vor, der selbst auf dem Kopf ste­hend in das Blau des Mee­res jen­seits des afri­ka­ni­schen Kon­ti­nen­tes reich­te. Aus nächs­ter Nähe nun beob­ach­te­te ich, wie der alte Mann die Spu­ren, die die Radie­rung des Schrift­zu­ges erzeugt hat­te, mit blau­er Far­be füll­te. Immer wie­der prüf­te er indes­sen den Ton der Pig­men­te, in dem er eine Lupe in sein lin­kes Auge klemm­te. Er schien weit­ge­hen­de Erfah­rung in die­ser Arbeit gesam­melt zu haben, sei­ne Hän­de beweg­ten sich schnell, es roch nach Ter­pen­tin, und der Mann hauch­te gegen das Meer, wohl um sei­ne Trock­nung zu beschleu­ni­gen. Dann begann er zu schrei­ben, er schrieb Cape Town, er schrieb die Wör­ter so, dass sie rich­tig her­um vor unse­ren Augen erschie­nen. Ich erin­ne­re mich an ein Motor­rad, das auf der Stra­ße vor­bei knat­ter­te. Das Mäd­chen hat­te sei­ne Schul­hef­te geschlos­sen und war ins Licht der Son­ne getre­ten. Plötz­lich war es ver­wun­den. — stop
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bumerangkäfer no 2

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echo : 3.01 — Heu­te Nacht erleb­te ich ein lus­ti­ges Déjà-vu. Das war unge­fähr so gewe­sen, dass ich in dem Moment des Déjà-vus gera­de bei geöff­ne­ten Fens­tern Schif­fe beob­ach­te­te, die auf mei­nem Bild­schirm durch einen weit ent­fern­ten Hafen pen­del­ten in ech­ter Zeit. Es war kurz nach zwei Uhr, da lan­de­te ein Mari­en­kä­fer auf mei­ner lin­ken Wan­ge. Ich konn­te mich, wie schon im ver­gan­ge­nen Jahr, nicht ent­schei­den, ob das viel­leicht ein Zufall gewe­sen war. Indem ich das rech­te Auge schloss, aber mit dem lin­ken Auge so weit wie mög­lich nach unten sah, konn­te ich die halb­ku­gel­för­mi­ge Wöl­bung sei­nes Rückens erken­nen. Und ich spür­te eine leich­te Bewe­gung, der Käfer schien mich zu betas­ten. Natür­lich über­leg­te ich sofort, ob es sich bei die­sem Käfer nicht um ein fern­ge­steu­er­tes Wesen han­deln könn­te, das mich besuch­te, um Pro­ben von mei­ner Kör­per­ober­flä­che auf­zu­neh­men. Nach eini­gen Minu­ten ver­än­der­te der Käfer sei­ne Posi­ti­on, er ging zu Fuß, klet­ter­te an mir her­ab, saß für eini­ge Minu­ten an mei­nem Hals, dort konn­te ich ihn weder sehen noch spü­ren, um kur­ze Zeit spä­ter auf mei­nem Hemd zu erschei­nen, wo er sich sehr wohl­ge­fühlt haben moch­te, weil er dort eine gute Stun­de sei­ner Lebens­zeit ver­brach­te. Viel­leicht hat­te der Käfer geschla­fen, oder sich von Stra­pa­zen erholt, die mir unbe­kannt. In die­sem Moment nun, da ich mei­nen Text notie­re, sitzt der in Wör­tern ver­merk­te Käfer am lin­ken unte­ren Rand des Bild­schir­mes mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Er presst sich fest an das Gehäu­se. Wei­te­re Käfer sit­zen an den Wän­den, es sind ein gutes Dut­zend, auch Käfer mit gel­bem Gehäu­se sind dar­un­ter. Ges­tern habe ich beob­ach­tet, dass gelb Käfer mit vier­und­zwan­zig Punk­ten, wenn ich sie behut­sam in eine mei­ner Hän­de set­ze und in die Dun­kel­heit wer­fe, sofort wie­der zurück­kom­men. Man könn­te sagen, dass es sich bei die­ser Art um Bume­rang­kä­fer han­deln könn­te. In die­sem Jahr tra­gen sie Strei­fen. — stop
ping

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petuschki

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india : 2.05 — Ich hör­te mich wie­der ein­mal von Bücher­men­schen erzäh­len, von Bücher­men­schen, jawohl. Das sind Per­so­nen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spa­zie­ren gehen. Wenn sie ein­mal nicht spa­zie­ren gehen, sit­zen sie stu­die­rend auf Bän­ken in Park­land­schaf­ten her­um, in Cafés oder in einer Unter­grund­bahn. Dort, aus hei­te­rem Him­mel ange­spro­chen, wenn man sich nach ihrem Namen erkun­dig­te, wür­den sie erschre­cken und sie wür­den viel­leicht sagen, ohne den Kopf von der Zei­chen­li­nie zu heben, ich hei­ße Anna oder Vic­tor, obwohl sie doch ganz anders hei­ßen. Wenn man sie frag­te, wo sie sich gera­de befin­den, wür­den sie behaup­ten, in Petusch­ki oder in Brook­lyn oder in Kai­ro oder auf einem Amzo­nas­re­gen­wald­fluss. — Heu­te habe ich mir gedacht, man soll­te für die­se Men­schen eine eige­ne Stadt errich­ten, eine Metro­po­le, die allein für lesend durch das Leben rei­sen­de Men­schen gemacht sein wird. Man könn­te natür­lich sagen, wir bau­en kei­ne neue Stadt, son­dern wir neh­men eine bereits exis­tie­ren­de Stadt, die geeig­net ist, und machen dar­aus eine ganz ande­re Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Pro­be. In die­ser Stadt lesen­der Men­schen sind Biblio­the­ken zu fin­den wie Blu­men auf einer Wie­se. Da sind also gro­ße Biblio­the­ken, und etwas klei­ne­re, die haben die Grö­ße eines Kiosks und sind geöff­net bei Tag und bei Nacht. Man könn­te dort sehr kost­ba­re Bücher ent­lei­hen, sagen wir, für eine Stun­de oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Wäh­rend man geht, wird gele­sen. Das ist sehr gesund in die­ser Art so in Bewe­gung. Auf alle Stra­ßen, die man pas­sie­ren wird, sind Lini­en auf­ge­tra­gen, Stre­cken, die lesen­de Men­schen durch die Stadt gelei­ten. Da sind also die gel­ben Krei­se der Stunden‑, und da sind die roten Lini­en der Minu­ten­ge­schich­ten. Blau sind die Stre­cken mäch­ti­ger Bücher, die schwer sind von feins­ten Papie­ren. Sie füh­ren weit aufs Land hin­aus bis in die Wäl­der, wo man unge­stört auf sehr beque­men Pini­en­bäu­men sit­zen und schla­fen kann. In die­ser Stadt lesen­der Men­schen haben Auto­mo­bi­le, sobald ein lesen­der Mensch sich nähert, den Vor­tritt zu geben, und alles ist sehr schön zau­ber­haft beleuch­tet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. — stop
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vögel

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lima : 0.57 — Düs­te­re Stra­ße, düs­te­res Haus, düs­te­re Trep­pe. Ich klin­gel­te an einer Tür, ein Mann, der nicht mehr ganz jung gewe­sen war, öff­ne­te. Kräf­ti­ger, bit­te­rer Geruch ström­te aus der Woh­nung. Die Luft war warm, war feucht und dicht, mei­ne Bewe­gun­gen, wie ich durch den Flur der Woh­nung ging, mühe­voll, als wür­de ich unter Was­ser lau­fen. Ich trat in ein Zim­mer, ein Tisch, ein Sofa, zwei Stüh­le, kei­ne Vor­hän­ge vor den Fens­tern, hin­ter den Schei­ben Kas­ta­ni­en­bäu­me, die blüh­ten. An den Wän­den des Zim­mers kleb­te eine Tape­te mit Kirsch­mo­ti­ven. Sie war an der ein oder ande­ren Stel­le von der Wand gefal­len. Auf höl­zer­nen Stan­gen, dicht unter der Decke, hock­ten hun­der­te Vögel ohne Federn. Ihre Haut war von hel­lem Braun, ihre Schnä­bel zitro­nen­gelb. Der Mann, der mich in das Zim­mer geführt hat­te, nahm einen der Vögel in sei­ne Hän­de. Der Vogel lag auf dem Rücken, ganz still. Er hat­te sei­ne Augen geschlos­sen, fei­ne hell­blaue Häut­chen wie Schir­me. Ich soll­te an dem Vogel rie­chen, und so nahm ich ihn in die Hand. Der Leib des Vogels war warm. Er zit­ter­te, als ich mich mit mei­ner Nase näher­te, als wür­de er frie­ren. Der Mann, der mich an das Zim­mer der Vögel geführt hat­te, sag­te, dass sie noch nicht ganz reif sei­en. Der Vogel duf­te­te nach gebrann­ten Man­deln. In einer Ecke des Zim­mers auf dem Boden ein Schall­plat­ten­spie­ler, ein uraltes Gerät, das Tom­my Dor­sey spiel­te: I’m Get­ting Sen­ti­men­tal Over You. — stop
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stonington island

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whis­key : 2.32 — Das Labor der Eis­bü­cher, mit dem ich vor weni­gen Minu­ten tele­fo­nier­te, befin­det sich seit zwölf Wochen auf Ston­ing­ton Island, einer fel­si­gen Gegend am nörd­li­chen Rand des ant­ark­ti­schen Kon­ti­nents. Ich habe einen Text trans­fe­riert, der in die­sen Minu­ten mög­li­cher­wei­se von feins­ten Frä­sen in Eis­blät­ter ein­ge­tra­gen wird. Ich stel­le mir vor, ein hel­les Geräusch ist zu ver­neh­men, in dem ein Robo­ter äußerst behut­sam zu schrei­ben beginnt. Es geht dar­um, das Eis­blatt nicht zu zer­bre­chen, das so dünn ist, dass man mit einer Taschen­lam­pe hin­ter die Zei­chen mei­nes Tex­tes leuch­ten könn­te. Es ist kalt, der Wind pfeift um höl­zer­ne Bara­cken, in wel­chen hun­der­te Schreib­ma­schi­nen bewe­gungs­los war­ten, bis man sie anruft. Fol­gen­de Geschich­te habe ich ins Tele­fon gespro­chen: Drau­ßen, vor weni­gen Stun­den noch, rausch­te Was­ser vom Him­mel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tat­säch­lich nahe­zu geräusch­lo­se Nacht. Die letz­te Stra­ßen­bahn ist längst abge­fah­ren, kein Wind, des­halb auch die Bäu­me still und die Vögel, alle Men­schen im Haus unter mir schei­nen zu schla­fen. Für einen Moment dach­te ich, dass ich viel­leicht wie­der ein­mal mein Gehör ver­lo­ren haben könn­te, ich sag­te zur Sicher­heit ein Wort, das ich ges­tern ent­deck­te: Kapr­un­bi­ber. Das Wort war gut zu hören gewe­sen, mei­ne Stim­me klang wie immer. Aber auf dem Fens­ter­brett hockt jetzt ein Mari­en­kä­fer, einer mit gel­bem Pan­zer, sie­ben Punk­te, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zim­mer geflo­gen war. Es ist nicht der ers­te Käfer die­ses Jah­res, aber einer, den ich mit ganz ande­ren Augen betrach­te. Ich hat­te für eine Sekun­de die Idee, die­ser Käfer könn­te viel­leicht ein künst­li­cher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vor­satz besuch­te, Foto­gra­fien mei­ner Woh­nung auf­zu­neh­men, oder Gesprä­che, die ich mit mir selbst füh­re, wäh­rend ich arbei­te. War­um nicht auch ich, dach­te ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der sei­ne Geh­werk­zeu­ge unver­züg­lich eng an sei­nen Kör­per leg­te, in mei­ne Hän­de und trans­por­tier­te ihn in die Küche, wo ich ihn in das grel­le Licht einer Tisch­lam­pe leg­te. Wie ich ihn betrach­te­te, bemerk­te ich zunächst, dass ich nicht erken­nen konn­te, ob der Käfer in der künst­li­chen Hel­lig­keit sei­ne Augen geschlos­sen hat­te. Weder Herz­schlag noch Atmung waren zu erken­nen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die gerings­te Bewe­gung, aber ich fühl­te mich von dem Käfer selbst beob­ach­tet. Also dreh­te ich den Käfer auf den Rücken und such­te nach einem Zugang, nach einem Schräub­chen da oder dort, einer Ker­be, in wel­che ich ein Mes­ser­werk­zeug ein­füh­ren könn­te, um den Pan­zer vom Käfer zu heben. Man stel­le sich ein­mal vor, ein klei­ner Motor wäre dort zu fin­den, Mikro­fo­ne, Sen­der, Lin­sen, es wäre eine unge­heu­re Ent­de­ckung. Gegen­wär­tig zöge­re ich noch, den ers­ten Schnitt zu setz­ten, es reg­net wie­der, jawohl, ich wer­de am bes­ten zunächst noch ein wenig den Regen beob­ach­ten, es ist kurz nach drei. – stop

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lissabon

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nord­pol : 22.01 — Unter Zei­tun­gen, die sich in mei­nem Brief­kas­ten befan­den, ent­deck­te ich eine selt­sa­me Post­kar­te. Auf der einen Sei­te des Papiers war die Stadt Lis­sa­bon zu erken­nen, eine gel­be Tram­bahn zwi­schen Häu­sern einer steil anstei­gen­den Stra­ße. Es muss spä­ter Abend gewe­sen sein, als die Auf­nah­me gefer­tigt wur­de. Men­schen sit­zen in beleuch­te­ten Abtei­len, eini­ge schla­fen, ande­re schau­en aus den Fens­tern der Wag­gons her­aus. Wie ich sie betrach­te­te, die Über­le­gung, man­che der foto­gra­fier­ten Men­schen könn­ten viel­leicht nicht mehr unter uns Leben­den sein, weil ihr Licht bereits Anfang der Fünf­zi­ger­jah­re ein­ge­fan­gen wur­de. Das jeden­falls ist so auf der Rück­sei­te der Ansichts­kar­te ver­merkt, Lis­boa 1952. Ihr Post­wert­zei­chen, das tat­säch­lich in Lis­sa­bon abge­stem­pelt wor­den war, ist eines, wie man sie zu jener Zeit ver­wen­de­te, sodass ich ver­mu­te­te, die Post­kar­te habe eine sehr lan­ge Rei­se­zeit hin­ter sich gebracht. Sie ist in mei­nen Augen über­haupt eine erstaun­li­che Erschei­nung. In die­sem Moment ruht sie im Nacht­licht auf mei­nem Schreib­tisch. Wör­ter, die ich nicht ken­ne. Nicht ein­mal die Buch­sta­ben, die Wör­ter bil­den, ver­mag ich zu ent­zif­fern, äußert fei­ne Zei­chen, eine Art gehei­mer Schrift, Male­rei, die vie­le Stun­den Arbeit gefor­dert haben dürf­te. Merk­wür­dig vor allem, auf der Post­kar­te ist kei­ne Anschrift zu fin­den. Sosehr ich nach mei­nem oder einem ande­ren Namen such­te, nichts ist zu ent­de­cken, was eine Begrün­dung dafür dar­stel­len könn­te, dass gera­de ich die­se Kar­te erhal­ten soll­te. Ich habe kei­ne Vor­stel­lung, wer sie geschrie­ben haben könn­te, auch nicht, ob eine Anschrift ver­se­hent­lich oder mit Absicht ver­ges­sen wur­de. — Däm­me­rung. Fle­der­mäu­se zwit­schern durch die Luft. Vor weni­gen Tagen ist Urs Wid­mer gestor­ben, vor genau zwei Jah­ren mein Vater um 17.32 Uhr. — stop
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auf ellis island

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echo : 6.27 — An einem schwül­war­men Tag besuch­te ich Ellis Island. Gewit­ter waren auf­ge­zo­gen, der Him­mel über Man­hat­tan blei­grau. Trotz­dem fuh­ren klei­ne wei­ße Schif­fe von Bat­tery Park aus los, um Besu­cher auf die frü­he­re Qua­ran­tän­e­insel zu trans­por­tie­ren. Ehe man an Bord gehen konn­te, wur­de jeder Pas­sa­gier sorg­fäl­tig durch­sucht, Taschen, Schu­he, Com­pu­ter, Foto­ap­pa­ra­te. Ein grie­chi­scher Herr von hohem Alter muss­te mehr­fach durch die Strah­len­schleu­se tre­ten, weil das Gerät Metall alar­mier­te. Er schwitz­te, er mach­te den Ein­druck, dass er sich vor sich selbst zu fürch­ten begann, auch sei­ne Fami­lie schien von der erns­ten Pro­ze­dur der­art beein­druckt gewe­sen zu sein, dass ihnen ihr gelieb­ter Groß­va­ter unheim­lich wur­de. Die Über­fahrt dau­er­te nur weni­ge Minu­ten. Es begann hef­tig zu reg­nen, das Was­ser wur­de grau wie der Him­mel, Pus­teln, Tau­sen­de, blink­ten auf der Ober­flä­che des Mee­res. Im Café des Ein­wan­der­mu­se­ums kämpf­ten hun­der­te Men­schen um frit­tier­te Kar­tof­feln, gebra­te­ne Hüh­ner­vö­gel, Him­beer­eis, Sah­ne, Bon­bons. Ihre Beu­te wur­de in den Gar­ten getra­gen. Dort Son­nen­schir­me, die der Wind, der vom Atlan­tik her weh­te, davon­zu­tra­gen droh­te. Am Ufer eine her­ren­lo­se Dreh­or­gel, die vor sich hin dudel­te, Fah­nen knall­ten in der Luft. Über den san­di­gen Boden vor dem Zen­tral­haus tanz­ten hand­tel­ler­gro­ße Wir­bel von Luft, hier, genau an die­ser Stel­le, könn­te Mary Mal­lon im Alter von 15 Jah­ren am 12. Juni 1895 sich ihre Füße ver­tre­ten haben, ehe sie mit Typhus im Blut nach Man­hat­tan ein­rei­sen durf­te. Ihr Schat­ten an die­sem Tag in mei­nen Gedan­ken. Ein wei­te­res Gewit­ter ging über Insel und Schif­fe nie­der, in Sekun­den leer­te sich der Park. Dann kamen die Möwen, gro­ße Möwen, gel­be Augen, sie raub­ten von den Tischen, was sie mit sich neh­men konn­ten. Wie ein Sturm gefie­der­ter Kör­per stürz­ten sie vom Him­mel, es reg­ne­te Kno­chen, Ser­vi­et­ten, Bestecke. Unter einem Tisch kau­er­te ein Mäd­chen, die Augen fest geschlos­sen. – stop
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sturmvögel

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ulys­ses : 0.01 — Mein Vater erzähl­te, wenn man ernst­haft an etwas arbei­te, wür­de man auch nachts damit beschäf­tigt sein. Ein­mal sei an einem rie­si­gen, schnel­len Com­pu­ter im Kern­for­schungs­zen­trum CERN bei Genf, der mit­tels tau­sen­der Kabel­ver­bin­dun­gen an wei­te­re Com­pu­ter geknüpft gewe­sen war, ein Kabel ver­se­hent­lich oder mit Vor­satz aus sei­nem Ste­cker gezo­gen wor­den. Tage­lang sei­en sie damals auf Knien unter­wegs gewe­sen, um das lose Kabel auf­zu­spü­ren, des­sen sorg­lo­se Exis­tenz ohne Anga­be des Ortes auf einem Bild­schirm ange­zeigt wur­de. Er habe, sag­te Vater, damals die Welt in gel­ben Far­ben gese­hen und von Korn­wa­ren geträumt. Ich erin­ner­te mich heu­te dar­an, jetzt weiß ich Bescheid und bin zufrie­den. Träu­me seit Tagen von Wir­bel­stür­men und von klei­nen Vögeln, die durch die­se Stür­me irren. — stop
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fenster zum fluss

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sier­ra : 17.08 — Ein Freund, der sich seit län­ge­rer Zeit in Man­hat­tan auf­hält, erzählt via E‑Mail eine hei­te­re Geschich­te, die er selbst erlebt haben will. Vor eini­gen Tagen habe er dem­zu­fol­ge eine Bekann­te besucht, die ein Apart­ment in einem moder­nen Miets­haus der Upper East Side bewohnt. Es han­de­le sich um eine geräu­mi­ge Woh­nung in der 28. Eta­ge mit fas­zi­nie­ren­der Aus­sicht auf den East River. Eine Lei­den­schaft der Woh­nungs­be­sit­ze­rin, eine Pas­si­on gera­de­zu, sei die Beob­ach­tung der Schif­fe gewor­den, die den Fluss tief unten befah­ren. Der Anblick der Käh­ne und Oze­an­damp­fer beru­hi­ge sie, schon von Wei­tem kön­ne sie erken­nen, wenn sich ein grö­ße­res Schiff vom Atlan­tik her nähe­re. Nicht zu ver­ges­sen natür­lich, jene zier­li­chen, wei­ßen und gel­ben Amei­sen­schif­fe, Was­serta­xis bei Tag und Nacht, und das bestän­di­ge Blin­ken der Spie­ren­ton­nen, Pul­se, wel­che sie durch ihr Fern­glas wahr­neh­men kön­ne. Als nun mein Freund sei­nen Besuch tele­fo­nisch ankün­dig­te, wur­de er gewarnt, der Auf­zug des Hau­ses sei seit zwei Wochen defekt, wes­halb vie­le der älte­ren Bewoh­ner das Haus seit Tagen ent­we­der gar nicht oder für län­ge­re Zeit ganz ver­las­sen haben, er müs­se zu Fuß empor­stei­gen und eine hal­be Stun­de Zeit für sei­nen Auf­stieg berech­nen, er sol­le sich etwas Pro­vi­ant mit­neh­men. Mein Freund mach­te sich weni­ge Stun­den spä­ter auf den Weg nach oben. Weil er nicht trai­niert war, ging er lang­sam, zunächst zähl­te er noch sei­ne Schrit­te, aber bereits in der 6. Eta­ge muss­te er sich set­zen und sei­nen Atem beru­hi­gen. Eini­ge Boten, jun­ge Män­ner mit Ruck­sä­cken auf dem Rücken, kamen vor­über. Kurz dar­auf pas­sier­te ihn eine älte­re Dame, schla­fend oder bewusst­los, auf einer Tra­ge lie­gend abwärts. Höhe der 18. Eta­ge stand die Tür einer Woh­nung offen. Tre­ten Sie ein, war auf einem Zet­tel zu lesen. Im Wohn­zim­mer saß eine wei­te­re älte­re Dame hin­ter einem Tisch, reich gedeckt, Obst und kal­ter Fisch und Brot und Was­ser. Ein rei­zen­der Anblick, Kat­zen lagen auf dem Boden her­um. Die alte Frau war­te­te unter einem Son­nen­schirm. Sie sag­te: Komm, komm, in Zei­ten der Not muss man zusam­men­hal­ten, alles ist umsonst, aber Du darfst in der Stadt nicht davon erzäh­len! Eine Stun­de spä­ter erreich­te mein Freund end­lich die Woh­nung sei­ner Bekann­ten. Sie saßen lan­ge Zeit vor dem Fens­ter zum Fluss. Ein­mal näher­te sich ein Hub­schrau­ber. Er lan­de­te auf dem Dach. – stop

polaroidteller



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