Aus der Wörtersammlung: luft

///

aleppo

9

romeo : 0.15 — Ärz­te ohne Gren­zen notie­ren am 15. Okto­ber 2016: „Syri­sche und rus­si­sche Luft­an­grif­fe haben inner­halb von 24 Stun­den vier Kran­ken­häu­ser im bela­ger­ten Ost-Alep­po getrof­fen. Eines der Kran­ken­häu­ser wur­de dabei schwer­be­schä­digt, min­des­tens zwei Ärz­te wur­den ver­letzt. Auch ein Kran­ken­wa­gen wur­de bei den Angrif­fen zer­stört und des­sen Fah­rer getö­tet. / Das Gesund­heits­sys­tem im bela­ger­ten Ost-Alep­po erlitt damit am 14. Okto­ber die schwers­ten Schä­den seit dem Schei­tern der kur­zen Waf­fen­ru­he Ende Sep­tem­ber. Die Inten­si­tät der Luft­an­grif­fe auf die nord­sy­ri­sche Stadt nahm in den Tagen zuvor wei­ter zu. / Laut der Direk­ti­on für Gesund­heit sowie dem foren­si­schen Zen­trum in Ost-Alep­po star­ben dort zwi­schen dem 11. und dem 14. Okto­ber min­des­tens 62 Men­schen, 467 Men­schen wur­den ver­letzt, dar­un­ter 98 Kin­der. Die Zahl der Toten und Ver­wun­de­ten liegt mög­li­cher­wei­se noch höher, denn vie­le Fami­li­en begra­ben ihre Toten selbst, ohne sie in ein Kran­ken­haus zu brin­gen. / “Die Stadt bricht immer wei­ter zusam­men” / „Die rück­sichts­lo­sen Luft­an­grif­fe sind ein­deu­tig noch schlim­mer gewor­den“, sagt Car­los Fran­cis­co, Lan­des­ko­or­di­na­tor von Ärz­te ohne Gren­zen für Syri­en. „Eines der Kran­ken­häu­ser, die ges­tern getrof­fen wur­den, wur­de stark beschä­digt. Es ist ein wich­ti­ges chir­ur­gi­sches Zen­trum, das in den ver­gan­ge­nen Wochen schon drei­mal getrof­fen wor­den ist. Die Inten­si­tät der Angrif­fe erstickt die weni­gen medi­zi­ni­schen Kapa­zi­tä­ten, die das Gesund­heits­sys­tem in Alep­po noch hat. Die Stadt bricht immer wei­ter zusam­men, Tag für Tag, Stun­de für Stun­de. Syri­en und Russ­land zer­stö­ren die letz­ten Orte, an denen noch Leben geret­tet wer­den kön­nen. Damit zei­gen sie, dass sie in Ost-Alep­po jeg­li­ches Leben unmög­lich machen wol­len.“ / Laut Berich­ten von Kran­ken­haus­mit­ar­bei­tern in Ost-Alep­po wur­den bei den Angrif­fen vom 14. Okto­ber zwei Ärz­te ver­letzt, ein Lager­ver­wal­ter eines der Kran­ken­häu­ser erlitt Ver­bren­nun­gen. Bis­lang gab es in Alep­po noch 35 Ärz­te für rund 250.000 Men­schen. Nur sie­ben von ihnen sind Chir­ur­gen, die Kriegs­ver­letz­te ope­rie­ren kön­nen. Seit dem Beginn der Bela­ge­rung des Ost­teils im Juli wur­den die weni­gen ver­blie­be­nen Kran­ken­häu­ser 27 Mal getrof­fen, nicht ein ein­zi­ges Kran­ken­haus ist bei den Luft­an­grif­fen ohne Scha­den geblie­ben. / Nur noch elf funk­ti­ons­tüch­ti­ge Kran­ken­wa­gen / Auch ein Kran­ken­wa­gen der Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on (NGO) Al-Scham-Huma­ni­ta­ri­an-Foun­da­ti­on (AHF) wur­de am 14. Okto­ber kom­plett zer­stört, der Fah­rer wur­de getö­tet. Die AHF stellt den Men­schen in Syri­en seit 2011 kos­ten­lo­se medi­zi­ni­sche Hil­fe zur Ver­fü­gung. Erst eini­ge Tage zuvor hat­te die Direk­ti­on für Gesund­heit berich­tet, dass auf­grund der Luft­an­grif­fe sowie der feh­len­den Ersatz­tei­le nur noch elf funk­ti­ons­fä­hi­ge Kran­ken­wa­gen in Ost-Alep­po bereit­ste­hen. Frei­wil­li­ge und NGOs nut­zen ein­fa­che Fahr­zeu­ge, um Ver­wun­de­te zu trans­por­tie­ren. / „Wir haben es bereits gesagt und sagen es erneut: Alle Kon­flikt­par­tei­en müs­sen ermög­li­chen, dass schwer Ver­wun­de­te und Kran­ke aus der Stadt gebracht wer­den, bevor es zu spät ist“, sagt Pablo Mar­co, Lei­ter der Nah­ost-Pro­gram­me von Ärz­te ohne Gren­zen. „Über­le­bens­wich­ti­ge Güter und medi­zi­ni­sches Mate­ri­al müs­sen in die Stadt gebracht wer­den kön­nen. Die Men­schen dort lei­den nicht nur unter dem anhal­ten­den Bom­ben­ha­gel, son­dern auch dar­un­ter, dass sie über­haupt kei­ne Unter­stüt­zung erhal­ten.“ / Ärz­te ohne Gren­zen unter­stützt in Ost-Alep­po alle acht ver­blie­be­nen Kran­ken­häu­ser. Lan­des­weit unter­stützt die Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on mehr als 150 Gesund­heits­zen­tren und Kli­ni­ken. Im Nor­den Syri­ens betreibt Ärz­te ohne Gren­zen selbst sechs medi­zi­ni­sche Ein­rich­tun­gen. Zu den von der syri­schen Regie­rung kon­trol­lier­ten Gebie­ten ein­schließ­lich West-Alep­po erhält die Orga­ni­sa­ti­on kei­nen Zugang. - stop

ping

///

kalkutta

9

del­ta : 5.02 — Ein Brief, 12.5 Gramm schwer, den ich vor zwei Jah­ren als Son­de per Luft­post nach Kal­kut­ta schick­te, ist ges­tern zu mir zurück­ge­kom­men. Irgend­wann wäh­rend der ver­gan­ge­nen Mona­te muss ich ihn doch tat­säch­lich ver­ges­sen haben. Jetzt, da der Brief vor mir auf dem Schreib­tisch liegt, erin­ne­re ich mich prä­zi­se, dass ich ihn an ein zwei­stö­cki­ges Haus in einer Stra­ße adres­sier­te, die sich nicht in unse­rer Wirk­lich­keit befin­det. Da in Kal­kut­ta zahl­rei­che stra­ßen­lo­se Häu­ser exis­tie­ren sol­len, stell­te ich mir vor, ein Brief­trä­ger habe sich in dem Wunsch, mei­nen Brief erfolg­reich zustel­len zu kön­nen, ein Haus aus­ge­dacht, das an einer Stra­ße liegt, die tat­säch­lich exis­tiert, oder eine Stra­ße, die nicht exis­tiert für ein Haus, in dem ein Mann namens Sini Sha­pi­ro lebt. Spu­ren, die ich auf dem Kuvert des Brie­fes ent­deck­te, erzäh­len von drei oder vier Ver­su­chen, das Schrift­stück an Mr. Sha­pi­ro aus­zu­hän­di­gen, so fin­den sich auf der Ansichts­sei­te des Brie­fes die Stem­pel­mo­ti­ve Adres­se insuf­fi­san­te (Anschrift unvoll­stän­dig) sowie Pas de boî­te à ce nom (Kein Namens­schild), auf der Rück­sei­te indes­sen unles­ba­re hand­schrift­li­che Zei­chen, die mit Füll­fe­der oder Blei­stift auf­ge­tra­gen wor­den waren. Mög­li­cher­wei­se lager­te mein Brief zwei Jah­re lang auf einem Schreib­tisch in Kal­kut­ta unter wei­te­ren Brie­fen, die nicht zustell­bar waren. Mög­li­cher­wei­se, auch das ist denk­bar, wur­de von Zeit zu Zeit ein pos­ta­li­scher Spä­her in die Stadt ent­sandt, um nach­zu­se­hen, ob das Haus oder die Stra­ße, die kurz zuvor noch nicht exis­tier­ten, nun doch zu fin­den waren. Kürz­lich wur­de dann jeder wei­te­re Zustel­lungs­ver­such auf­ge­ge­ben. Ja, das ist denk­bar. Ich wer­de mei­nen weit gereis­ten Brief sorg­fäl­tig ver­wah­ren. Sicher ist: Mr. Sini Sha­pi­ro exis­tiert tat­säch­lich. Er lebt in Man­hat­tan in einem Haus an der Park Ave­nue Höhe 70. St., er liebt Brook­lyn. — stop

ping

///

radionuklidbatterie

pic

~ : louis
to : mr. eliot
sub­ject : RADIONUKLIDBATTERIE

Lie­ber Eli­ot! Guten Mor­gen! Wie geht’s, wie steht’s? Ich frag­te mich, ob Du die Hit­ze, — auch bei Dir drü­ben soll es sehr heiß sein -, gut ver­tra­gen kannst? Ich sor­ge mich ein wenig, ver­mut­lich ohne Grund! Mir jeden­falls bekommt die Hit­ze nicht sehr gut. Auch Vaters alter Uhr nicht. Ich tra­ge sie, seit er gestor­ben ist vor vier Jah­ren. Jetzt ist sie ste­hen­ge­blie­ben, ver­mut­lich weil ihre Bat­te­rien in der war­men Luft müde gewor­den sind. Für ein paar Stun­den habe ich mir aus­ge­malt, dass die Zeit mei­nes Vaters nun end­gül­tig ende­te. Das ist schmerz­voll, ich wür­de ihm gern noch ein­mal erzäh­len von mei­nen Wün­schen, von einem Vogel bei­spiels­wei­se, der mein Leben verzeich­net, der mich beglei­tet, Gesprä­che, die ich täg­lich mit Men­schen füh­re oder heim­li­che Gesprä­che mit mir selbst. Auch wür­de vom Vogel auf­ge­nom­men, was ich gese­hen habe wäh­rend ich reis­te, einen Ken­tau­ren im Gebir­ge, Regen­trop­fen am Strand von Coney Island, eine schla­fen­de Hand, die zeich­ne­te. Manch­mal ist es ange­nehm, sich wün­schen zu kön­nen, was nicht mög­lich zu sein scheint, eine gro­ße Frei­heit der Spe­ku­la­tion. Aber in den ver­gan­ge­nen Tagen wur­de mir bewusst, dass die Ver­wirk­li­chung eines mich beglei­ten­den Vogel­we­sens nicht län­ger uto­pi­sch sein muss. Ich kann mir eine flie­gende Maschi­ne ohne wei­tere Anstren­gung vor­stel­len, ein künst­li­ches Luft­we­sen, vier Pro­pel­ler, ange­trie­ben von einer leich­ten Radio­nu­klidbat­te­rie, die sich tat­säch­lich für Jahr­zehnte an mei­ner Sei­te in der Luft auf­hal­ten könn­te, ein bei­nahe laut­lo­ses Wesen in der Gestalt eines Koli­bris, eines Tau­ben­schwänz­chens oder einer Bie­ne, davon erzähl­te ich schon. Ich weiß nicht war­um das so ist, ich habe den Ein­druck, wenn ich Vaters Uhr bald wie­der in Gang set­zen wer­de, wird sie mei­ne Uhr gewor­den sein, das ist viel­leicht ein wenig ver­rückt, oder auch nicht. Ges­tern habe ich eine Geschich­te von 18 Sei­ten Län­ge auf ein Ton­band gespro­chen und der­art beschleu­nigt, dass mei­ne Stim­me zu einem Geräusch von 10 Sekun­den Dau­er wur­de, eine Art Hoch­ge­schwin­dig­keits­hör­spiel, das ich selbst nicht hören konn­te, weil ich sehr hohe Geräu­sche seit lan­ger Zeit nicht mehr wahr­neh­me. Ich sen­de Dir die Datei anbei. Wür­dest Du bit­te prü­fen, ob Du selbst sie viel­leicht noch hören kannst, oder irgend­je­mand sonst? Mel­de Dich bald! Dein Lou­is

gesen­det am
10.09.2016
22.56 UTC
2453 zeichen

segelpferdchen

///

die luft über aleppo

9

nord­pol : 22.01 — Seit Tagen lässt sich in aller Ruhe die Erfin­dung eines fra­gen­den Gedan­kens beob­ach­ten. Es han­delt sich bei die­sem Gedan­ken um eine Zei­chen­ket­te fol­gen­den Inhalts: Ist es viel­leicht denk­bar, die ein­ge­schlos­se­nen Bür­ger­men­schen der Stadt Alep­po mit Trink­was­ser, Medi­ka­men­ten und Brot aus der Luft zu ver­sor­gen? Noch lässt sich nicht sagen, ob der Gedan­ke so weit in einer logi­schen Form ver­wirk­licht wer­den wird, dass aus einem Gedan­ken im Sta­di­um der Ent­wick­lung, ein Gedan­ke wer­den könn­te, der sich tat­säch­lich den­ken, also ver­ste­hen lässt, dem­zu­fol­ge mit einem wei­te­ren Gedan­ken in Ver­bin­dung gebracht wer­den könn­te: Wann wer­den wir die ein­ge­schlos­se­nen Bür­ger­men­schen der Stadt Alep­po mit Trink­was­ser, Medi­ka­men­ten und Brot aus der Luft ver­sor­gen? — stop

manuskript3

///

sechs finger

pic

sier­ra : 0.28 — Kurz nach Mit­ter­nacht wie­der­um stürz­te ein Fal­ter auf mei­nen Schreib­tisch. Ich hat­te die Fens­ter geöff­net, küh­le und doch wür­zi­ge, feuch­te Luft von drau­ßen, und eben der Fal­ter, der plötz­lich vor mir auf dem Rücken lag und sich nicht mehr rühr­te, als wäre er wäh­rend sei­nes Nacht­flu­ges tief und fest ein­ge­schla­fen. Da war nun eine selt­sa­me Fra­ge. Wie wecke ich einen schla­fen­den Fal­ter, ohne ihn in Angst und Schre­cken zu ver­set­zen? Ich könn­te mit mei­nem Atem etwas Wind erzeu­gen, oder aber ich könn­te nach einem fei­nen Pin­sel suchen. Ich könn­te ande­rer­seits vor­ge­ben, als wäre der Fal­ter nicht wirk­lich. Ich muss das nicht sofort ent­schei­den. Nein, ich muss das nicht sofort ent­schei­den. Ich notie­re: Vor weni­gen Stun­den mel­de­ten Nach­rich­ten­agen­tu­ren, Rebel­len hät­ten einen Kor­ri­dor zu ein­ge­schlos­se­nen Men­schen im Zen­trum der Stadt Alep­po frei­ge­kämpft. Wer sind die­se Rebel­len, was den­ken sie, was haben sie vor? Vor weni­gen Tagen noch beob­ach­te­te ich, wie die klei­ne M. ihre Fin­ger zähl­te, es war selt­sa­mer­wei­se immer­zu sechs Fin­ger. Auch ich habe sechs Fin­ger, wenn M. sie zählt. — stop
ping

///

aleppo

9

hima­la­ya : 0.02 — Viel­leicht darf ich fol­gen­den Bericht in vol­ler Län­ge wie­der­ge­ben. Der jun­ge Jour­na­list Zou­hir al Shim­le berich­tet via E‑Mail für Die Zeit: Seit Alep­po bela­gert ist, flie­gen Assads Trup­pen und sei­ne Ver­bün­de­ten jeden Tag Luft­schlä­ge auf die Vier­tel der Rebel­len, also auch dort, wo ich lebe. Unun­ter­bro­chen dröh­nen Kampf­jets über uns hin­weg, Heli­ko­pter krei­sen über den Häu­sern. Jeden Tag ster­ben hier fast fünf­zig Zivi­lis­ten. Wir leben in einem nie enden­den Getö­se von Schie­ße­rei­en, Explo­sio­nen, Geschrei. Die meis­ten von uns trau­en sich nicht mehr, nach drau­ßen zu gehen. Manch­mal het­zen ein paar Leu­te die Stra­ßen ent­lang, um Lebens­mit­tel zu besor­gen – und ren­nen sofort nach dem Ein­kauf zurück in ihre Woh­nun­gen. Dabei ist es zu Hau­se nicht siche­rer als auf der Stra­ße. Denn die Bom­ben tref­fen auch unse­re Häu­ser. Wäh­rend ich die­se Zei­len schrei­be, höre ich das Don­nern der Kampf­flug­zeu­ge, von irgend­wo her dringt Gefechts­lärm. Gott sei Dank habe ich bis­her alle Angrif­fe über­lebt. Aber vor ein paar Tagen war ich dem Tod so nah wie nie zuvor. Ich war im Vier­tel Al-Mash­had unter­wegs, dort, wo mein Büro ist. Ich stand gera­de im Laden in unse­rer Stra­ße, um mir etwas zu trin­ken zu kau­fen, als die ers­te Fass­bom­be ein­schlug, gera­de mal fünf Häu­ser von uns ent­fernt. Ich duck­te mich für eini­ge Sekun­den vor den umher­flie­gen­den Metall­tei­len. Dann rann­te ich raus auf die Stra­ße. Nur weni­ge Sekun­den spä­ter schlug in der Stra­ße die zwei­te Fass­bom­be ein. Ein Metall­split­ter bohr­te sich in mei­nen Rücken, ein ande­rer in mein Bein. Ich rann­te von der Stra­ße wie­der zurück zum Laden. Und war vor Schock wie gelähmt: Sie­ben Men­schen, die dort Schutz vor der zwei­ten Bom­be gesucht hat­ten, waren tot, zer­quetscht vom Schutt der ein­ge­stürz­ten Decke. Sie star­ben nur, weil sie sich in den Sekun­den der Explo­si­on anders ent­schie­den hat­ten: Sie hiel­ten sich zwi­schen den Rega­len ver­steckt, wäh­rend ich auf die Stra­ße lief. Nur des­we­gen habe ich als Ein­zi­ger von uns über­lebt. Die Hel­fer hat­ten gro­ße Mühe, die ver­dreh­ten und durch­trenn­ten Kör­per aus dem Geröll zu zie­hen. Ange­hö­ri­ge der Toten lagen am Boden und schrien, Kin­der wein­ten. Aus eini­gen Kör­pern quol­len Inne­rei­en, über­all lagen abge­trenn­te Hän­de und Bei­ne. Ins­ge­samt star­ben durch die­se Angrif­fe 15 Men­schen, 25 – mit mir – wur­den ver­letzt. Ich kann die­se Bil­der nicht ver­ges­sen. Ich hät­te einer die­ser Kör­per sein kön­nen. Ich wur­de schnell in ein Kran­ken­haus gebracht, doch hel­fen konn­te mir dort nie­mand. Zu vie­le Men­schen benö­tig­ten Hil­fe, unauf­hör­lich brach­ten Män­ner neue Tra­gen mit Schwer­ver­letz­ten hin­ein. Wäh­rend ich auf den Arzt war­te­te, sah ich so viel Blut, dass ich zu hal­lu­zi­nie­ren begann. Ein Freund brach­te mich des­halb in ein ande­res Kran­ken­haus, wo sich Schwes­tern um mich küm­mer­ten. Sie ent­fern­ten einen Metall­split­ter, der ande­re steckt noch in mei­nem Bein. Sie sagen, er kön­ne erst in eini­ger Zeit ent­fernt wer­den. Doch es sind nicht nur die Bom­ben und Gefech­te, die unser Über­le­ben immer schwe­rer machen. Das Regime hat nun auch die Cas­tel­lo-Stra­ße ein­ge­nom­men. Sie ist eine Todes­zo­ne gewor­den: Stän­dig wird geschos­sen, bren­nen­de Autos lie­gen am Stra­ßen­rand. Das Regime kämpft dort mit aller Macht – und schnei­det uns damit von der Außen­welt ab. Die Cas­tel­lo-Stra­ße war bis­lang die ein­zi­ge Ver­bin­dung von Alep­po nach drau­ßen, in die Vor­or­te und in die Tür­kei. Es war die Lebens­ader der Stadt, von dort haben wir Lebens­mit­tel, Gas, Brenn­stoff, Trink­was­ser und Medi­zin bekom­men.  Die Bela­ge­rung ist für uns dra­ma­tisch. Denn jetzt gibt es kaum noch Obst und Gemü­se zu kau­fen, über­haupt sind die Märk­te fast leer. Auch haben wir immer weni­ger Brenn­stoff, wir ver­brau­chen gera­de die letz­ten Reser­ven der Stadt. Bald schon wer­den wir in kom­plet­ter Dun­kel­heit leben. Das ist es, was das Regime und sei­ne Mili­zen wol­len: dass Alep­po lang­sam stirbt. Sie set­zen dabei allein auf die Zeit. Wir, die noch rund 300.000 Ver­blie­be­nen, wer­den nicht mehr lan­ge ver­sorgt wer­den kön­nen. Ich fürch­te, dass unser Unter­gang schließ­lich dadurch kommt, dass wir alle um Was­ser und Brot kämp­fen. Und dass die, die nicht mehr stark genug sind, dar­um zu kämp­fen, ein­fach ver­hun­gern wer­den. Fakt ist: Wir sit­zen fest. Wir haben kei­ne Chan­ce mehr, aus Ost-Alep­po her­aus­zu­kom­men. Ich habe immer mit drei Freun­den in einer WG zusam­men gewohnt. Jetzt ist nur noch einer von ihnen hier. Malek hat gehei­ra­tet und lebt nun mit sei­ner Frau zusam­men, sie erwar­ten ein Baby. Der ande­re, Jawad, konn­te in die Tür­kei ent­kom­men. Sein Vater wur­de bei einem Angriff schwer ver­letzt und Jawad konn­te mit ihm vor ein paar Wochen in die Tür­kei fah­ren, damit er dort medi­zi­ni­sche Hil­fe bekommt. Jawad ver­sucht, wie­der zu stu­die­ren. Er wird nicht mehr nach Alep­po zurück­kom­men. So zynisch es klingt: Er hat Glück gehabt. Denn nur sehr kran­ke Men­schen dür­fen mit einer Beglei­tung den Grenz­über­gang Bab al-Sal­a­meh in die Tür­kei pas­sie­ren. Die Tür­kei ist da sehr strikt. Für mich gilt das also nicht Selbst, wenn ich Alep­po ver­las­sen woll­te: Ich kann es nicht. Die Bom­bar­die­run­gen in der Stadt sind zu stark, ich wür­de nicht mehr weit kom­men. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr weg­kom­men wer­de. Die Bom­ben fal­len wei­ter, jeden Tag, jede Stun­de. Sie tref­fen alles, was sich bewegt. Ich sit­ze in Alep­po fest. Aber noch bin ich am Leben. — stop
ping

///

abschnitt neufundland

picping

Abschnitt Neu­fund­land mel­det fol­gen­de gegen Küs­te gewor­fe­ne Arte­fak­te : Wrack­tei­le [ See­fahrt – 102, Luft­fahrt — 24, Auto­mo­bi­le — 503], Gruß­bot­schaf­ten in Glas­be­häl­tern [ 18. Jahr­hun­dert — 2, 19. Jahr­hun­dert – 18, 20. Jahr­hun­dert – 326, 21. Jahr­hun­dert — 788 ], Trol­ley­kof­fer [ blau : 3, rot : 77, gelb : 8, schwarz : 866 ] phy­si­cal memo­ries [ bespielt — 166, gelöscht : 12 ], See­not­ret­tungs­wes­ten : [ 6788 ], Amei­sen [ Arbei­ter ] auf Treib­holz [ 10 ], Brumm­krei­sel : 3, Öle [ 0.88 Ton­nen ], Hör­rausch­ge­rä­te Typ Audi­fon Sue­no T : 2, Pro­the­sen [ Herz — Rhyth­mus­be­schleu­ni­ger – 6, Knie­ge­len­ke – 698, Hüft­ku­geln – 12, Bril­len – 77 ], Halb­schu­he [ Grö­ßen 28 – 39 : 551, Grö­ßen 38 — 45 : 43 ], Plas­tik­san­da­len [ 8722 ], Rei­se­do­ku­men­te [ 108 ], Kühl­schrän­ke [ 1 ], Tele­fo­ne [ 536 ], Pup­pen­köp­fe [ 18 ] Gas­mas­ken [ 6 ], Tief­see­tauch­an­zü­ge [ ohne Tau­cher – 1, mit Tau­cher – 2 ], Engels­zun­gen [ 101 ] | stop |

ping

///

ein faden

9

echo : 22.02 — Ein­mal fuhr ich auf einer Sta­ten Island Fäh­re über die Upper New York Upper Bay spa­zie­ren. Ich war kon­zen­triert. Ich hat­te eine Auf­ga­be. Ich beob­ach­te­te den Him­mel. Ich beob­ach­te­te die Wol­ken. Ich beob­ach­te­te die Häu­ser an der süd­li­chen Spit­ze der Insel Man­hat­tan. Ich erin­ner­te mich an den Film The Look. Es war Som­mer. Es war Nach­mit­tag. Ich hör­te Nach­rich­ten aus einem Radio, die von einem Hur­ri­ka­ne erzähl­ten, der sich von Wes­ten her nähe­re. Men­schen saßen schweig­sam her­um, sie fächer­ten sich Luft zu. Auf dem Dach eines älte­ren Gebäu­des hock­ten Möwen in gro­ßer Höhe. Sie wirk­ten, als wären sie Erfin­dun­gen, kaum sicht­bar, ein Schim­mern in der Luft. In die­sem Augen­blick lös­te sich eine der Möwen vom Dach des Hau­ses, das ich beob­ach­te­te. Sie segel­te über den Bat­tery Park, flog bald in einem groß­zü­gi­gen Bogen gegen den Wind, um schnell näher­zu­kom­men. Weni­ge Sekun­den spä­ter lan­de­te die Möwe nur weni­ge Meter ent­fernt auf der Reling des Schif­fes. Eine Wei­le blieb sie dort sit­zen, sie schien mich zu betrach­ten. Dann flog sie los, flog zurück unge­fähr auf dem­sel­ben Weg, den sie für ihren Hin­flug genom­men hat­te. Bald saß sie wie­der auf dem Dach des alten Hau­ses unter wei­te­ren Möwen, eine schim­mern­de Erfin­dung, dach­te ich, sehr klein, ich konn­te sie gut erken­nen ent­lang eines Fadens von Bil­dern, den ich ver­zeich­net hat­te. — stop

ping

///

von libellen : von zikaden

ping
ping
ping
ping

oli­mam­bo : 0.02 — Dass ich gut den­ken und erfin­den kann, sobald ich Libel­len beob­ach­te oder von Libel­len beob­ach­tet wer­de, habe ich vor Jah­ren bereits bemerkt. Das ist mög­li­cher­wei­se so, weil Libel­len sich in der Art und Wei­se der Gedan­ken selbst bewe­gen. Sie schei­nen lan­ge Zeit still in der Luft zu ste­hen und sind doch am Leben, was man dar­an erken­nen kann, dass sie nicht zu Boden fal­len. Etwas Zeit ver­geht, wie immer. Und plötz­lich haben sich die fei­nen Libel­len­raub­tie­re wei­ter­be­wegt. Sie sind von einer Sekun­de zur nächs­ten Sekun­de an einem ande­ren Ort ange­kom­men. Genau so scheint es mit Gedan­ken zu sein. Sie sprin­gen wei­ter und machen neue Gedan­ken, ohne dass der Weg von da nach dort sicht­bar oder spür­bar gewor­den wäre. Irgend­je­mand müss­te sofort Libel­len erfin­den, die Geräu­sche der Zika­den erzeu­gen, dann wär ich zufrie­den. — stop

unterwassertapete5

///

im park

9

whis­key : 2.54 — Im Park in der Däm­me­rung hör­te ich eine höchst selt­sa­me Unter­hal­tung. Drei Män­ner und eine Frau saßen in mei­ner Nähe auf einer Bank. Sie waren bereits in ihr Gespräch ver­tieft, als ich mich set­ze. War­me und schwü­le Luft über dem See im Pal­men­gar­ten. Fal­ter opfer­ten sich Abend­seg­lern, deren Schat­ten durch die blau­en Fin­ger der Nacht husch­ten, eine Maus hetz­te zwi­schen unse­ren Füßen her­um, zwei Enten schlie­fen auf dem Was­ser. Die jun­gen Men­schen in mei­ner Nähe, davon woll­te ich eigent­lich erzäh­len, über­leg­ten, wie lan­ge Zeit man ein Nil­pferd über einem Feu­er an einem Dreh­spieß erhit­zen müss­te, bis es gar gewor­den sein wür­de. Das war ein erstaun­li­ches Gespräch, auch die Spe­ku­la­ti­on dar­über, wo genau man am bes­ten einen Nil­pferd­kör­per anschnei­den soll­te, wie vie­le Men­schen von einem Nil­pferd satt wer­den wür­den, wel­chem wei­te­ren Tier das Nil­pferd im Geschmack ähn­lich sein könn­te. Ich spa­zier­te dann nach Hau­se. — stop
ping



ping

ping