india : 5.45 — Bei leichtem Regen gestern im Park einen älteren Herrn beobachtet. Er arbeitete an einem Buch, das ich zunächst nicht bemerkte, weil der Herr auf einer Bank saß im Schatten eines Regenschirmes. Als ich neben ihm Platz genommen hatte, konnte ich erkennen, wie der Mann tatsächlich Zeichen in einem Buch notierte, das nicht größer gewesen war als eine Streichholzschachtel. Neben ihm lag ein weiteres Buch, Philip Roths Roman Everyman. Der Mann schien das eine Buch handschriftlich in das andere Buch zu übertragen. Er notierte mit einem Bleistift, den er nach jedem geschriebenen Zeichen spitzte. Rotkehlchen hüpften zu seinen Füßen herum, pickten das leichte, hauchdünne Holz, das aus der Spitzmaschine fiel, vom Boden und trugen es fort ins nahe Unterholz. Ein Vergrößerungsglas, eine Lupe, klemmte im linken Auge des Herrn, deshalb vermutlich machte er den Eindruck, Schmerzen zu haben. Manchmal biss er sich auf die Zunge. Wenn ich mich nicht irre, dann hatte der Mann bereits etwa 100 Seiten des Romanes transferiert. Ich sah ihm bald eine Stunde zu, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln. Friedlichste Stimmung. Auf dem See draußen hüpften Karpfen aus dem Wasser, schwere Körper. Ein paar Ameisen trieben auf einem Blatt an uns vorbei. Ich hätte mich gerne unterhalten, weil mir in den vergangenen Tagen unheimlich zumute gewesen ist, während ich Fernsehbilder aus der Stadt Boston beobachtete. Der alte, schreibende Mann aber war so vertieft in seine Arbeit, dass er meine Gegenwart schnell vergessen zu haben schien. Ich stellte mir vor, dass er in dieser Arbeit gefangen oder geborgen, vielleicht überhaupt nicht wahrgenommen hatte, was in Boston geschehen war. Vielleicht wusste er nicht einmal vom Krieg in Syrien oder von der Entdeckung des Higgs-Teilchens. Als es dunkel wurde, setzte sich der alte Mann eine Stirnlampe auf den Kopf. Für einen Moment leuchtete er mir ins Gesicht, um sofort in seiner Arbeit fortzufahren. — stop
Aus der Wörtersammlung: lampe
elisabeth
himalaya : 6.10 — Im Winter des vergangenen Jahres, an einem windig kalten Tag, besuchte ich in Brooklyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszweska und seine Frau Elisabeth. Sie wohnen nahe der Clark Street in einem sechsstöckigen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hatte den alten Mann während einer Fahrt auf einem Fährschiff zufällig kennengelernt. Er beobachtete, wie ich Fahrgäste fotografierte, die ihre Namen heimlich in die hölzernen Sitzbänke des Schiffes ritzten. Er sprach mich freundlich an, wollte mir einen Schriftzug zeigen, den er selbst drei Jahrzehnte zuvor an Ort und Stelle in der gleichen Weise wie die beobachteten Passagiere eingetragen hatte. Stolz war der alte Mann gewesen. Wir führten ein kurzes Gespräch über die New Yorker Hafenbehörde, Eisenbahnen und Flugzeuge, weiß der Himmel, wie darauf gekommen waren. Als wir das Schiff verließen, lud Mr. Tomaszweska mich ein, einmal zu ihm zu kommen, darum stieg ich nur wenige Tage später in den sechsten Stock des schmalen Hauses auf den Höhen Brooklyns. Die Tür zur Wohnung stand offen, warme Luft kam mir entgegen, die nach süßem Teig duftete, nach Zimt und Früchten. Die Räume hinter der Tür waren verdunkelt. Ich hatte sogleich den Eindruck, dass ich vielleicht träumte oder verrückt geworden sein könnte, weil in diesem Halbdunkel an den Wänden, auch auf dem Boden, Lampen, Diodenlichter, glühten. Modelleisenbahnzüge fuhren auf schmalen Geleisen herum. Ich höre noch jetzt das leise Pfeifen einer Dampflokomotive, das meinen Besuch begleitete. Es war eine rasende Zeit, Stunden des Staunens, da in der Wohnung des alten Herrn eine sehr besondere Modellanlage gastierte, ja, ich sollte sagen, dass die Wohnung selbst zur Anlage gehörte, wie der Himmel zur wirklichen Welt. Alle Züge fuhren automatisch von einem Computer gesteuert, die Luft über den Geleisen roch scharf nach Zinn. Wir sprachen indessen nicht viel, Mr. Tomaszweska und ich, sondern schauten dem Leben auf dem Boden in aller Stille zu. An einem Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Elisabeth. Sie beachtete mich nicht, starrte vielmehr lächelnd auf eine kleine Klappe, die in die Wand des Hauses eingelassen war. Manchmal öffnete sich die Klappe und ich konnte für Momente das Meer erkennen, das an diesem Tag von grüngrauer Farbe gewesen war, wunderbare Augenblicke, denn immer dann, wenn das Meer in dem kleinen Fenster erschien, lachte die alte Frau mit glockenheller Stimme auf, um kurz darauf wieder zu erstarren. Einmal setzte sich Mr. Tomaszweska neben seine Frau und fütterte sie mit warmem Orangenkuchen, den er selbst gebacken hatte. Und wie wir uns wieder auf den Boden setzten, um ein Modell des Orientexpress durch die Zimmer der Wohnung kreisen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemeinsam hier oben sehr glücklich seien. Er könne mit seiner Frau zwar nicht mehr sprechen, er könne sie nur noch streicheln, was sie irgendwie verstehen würde oder sich erinnern an die Sprache seiner Hände. Verstehst Du, sagte er, sie vergisst immer sofort, alles vergisst sie, auch wer ich bin, aber sie vergisst niemals nach den kleinen Engeln zu sehen, die uns besuchen, sie kommen dort durch die Klappe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wunder, sagte der alte Mann, wie schön sie lacht, mein junges Mädchen, nicht wahr, mein junges Mädchen. — stop
drohne 12
kilimandscharo : 2.28 — Zwölfhundertstes Hotelzimmer – sei mir gegrüßt! Sei mir gegrüßt, mit mäßig gutem Bett, Spiegelschrank, Kommode, wackeligem Schreibtisch; mit rosa Nachttischlampe, abgeschabtem Teppich, Wasserkaraffe, Briefpapier, Kofferständer. Sei gegrüßt, Heimat seit einer halben Stunde, Heimat für zwei, drei oder vierzehn Tage -: Wirst Du mir freundlich gesinnt sein? Werde ich bei Dir ausruhen dürfen? — Ich lese Klaus Mann. Seit bald sechs Stunden lese ich in einem Buch, das seine Texte versammelt, eine Auswahl. Ich habe das Buch bereits vom ersten bis zum letzten Satz gelesen. Nun, indem ich wieder von vorn beginnen werde, zu einem Zeitpunkt, da ich nicht weiß, wie lange es dauern wird, bis ich mich wieder bewegen werden kann, habe ich beschlossen, das Buch abzuschreiben, weil das Buch abzuschreiben längere Zeit in Anspruch nehmen wird, als das Buch zu lesen. Ich muss mich nämlich beschäftigen, um meine innere Ruhe nicht zu verlieren, weil ich Grund habe, äußerst beunruhigt zu sein. Es war gegen 8 Uhr abends, gerade Dämmerung, als ich vor dem Fenster im 22. Stock eine Bewegung bemerkte. Ich hatte gerade fünf Seiten des Buches gelesen, als ich den Blick auf das Fenster richtete. Ich bemerkte eine Drohne, ein kleines Flugobjekt, das zu mir hereinspähte. Sie ist immer noch da. Sie filmt mich, wie ich hier auf meinem Sofa sitze. Ich habe den Verdacht, dass sie möglicherweise eine oder zwei Waffen auf mich richtet, weswegen ich so tue, als würde ich sie nicht sehen. Und doch traue ich mich nicht, mich zu erheben, obwohl ich sehr durstig bin und hungrig. Kaum will ich einen Fuß auf den Boden stellen, kommt die Drohne so nah an das Fenster meines Zimmers heran, dass ich meine, sie würde die Scheibe berühren. Ich weiß, dass man mich betrachtet, verdammt, wer auch immer Ihr seid, ich weiß, dass Ihr mich betrachtet. Ich sage Euch, ich erkläre hiermit, ich werde Euch keinen Gefallen tun, ich werde Euch nicht reizen, ich werde Euch keinen Anlass geben, auf mich zu feuern. Ich bin ganz ruhig, ich bin gelassen, Klaus Mann ist bei mir, ich lese, ich schreibe. Es ist kurz nach zwei Uhr. Fangen wir noch einmal von vorn an: Ich weiß nicht, wohin ich fahre. Ich fahre irgendwohin. Ich trage meinen Handkoffer, ein paar Bücher, den Regenmantel. — stop
zwergseerosen
sierra : 6.38 — Vor Kurzem noch habe ich nicht gewusst, dass Lampenmedusen bevorzugt Zwergseerosen zu sich nehmen. Eigentlich müsste ich sagen, dass Lampenmedusen ihrer Aufgabe der Lichterzeugung nur dann nachzukommen in der Lage sind, wenn sie einige Gramm einer bestimmten Zwergseerosengattung aufgenommen haben. Diese Zwergseerosen nun sind wunderbare Wesen, die man mit bloßem menschlichem Auge nicht wahrzunehmen vermag. Sobald sie aber häufig sind, also gehäuft, sagen wir zehntausend Zwergseerosen in nächster Nähe zueinander, sehen wir eine rötliche Wolke, die sich in der Form einer flachen Linse sehr wohlzufühlen scheint. Unter einem Mikroskop betrachtet sind an jeder Zwergseerose wundervolle Blüten von roter Farbe zu erkennen, die sich langsam um die eigene Achse drehen, weswegen Zwergseerosen durch das Wasser wandernde Geschöpfe sind, schwebende, oder genauer, tauchende Blumen. Sie sollen zart nach Hummerfleisch schmecken, jedoch nicht genießbar sein, weil auch dann, wenn Menschen sie verkosten, eben jene Menschen in der Art der Lampenmedusen zu leuchten beginnen, ihre Haut und ihre Haare, dann fallen sie um und hören auf zu atmen. Einer, der das nicht glauben wollte, wurde gestern auf hoher See bestattet. Ein seltsamer Anblick, wie man berichtet, ein blaues Leuchten mit Armen, Beinen und einem Kopf, das langsam in der Tiefe verschwand. — Es ist schon weit nach Mitternacht, also Nachmittag geworden. Ich spaziere leise durch meine Wohnung, weil ich niemanden wecken möchte. Unter mir schlafen Menschen. Das ist immer wieder eine seltsame Vorstellung, dass sie sehr nah sind, nur durch etwas Holz und Bast und Stein von mir getrennt. Man kann in dieser Weise Jahre wohnen, ohne zu wissen, wen genau man atmen oder spazieren hört. Einer der Menschen unter mir, scheint im Schlaf zu sprechen. Wenn er zu sprechen beginnt, höre ich das Geräusch einer Tür, dann hört er auf zu sprechen. Für eine Weile ist es still. Es gibt viel zu erzählen im Schlaf. — stop
koffer
echo : 0.28 — Die Vorstellung, man könnte vielleicht bald einmal Gegenstände mit geeigneten Apparaturen betasten und durchleuchten, um sie Molekül für Molekül in den Speicher eines Computers abzulegen. Ich könnte nun die Gegenstände meiner Zimmer, all die Lampen, Bücher, Stühle, Tische, Kakteen, Teller, Kissen, Löffel, Tassen unter den Arm nehmen, alle zur gleichen Zeit, um sie an einen anderen Ort zu transferieren, von einem Stockwerk in ein anderes Stockwerk, oder von einer Stadt in eine andere Stadt. Dort könnte ich sie auspacken, das heißt, ich könnte sie mit geeigneten Apparaturen aus Molekülen der Luft wiedererstehen zu lassen, ein Prozess, der so präzise funktionieren müsste, dass selbst handschriftliche Notizen, die sich in meinen Büchern befinden, nicht verloren sein werden. Nehmen wir einmal an, ich würde nun selbst, ob mit oder ohne Absicht, in meiner Computermaschine landen, dann könnte man mich, das heißt genauer, meine Information als E‑Mail verschicken, Augen, Hände, Ohren, auch meine Erinnerungen, meine Wünsche, meine Hoffnungen, selbst die Erinnerung an diese kleine Geschichte hier, wie ich sie gerade erzählte. — Guten Morgen! Es ist Montag. Die Luft duftet nach Schnee. — stop
lufträume
bamako : 6.30 — Der Stuhl meines Vaters im Zimmer vor den Bäumen. Sobald ich mich setze, spüre ich seine Gegenwart, als wäre er gerade erst aufgestanden, um kurz in ein anderes Zimmer zu gehen. Genau dieser Ort, ja, dieser Raum, so viele Jahre, so viele Stunden lang hatte mein Vater an dieser Stelle verbracht, dass er nur sehr langsam weichen kann in der Wahrnehmung seines Sohnes. Da ist seine Schublade, sein Lichtmessgerät, sein Brieföffner, sein Radiergummi, sein Bleistift, seine Lupe, sein Fotoapparat. Und das hier ist seine Aussicht auf den winterlichen Garten, auf den Computerbildschirm, auf die Tastatur seiner Schreibmaschine, auf seine Lampe, die noch immer warmes Licht ins Zimmer sendet, Licht, das mein Vater sich wünschte. Es ist eine seltsame Erfahrung, dass sich mit den Spuren eines Menschen spürbare Gegenwart verbindet. Das Geräusch einer Zeitung, die raschelt. Eine Tür, die sich öffnet. Vor wenigen Tagen noch hörte ich meine Mutter davon erzählen, wie sehr ihr mein Vater fehle. Und weil die Worte nicht ausreichten, dieses Fehlen zu beschreiben, machte sie eine sehnende Geste, als würde sie einen unsichtbaren Mann umarmen, einen Raum, der nur noch Erinnerung ist, einen Raum, der weder mit Händen noch Lippen berührt werden kann. — stop
josephine auf dem bildschirm
echo : 15.07 — Gestern Abend habe ich zum ersten Mal mit Josephine, einer alten Dame, die in Brooklyn wohnt, ein Gespräch über Skype geführt. Ich weiß nicht genau, wie lange Zeit ich benötigte, sie davon zu überzeugen, dass das Telefonieren mittels eines Computers nicht gefährlich sei, vielmehr angenehm, weil man einander sehen könne, wenngleich etwas in der Zeit verzögert. Ich glaube, es waren Monate gewesen. Ich musste ihr zuletzt hoch und heilig versprechen, keine Fotografien von ihrem Abbild zu machen, oder nur dann, wenn sie mir das Fotografieren ausdrücklich gestatten würde. — Früher Nachmittag in Brooklyn, die Sonne schien noch, genau die Sonne, die bei mir längst untergegangen war. Josephine hatte eine Lesebrille aufgesetzt, ihr rotes Haar schimmerte im hellen Licht, das von den Fenstern her auf sie fiel. Aber das Zimmer, in dem sie saß, lag im Schatten. Ich konnte eine Lampe erkennen, die neben jenem Schreibtisch stand, vor dem Josephine Platz genommen hatte, um genau in diesem Moment mein Gesicht auf einem Bildschirm zu betrachten. Wir waren uns schon einmal persönlich begegnet, aber nicht in dieser Weise, ich konnte sehen, dass sie sich geschminkt hatte und ein wenig nervös war, vermutlich deshalb, weil sie nicht wie üblich im Gespräch mit ihrem Telefon auf und ab laufen konnte. Wie geht es Ihnen, erkundigte sie sich. Ich antwortete, dass es mir gut gehen würde, eine leichte Erkältung vielleicht, nichts Ernstes. Es soll kalt werden in den kommenden Tagen, sagte Josephine. Sie sprach langsam, überlegt, wie immer, wenn sie in deutscher Sprache formulierte, und sie lachte und stand kurz darauf vor dem Computer auf, sodass sie für mich unsichtbar wurde. Sie fragte, ob ich sie noch hören könne, das Bild, das ich auf dem Schirm meines Computers sehen konnte, wackelte jetzt, weil sich der Computer der alten Dame selbst zu bewegen schien. Tatsächlich hatte sie ihr Netbook vom Tisch gehoben und war mit ihm zum Fenster gelaufen, hatte die kleine Maschine auf das Fenstersims gestellt, sodass ich einen Ausblick hatte auf die Brooklyn Heights Promenade, auf das dunstige Meer, es war ein wunderbarer Moment gewesen. Ich konnte Menschen erkennen, die unter Regenschirmen spazierten, es schien windig zu sein, Kinder spielten im Garten des Hauses, unter dessen Dach Josephine seit Jahrzehnten lebt, Laub wirbelte herum, ein paar Läufer kreuzten durch das Bild, am Pier 5 ankerten zwei Schlepper. Es war ein beinahe vertrauter Ausblick gewesen. Und wieder wackelte das Bild und das Meer verschwand und Josephine wurde erneut sichtbar. Können Sie mich sehen, wollte sie wissen, können Sie mich wirklich sehen? — stop
vor den kapverden
delta : 6.58 — Vor zwei Jahren einmal meldete sich mein Vater am Telefon, er wollte mir einige Gedanken übermitteln. Ich hatte ihn gefragt, ob es Tiefseeelefanten in physikalischer Hinsicht möglich sei, Atemluft über kilometerlange Rüssel in die Tiefe zu leiten. Mein Vater sendete mehrere Varianten einer Lösung dieses Problems, unter anderem dachte er darüber nach, dass die Luft gegen den steigenden Druck des Wassers vermutlich in einem Kammersystem in kleineren Portionen nach unten gedrückt werden könnte. Das leuchtete mir ein, ich war sehr zufrieden mit dieser Vorstellung eines Lufttransportwesens. In der vergangenen Nacht habe ich mich an die Vorstellungen meines Vaters erinnert, in einer Nacht, da ich Meldung erhielt, man habe vor den Kapverden Tiefseeelefanten gesichtet. Wieder ein Fischerboot, wie es sich in einer leichten Meeresströmung dreht. Schweigende Männer. Lampenlicht, das über das Wasser springt. Die Männer betrachten auch in diesen Minuten der Nacht schnaubende Rüsselspitzen einer riesigen Herde Tiefseeelefanten, die sich vielleicht soeben auf den Weg begeben, den Atlantik zu durchqueren, geräuschvoll atmende, sich liebkosende, samtig fleischige Knitterblüten. — Leichter, kühler Regen. – stop
anton voyls fortgang
~ : oe som
to : louis
subject : ANTON VOYLS FORTGANG
date : nov 10 12 10.08 p.m.
Es ist gekommen, wie ich es erwartet habe. Noe schweigt. Wir haben ihm George Perecs Roman Anton Voyls Fortgang in die Tiefe geschickt. Es handelt sich in unserer Versuchsanordnung um das Unterwasserbuch No 282, ein Buch, in dem der Buchstabe E auf 320 Seiten nicht erscheinen wird. Kurz nachdem Noe seine Lektüre mit fester Stimme aufgenommen hatte, versuchten wir vorherzusehen, wie lange Zeit Noe lesen würde, ehe er das vollständige Fehlen eines bedeutenden Buchstabens im Text bemerkt haben würde. Er las etwa 10 Minuten, dann hörte er auf, seine Stimme wurde zunächst leiser, er dehnte die Worte, sagte, dass ihm etwas merkwürdig vorkommen würde, er könne bisher nicht sagen, was genau ihm merkwürdig erscheine, er müsse nachdenken. Wir sitzen jetzt alle vor den Lautsprechern und Bildschirmen und warten. Im Schein der Lampe, die Noe und das Buch, das er in seinen schweren Händen hält, beleuchtet, sehen wir, dass er sich langsam bewegt. Er scheint im Buch zu blättern. Er scheint überhaupt noch immer, nach 656 Tagen in einer Meerestiefe von 820 Fuß schwebend, ein guter Beobachter zu sein, obwohl es nichts zu sehen gibt als etwas Dämmerung, wenn Tag geworden ist, und ein paar Fische, die ihn von Zeit zu Zeit besuchen. Ich nehme an, Noe wird oft an uns denken. Er hört uns zu, hört, was wir sprechen, auch dann, wenn wir unter uns sind, wenn wir vergessen haben, das Mikrofon auszuschalten. An der Art und Weise wie wir atmen, vermag Noe zu unterscheiden, ob Lin, Eric, Martin, Tom, Lilly oder ich vor dem Mikrofon Platz genommen haben. Gerade eben beginnt er wieder zu lesen, er scheint an den Anfang des Buches zurückgekehrt zu sein: In Rocamadour gabs Mundraub sogar am Tag: man fand dort Thunfisch, Milch und Schokobonbons im Kilopack. Und wieder schweigt Noe. Es ist später Abend. Samstag. Ein Frachtschiff, hell beleuchtet, lungert am Horizont. Ahoi, lieber Louis. Dein OE SOM
gesendet am
10.11.2012
1856 zeichen
rom : taschen
marimba : 22.05 — Man wird vielleicht nicht sofort bemerken, dass man sich in einem Jagdgeschehen befindet. Nein, von Jägern ist auf der Piazza Navona zunächst nichts zu sehen und nichts zu hören. Ein zauberhafter Platz, länglich in der Form, drei Brunnen, eine Kirche, und Cafés, eines nach dem anderen, kleinere Läden, in welchen wir Pasta in allen möglichen Formen und Farben entdecken, Weine, Schinken, Käse. Am Abend fliegen beleuchtete Propeller durch die Luft. Maler, welche entsetzliche Bilder produzieren, erwarten amerikanische Kunden, sie sitzen auf Klappstühlen im Licht ihrer Glühlampen, die sie mittels Batterien mit Strom versorgen. Straßenmusikanten sind da noch, mit ihren Bandoneons, Geigen, Kontrabässen, und Angestellte der Müllentsorgung, Frauen, jüngere Frauen in weinroten Overalls, ihre Hände sind gepflegt, ihre Fingernägel rot lackiert. Aber jetzt, wenn man in Richtung jener schwarzhäutigen jungen Männer blickt, die vor einem der Brunnen den Versuch unternehmen, ihre Arbeit zu verrichten, wird es ernst. Sie haben Handtaschen in allen möglichen Formen auf den Boden vor sich abgestellt, je zwei Reihen, Behälter von Prada, Picard, Chanel, Griffe derart ausgerichtet, dass man sie mit je einer Handbewegung allesamt sofort ergreifen und flüchten kann. Eine typische Geste, sind doch jene armselig wirkenden Händler der Luxustaschen mehr oder weniger flüchtende Wesen. Kaum haben sie ihre Anordnung im Flanierbezirk möglicher Kunden sorgfältigst aufgebaut, raffen sie ihre Ware wieder zusammen und rasen in eine der Seitenstraßen davon, um nach wenigen Minuten wieder hervorzukommen, wie in einem Spiel, wie aufgezogen. Am ersten Abend meiner Beobachtungen auf der Piazza Navona, waren nur Flüchtende zu sehen, nicht aber die Jäger, eine eigenartige Situation, aber schon am zweiten Abend war eine jagende Gestalt vor meinen Augen in Erscheinung getreten. Es handelte sich um einen Hauptmann der Carabinieri, um einen Herrn präzise mit äußerst aufrechtem Gang. Er trug weiße Streifen an seinen Hosen, und eine Uniformjacke, tadellos, und eine Mütze, sehr amtlich, er war eine wirkliche Zierde, ein Staatsmann, wie er so über den Platz schritt, hinter den flüchtenden afrikanischen Männer her, ausdauernd, lauernd, ein Ansitzjäger, möchte ich sagen, einer, der an Straßenecken wartet, um die Wiederkehr der schwarzen Händler zu unterbinden oder um einen von ihnen einzufangen und an Ort und Stelle unverzüglich zu verspeisen. Stop. Freitagabend. stop. Eine Biene überquert zur Unzeit den Platz in südliche Richtung, als wär sie ein Zugvogel. — stop