MENSCH IN GEFAHR: „In den frühen Morgenstunden des 13. Februar 1994 entdeckte ein Polizist in einem Supermarkt in Columbia im US-Bundesstaat Missouri die Leichen der 44-jährigen Mary Bratcher, des 58-jährigen Fred Jones und der 57-jährigen Mabel Scruggs. Alle drei hatten in dem Supermarkt gearbeitet und waren an Kopfverletzungen gestorben. Ernest Lee Johnson, der regelmäßig in dem Supermarkt eingekauft hatte, wurde festgenommen und wegen dreifachen Mordes angeklagt. Man stellte ihn im Mai 1995 vor Gericht, sprach ihn schuldig und verurteilte ihn zum Tode. / 1998 ordnete der Oberste Gerichtshof von Missouri eine neue Strafzumessung an. Grund dafür war, dass der Rechtsbeistand von Ernest Lee Johnson es versäumt hatte, die Aussage eines Psychiaters vorzubringen, welcher seinen Mandanten untersucht hatte. Das Gericht erklärte, dass sich der “eindeutige und nachdrückliche Eindruck gefestigt” habe, dass diese Aussage “die Erwägungen der Geschworenen beeinflusst hätte”. Nach Ansicht des Gerichts hätten sich die Geschworen in der Folge möglicherweise für eine lebenslange Haftstrafe ausgesprochen. / Bei der erneuten Festlegung des Strafmaßes 1999 wurde gegen Ernest Lee Johnson jedoch wieder die Todesstrafe verhängt. 2002 entschied der Oberste Gerichtshof der USA, dass die Hinrichtung von Menschen mit einer geistigen Behinderung (intellectual disability / mental retardation) verfassungswidrig ist. 2003 ordnete der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Missouri abermals eine neue Strafzumessung im Fall von Ernest Lee Johnson an. Diesmal, weil Beweise für eine geistige Behinderung nicht angemessen dargelegt worden waren. Sein Intelligenzquotient (IQ) war im Laufe seines Lebens mehrfach bestimmt worden. Bei einem IQ-Test im Alter von acht Jahren ergab sich ein IQ von 77, bei einem Test im Alter von zwölf Jahren betrug der gemessene IQ 63. Ernest Lee Johnson hatte Probleme in der Schule und besuchte eine Sonderschule. Bei ihm wurde außerdem eine Alkoholembryopathie diagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine Schädigung des Kindes, welche durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entstanden ist und unter anderem zu geistigen Entwicklungsschädigungen führt. Außerdem hat Ernest Lee Johnson während seiner Kindheit zwei schwere Kopfverletzungen erlitten. / 2006 wurde Ernest Lee Johnson zum dritten Mal zum Tode verurteilt. Die Geschworenen waren der Ansicht, dass es keine ausreichenden Beweise für eine geistige Behinderung gäbe. Ernest Lee Johnsons Verteidigung hatte erklärt, dass die Beweislast nicht bei ihrem Mandanten liegen dürfe und der Staat beweisen müsse, dass er keine geistige Behinderung aufweist. Zwei Expert_innen der Verteidigung hatten während des Verfahrens eine geistige Behinderung bestätigt. Einer von ihnen hatte den IQ von Ernest Lee Johnson bestimmt und erklärt, dass dieser bei 67 läge. Zudem sagten beide, dass er in verschiedenen Bereichen Anpassungsschwierigkeiten habe und sich seine geistige Behinderung bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahrs manifestiert habe. Der Mitarbeiter des hinzugezogenen staatlichen Experten ermittelte zwar ebenfalls einen IQ von 67, dieser gab jedoch an, Ernest Lee Johnson würde simulieren. Der Experte der Verteidigung stritt dies wiederrum ab und gab an, mithilfe von Untersuchungen ausgeschlossen zu haben, dass Ernest Lee Johnson simuliert. Die Staatsanwaltschaft erklärte gegenüber den Geschworenen, dass “anzunehmen, dass es wahrscheinlicher ist, dass dieser Mann eine geistige Behinderung hat, als dass er gesund ist, eine Beleidigung ist, eine Beleidung der Opfer”. Der Oberste Gerichtshof von Missouri bestätigte das Todesurteil 2008 und erklärte, dass “die Entscheidung der Geschworenen respektiert” werden müsse. Drei der sieben Richter_innen widersprachen dem jedoch und argumentierten, dass die Tatsache, “dass der Angeklagte beweisen musste, dass er geistig behindert ist, die Entscheidung — ob Johnson zum Tode verurteilt werden sollte — willkürlich erscheinen lässt” und dass die widersprüchlichen Fakten in diesem Fall “zeigen, dass das Ergebnis — Leben oder Tod — durchaus davon abhängen kann, bei welcher Seite die Beweislast liegt“. / Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 3. November 2015 hinaus, unter »> ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: jahre
lichtzeituhr
echo : 3.18 — Liesl, die vor wenigen Tagen 85 Jahre alt wurde, erzählte von einer Zeitschaltuhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzubringen wünschte. Er habe, hatte ihr Sohn berichtet, nachts immer wieder einmal wahrgenommen, dass Liesl einschlafen würde, ohne ihre Nachttischlampe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Lichtscheins, den er vom Schlafzimmer der Mutter her kommen sah, aufgestanden und habe sich vorsichtig an ihr Bett begeben und das Licht gelöscht. Einmal habe er überlegt, ob er nicht das Gesicht seiner schlafenden Mutter, wie zum Beweis fotografieren sollte, ein so helles Gesicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, das Gesicht einer tatsächlich Schlafenden zu betrachten. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie keine Zeitschaltuhr neben sich wünsche, sie sei doch kein Aquarium, habe sie gesagt, lieber schlafe sie im strahlenden Licht der Nachtlampe ein, plötzliche Dunkelheit, um Himmelswillen, nein. Ihr Sohn reiste wieder ab. Liesl erzählte, dass sie mit ihm nie wieder über Zeitschaltuhren gesprochen habe, unlängst aber, in einer Septembernacht, sei dann plötzlich das Licht ausgegangen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vorsichtig aus dem Bett gestiegen, sei auf Knien durch das stockdunkle Zimmer gekrochen zu einem Lichtschalter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewesen, Donnerwetter! — stop
kakapo
whiskey : 0.55 — Ich zählte 378 Mal das Wort Schlaf. So oft habe ich das Wort Schlaf in den vergangenen sieben Jahren an dieser Stelle [ particles ] verwendet. Einmal suchte ich Optionen das Wort Nacht fortzusetzen, ich entdeckte 628 Varianten, zum Beispiel: Nachtigallenaffe Nachtgewölbe Nachtduft Nachtdurchschwärmer Nachteulenton Nachtgefieder Nachtwolf. Oder aber Nachtpapagei : das ist der merkwürdigste aller papageien, der kakapo von neuseeland [ strigops habroptilus ], den man mit demselben rechte, mit welchen man die eulen im gegensatz mit den falken einer besonderen familie unterbringt, als einen vertreter einer eigenen familie betrachten muss. [ nach Grimmsches Wörterbuch N bis Q ] — Heute ist ein weiteres Nachtwort hinzugekommen, das Wort Nachtameise. Ich habe vor wenigen Minuten zunächst die Ameise selbst, dann das Wort, das die Ameise bezeichnet, mit eigenen Augen gesehen. — stop
brief an charlie
echo : 2.10 — Gestern schrieb ich an Charlie einen Brief auf Papier. Lieber Charlie, es war schön, Dich wiedergesehen zu haben. Ich freue mich, dass Du Dich Deinerseits freutest als ich Dir erzählte, ich würde einmal einen kleinen Text geschrieben haben, in dem Du vorkommst. Ich habe diesen Text gesucht und für Dich ausgedruckt. Ich hoffe, er gefällt Dir. Herzliche Grüße. Dein Louis > An der Nachtzeitküste / 24. Februar 2011: Flughafen. Terminal 1. Drei Uhr und fünfzehn Minuten. Ich stoße auf Charlie, 36, Arbeiter. Der Mann, der in Togo geboren wurde und lange Zeit dort lebte, sitzt unter schlafenden Reisemenschen an der Nachtzeitküste. Er sieht seltsam aus an dieser Stelle, ein Mann, der in seinem Leben noch nie mit einem Flugzeug reiste, stattdessen in Zügen, Bussen, Schiffen durch den afrikanischen Kontinent Richtung Europa geflüchtet war, ja, merkwürdig sieht Charlie aus, wie er so unter schlummernden Nordamerikanern, Usbeken, Chilenen, Japanern, Neuseeländern sitzt. Er trägt Sicherheitsschuhe, ein kariertes Holzfällerhemd und Hosen von kräftigem Stoff, mit Katzenaugen besetzte dunkelblaue Beinkleider, die in jede Richtung reflektieren. Nein, unsichtbar ist Charlie, auch im Dunkeln, sicher nicht. Er macht gerade Pause, trinkt Kaffee aus einer schreiend gelben Thermoskanne und genießt ein Stückchen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorgfältig kaut er vor sich hin, nachdenklich, vielleicht weil er sich auf ein Spiel konzentriert, das er seit Jahren bereits an dieser Stelle wartend studiert. Charlie tippt Lotto. Charlie ist ein Meister des Lottospiels, Charlie spielt mit System. Er hat noch nie verloren. Er hat noch nie verloren, weil er noch nie einen wirklichen Cent auf eine der Zahlenreihen setzte, die er in seine Notizbücher notiert. Charlie ist ein beobachtender Spieler, Vater von fünf Kindern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nachtarbeiter ist. Wenn ich mich neben ihn setze und ihm zusehe, wie er mit einem roten Kugelschreiber Zahlenkolonnen in seine Hefte notiert, freut er sich, macht eine kleine Pause, erkundigt sich nach meinem Befinden, und schon schreibt er weiter, analysiert, rechnet, sucht nach einer Formel, die seine Familie zu einer reichen Familie machen wird. Einmal frage ich Charlie, ob er noch Briefe schreiben würde an seine Eltern in Lomé. Ja, sagt Charlie, jede Woche schreibe er einen Brief an seine Eltern, die am Meer leben, am Atlantik nämlich. Ein andermal will ich wissen, warum er nicht einen Computer einsetzen würde, um vielleicht schneller finden zu können, was er sucht. Charlie lacht, sieht mich an durch kräftige Gläser einer Brille, sagt, dass er wisse, wie bedeutend Computer seien für die Welt, in der wir leben, seine Kinder spielten mit diesen Maschinen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er weiter. Eine ruhige, klare Schrift. Rote Zeichen. In diesem Moment begreife ich, dass ich einer Beschwörung beiwohne, einem Gebet, Malerei, einer Komposition, der “allmählichen Verfertigung der Idee beim Schreiben”. Hermann Burger – stop
von schuhen
charlie : 3.25 – Bahnsteig 23, Zentralbahnhof, Dienstag, 28 Minuten nach 10 Uhr abends. Auf einer Bank sitzt eine Frau in dunklem Gewand, über ihrem Kopf ein Tuch von ebenso schwarzer oder dunkelgrauer Farbe, das ihr Haar lose bedeckt. Die Frau scheint von hohem Alter zu sein und müde und scheu, noch nicht einmal drei Stunden ist es her, dass sie an diesem Ort eingetroffen ist. Ich höre, der junge Mann, der an ihrer rechten Seite sitzt, sei ihr Enkel, er war es gewesen, der die alte Frau aus dem Zug getragen hatte, weil sie nicht mehr laufen konnte, so erschöpft waren ihre Füße vom wochenlangen Wandern durch halb Europa, außerdem waren zuletzt Schuhe kaum noch vorhanden. Ein Mädchen hat ihren Kopf im Schoß der Urgroßmutter geborgen und schläft. Eigentlich müssten da noch zwei Jungs sein, der ältere Bruder des kleinen Mädchens, aber der ist tot, und auch ihr jüngerer Bruder ist nicht da, weil er tot ist, und auch ihre Mutter nicht, da ihre Wohnung von einer Granate getroffen worden war, als das kleine Mädchen auf die Straße rannte ganz allein, was eigentlich verboten war im November des vergangenen Jahres in einem Dorf 16 Kilometer weit entfernt von der Stadt Homs. Auch der Urgroßvater des überlebenden Mädchens ist abwesend, weil er tot ist. Allerdings ist der Urgroßvater zur üblichen Zeit eines natürlichen Todes gestorben und in Form einer Fotografie nach Europa mitgekommen, die die alte Frau in diesem Moment in ihrer Hand hält und betrachtet. Ihr Sohn, der Vater des jungen Mannes, der seine Großmutter aus dem Zug getragen hatte, spricht gerade mit einer fröhlichen Person, die eine Weste trägt, welche leuchtet, dass es in den Augen nur so schmerzt. Er versucht der jungen deutschen Frau zu erklären, dass er vor Stunden seine Ehefrau aus den Augen verloren habe, er sagt immer wieder ihre Namen auf, damit man unverzüglich nach ihr suchen könne. Sein Sohn, der junge Mann, der neben seiner Großmutter sitzt, erzählt indessen in englischer Sprache, seine Großmutter habe das Dorf, aus dem die Familie vor Monaten geflüchtet war, in ihrem ganz Leben nicht ein einziges Mal verlassen, und jetzt sitzt sie also hier auf einer Bank in diesem Nordland, Bahnsteig 23, Zentralbahnhof, versteht kein Wort, von dem, was da so überall um sie herum gesprochen wird, und streicht mit ihren Händen behutsam über das Haar des schlafenden Kindes. Immer wieder schaut sie zu ihren Füßen hin, als wäre sie nicht sicher, dass diese Füße ihre eigenen Füße sind. Vorsichtig bewegt sie sie hin und her, noch keine Viertelstunde ist vergangen, da hatte sich ihr Enkel vor ihr niedergekniet, um ihr nagelneue feuerrote Turnschuhe anzuziehen von Puma. – stop
mirabelle-acht
delta : 2.55 — Im Warenhaus beobachtete ich, wie Preise für Fernsehapparate stündlich fallen, Fernsehapparate sind inzwischen so günstig geworden, dass sie beinahe nichts mehr wert sind. Auch Hummerteile werden immer billiger, Bücher, Espressomaschinen, Seeanemonen, Weihnachtsengel, Schreibmaschinen. Oder die Preise für Fingerhandschuhe, gestrickt, das 8. Jahr in Folge. — Gegen 2 Uhr heute Nacht folgende Beobachtung. Wenn ich um die Wortgruppe schweres Wasser ein Verzeichnis leichtsinniger Assoziationen lege, verschwindet der Begriff in der Gestalt eines Atolls. Ob nicht vielleicht Erinnerung überhaupt in dieser Form organisiert sein könnte? — Zwei Uhr fünfzig Minuten in Röszke, Ungarn. — stop
aylan kurdi
sierra : 23.25 — Ich hatte bis zum späten Abend keine Zeitung gelesen und auch die Fernsehmaschine nicht angestellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, fragte, ob ich die Fotografie mit dem Jungen gesehen hätte, der aus Kobanê geflüchtet, vor einem Urlauberstrand der Türkei ertrunken und Land gespült worden sei. Er sagte, er habe mir die Aufnahme gerade eben geschickt, und ich hörte genau in diesem Moment das Geräusch einer ankommenden E‑Mail mit dem Betreff: Der Junge. Eine halbe Stunde später öffnete ich die Datei. Auf der Fotografie war der Körper eines Kindes am Strand zu erkennen, einsam, unendlich einsam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrunken war, seinen Körper behutsam am Strand abgelegt, seht her, schaut, was geschehen ist, öffnet die Grenzen, lasst Flüchtlingsmenschen endlich mit Flugzeugen zu euch kommen, wehrt sie nicht ab, errichtet keine Zäune, hört auf, Waffen zu liefern, mit welchen tatsächlich auf Menschen geschossen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekommen seid. Millionen elektrische Exemplare dieser Fotografie eines leblosen Kindes sollen sich innerhalb weniger Stunden um die Welt verbreitet haben, eine Fotografie, die nie wieder verschwinden wird, ein Gedächtnisbild möglicherweise, wie das Bild (Pulitzerpreis 1973) der durch friendly fire schwer verletzten Kim Phúc und der Geschwister des Mädchens, fliehend auf einer Straße im Süden Vietnams, ein Gedächtnisbild, an das sich die Menschheit nun gewöhnen wird, das Bild betrachten und bedenken, damit es seinen Schrecken verliert, bis man es nicht mehr wahrnehmen wird. Der Name des Jungen: Aylan Kurdi. Er wurde 3 Jahre alt. Nicht alle werden sich gewöhnen. — stop
kontrabass
romeo : 6.15 — Das warme Licht, das im Holz der Kontrabässe brennt, ein Glühen, in das ich vernarrt bin, soweit ich zurückdenken kann? Die Schuhe eines uralten Bassisten, wie sie vor dem kleinen Jungen sehr fest auf dem Boden einer Kellerbühne stehen, während die Welt drumherum aufgewühlt ist, schwarze, spiegelblanke Schuhe, und irgendwo, weit oben am Schneckenturm, dunkle Hände, die wie Echsen über Holz und kupferne Seile springen. Mein seltsam fühlender Bauch. Wunderte mich, dass sie miteinander sprechen, während sie spielen, lachen, spaßen, sich befeuern und beim Namen nennen. Hört ich nicht gerade noch Thelonius Sphere Monks Stimme wie er im Jahre 1957 : Coltrane! Coltrane! ruft? — Welches Geräusch würde ein Kontrabass von Eis erzeugen? — stop / koffertext
giuseppi
olimambo : 2.05 — Eine Schwefelwolke, von Feuerwerkern über dem Fluss an den Himmel gesetzt, walzt nachts durch mein Arbeitszimmer. Ich warte in diesem Moment vor dem Bildschirm und telefoniere und beobachte zur gleichen Zeit, wie mein Verschlüsselungsprogramm meldet, eine entfernte Computermaschine habe in den vergangenen 5 Minuten versucht, meinen Basisschlüssel herauszufinden. Ich erhalte 1218 Warnungen innerhalb 1 Minute per E‑Mail zugestellt. Und während ich von Giuseppi Logan (Hört ihm zu!) erzähle, dem ich, ohne es zu bemerken, im Jahre 2010 im Thompkins Square Park persönlich begegnet sein könnte, geht das immer weiter so fort, in kleineren Paketen treffen rasend schnell alarmierende E‑Mails bei mir ein. In diesem Moment könnte ich wirklich nicht sagen, ob ich nicht vielleicht träume, was ich vor mir auf dem Bildschirm beobachte. Vorhin zählte ich Marienkäfer nahe der Lampen. Zurzeit leben 22 Persönlichkeiten in meiner Wohnung, 1 Käfer sitzt schon seit Stunden auf dem Gehäuse Esmeraldas fest. — stop
„Niemand klang in einem Ensemble so wie Giuseppi [Logan]. Bei seinem Spiel hielt er seinen Kopf weit zurück; dazu erklärte er: „Auf diese Art ist meine Kehle weit offen“, so konnte er mehr Luft einziehen. Er spielte in einem Umfang von vier Oktaven auf dem Altsaxophon. Was ihn als Improvisator von anderen unterschied, war die Art, wie er seine Noten platzierte und damit einen bestimmten Klang schuf, dem die anderen der Gruppe dann folgten. Seine Stücke waren aus diesem Grund sehr attraktiv; Giuseppi hatte seine ganz eigenen Ansichten über Musik …“ – Bill Dixon
spulen
delta : 8.02 — Ich hatte vor langer Zeit einmal, kurz vor einer Reise nach New York, eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trat, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, drei Jahre sind seither vergangen, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 5778 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen indessen größer oder schwerer geworden wäre. — stop