ulysses : 17.25 — Heute Nachmittag wollte ich ein Nachtbuch kaufen. Ich spazierte deshalb über die Zentralstation gegen 16 Uhr im Zitronenlicht mit meiner Filmkamera. Ich ging sehr langsam, schaute über schattige Bahnsteige, schaute genau dorthin, wo die Verkäufer der Nachtbücher manchmal sichtbar werden. Man kann die Verkäufer der Nachtbücher immer nur dann erkennen, wenn man an eine eigene Geschichte denkt, an eine Geschichte, die man einem anderen Menschen erzählen könnte, zum Beispiel, um diesen Menschen glücklich zu machen oder um ihm die Zeitnot zu vertreiben, wenn er nicht sofort glücklich werden kann. Also dachte ich an Billy, den Kentaur, wie er sich freute, weil er auf einem Raubzug im Gebirge ein Telefonverzeichnis der Stadt Chicago fand, nahe eines rauchenden Jagdfischerlagers. Ich musste dann nicht lange weitergehen. Auf Bahnsteig 15 war gerade ein Zug aus Amsterdam eingetroffen, dort saß auf einer Bank ein Nachtbuchhändler und lachte, als ich mich neben ihn setzte. Billy, sagte er, Du denkst wieder an Billy. Das ist gut, mein Lieber, das wird eine feine Geschichte werden. Haben wir einen Wunsch? Und schon war er wieder verschwunden und ich spazierte weiter und jetzt ist früher Abend und ich sitze auf meinem Sofa, ein Buch für die Nacht liegt neben mir, und warte, dass es dunkel wird, um die Geschichte eines fernen Menschen zu lesen, die mir die Zeitnot vertreiben wird. Ich weiß jetzt, dass die Händler der Nachtbücher weder für eine Fotografie noch für einen Film zur Aufzeichnung geeignet sind. Sie haben ihr ganz besonderes Licht.
Aus der Wörtersammlung: mittag
yanuk : stille
~ : yanuk le
to : louis
subject : STILLE
date : sept 7 08 10.15 p.m.
Lieber Mr. Louis, in der vergangenen Nacht sind seltsame Dinge geschehen. Ich hatte auf Höhe 258 mein Zelt aufgeschlagen, weil es geregnet, nein, weil es sehr stark geregnet hatte gestern Nachmittag. Die Bäume tropften und ich ahnte, dass nachts noch einmal Regen fallen würde, so feucht war die Luft geworden. Ich legte mich also in mein Zelt, hörte dem Singen der Nachtaffen zu und irgendwann schlief ich ein. Als ich erwachte, war es noch immer dunkel. Ich konnte nichts hören, keinen Laut, es war so still, als hätte ich meine Ohren verloren. Ja, für einen Moment dachte ich, dass das Hörvermögen der Lebewesen vielleicht nur eine Idee gewesen war, eine poetische Eigenschaft ohne die Möglichkeit einer Verwirklichung, und doch hörte ich Stille, ich hörte, dass ich nichts hörte, nichts von Außen her, also Stille von Außen, aber ein rhythmisches Geräusch von Innen, vermutlich die Bewegung meines Blutes. Ich verließ das Zelt und hörte noch immer nichts als mein Herz, das etwas schneller schlug. Eine Wolke kleinster Fliegen tanzte um meine Kletterlaterne, zwei Geckos saßen an einem Stamm in ihrer Nähe und angelten sich die schönsten Exemplare heraus. Ich hatte ihnen gestern bereits bei ihrer bequemen Arbeit zugesehen, und ich erinnerte mich, dass der Dschungel um mich herum geknistert hatte und die Affen ein unentwegtes Gespräch führten über große Distanz. Jetzt, wie zur Prüfung, berührte ich meine Ohren, sie waren noch da, beide Muscheln. Indem ich an der linken Muschel zog, drehte sich etwas herum in meinem Ohr, es krachte und ich hatte den festen Eindruck, besucht worden zu sein. Und auch rechts drehte man sich in meinem Ohr, sobald ich daran zog, zur Seite, aber dann wieder Stille beiderseits. Ich legte mich ins Zelt zurück und überlegte, ob ich vielleicht in Gefahr sein könnte, ob man vielleicht mein Gehirn betreten wollte, und weil es so schön still war, bin ich eingeschlafen. Ich schlief sehr lange, war schon hell, als ich erwachte, und der Dschungel knisterte und wisperte um mich her, und ich hörte die Affen des Tages und das Rufen der Nashornvögel und lag eine Weile so da, froh wieder hören zu können. Wie jeden Morgen saßen prachtvolle Käfer und Falter und Fliegen an den Wänden meines Zeltes. Und alle taten sie so, als hätten sie mit meinen Ohren nicht das Mindeste zu tun. stop. Yanuk
eingefangen
0.52 UTC
2334 Zeichen
vögel
echo : 6.05 — Eine Frau, sehr alt, sitzt in einem verwüsteten Zimmer auf dem Boden. Ihr Gesicht ist verletzt, das linke Auge erblindet, eine tiefblaue, geschwollene Wunde. Dann ist eine Straße zu sehen. Automobile fahren im Schritttempo schwer bepackt nach Norden oder Süden. Ein Hubschrauber der russischen Armee jagt über diese Straße hin, als würde ein Kinofilm gedreht. Ich schalte das Fernsehgerät aus, schließe die Wohnungstür und trete vor das Haus. Vögel pfeifen, immer pfeifen im Sommer Vögel, wenn ich auf die Straße trete, auch gestern, als wollten sie mir etwas sagen. Vielleicht wollten sie sagen, dreh Dich um, setz Dich an Deine Schreibmaschine, denk nach, versuche herauszufinden im Sucher Deines Seamonkeybrowsers, was dort geschieht vor den kaukasischen Bergen. Gestern, nachmittags, habe ich mich also doch auf den Weg gemacht, um in einem Warenhaus ein weißes Hemd zu kaufen. Zwei Stunden später saß ich im Café vor einer Tasse Schokolade und notierte, warum ich wegen ausgedehnter Beobachtungstätigkeit in dem Versuch scheiterte, ein weißes Herrenhemd zu kaufen. — stop
flugglas
nordpol : 22.05 — Lag nachmittags unter Sonne vor Ameisenstadt. Beobachtete, wie Bewohner, nein, Konstrukteure der knisternden Metropole, Käfer, Spinnen, Fliegen, Raupen, Rosenblätter, auch menschliche Papiere ins Wohngehäuse transportierten. Was, fragte ich mich, wird mit einer getöteten oder einer gelähmten Fliege, mit schlafenden Käfern und schlafenden Spinnen geschehen hinter der Fichtennadelhaut? Vielleicht einmal mit einer sehr kleinen Kamera eintauchen und schauen. Ich würde wohl auf eine Halle treffen, auf einen Ort der Zerlegung, des Tranchierens am laufenden Band. Hier also werden Prachtfliegen zerteilt und dort noch lebende Spinnen fein sortiert. In tiefer gelegenen Arsenalen dann die Kammer der Fluggeräte, die Kammer der Fliegen‑, der Libellenflügel, bitter duftende Luft, leichtes Flugglas bis unter die Decke geschichtet. In einer weiteren Höhlung sind je nach Länge und Stärke Spinnenbeine sortiert und aufeinandergelegt, Baumstämme, haarig, noch immer in zitternder Bewegung. Stunden werde ich in Magazinen schillernder Augen verweilen, ein begeisterter Zeuge in Fabriken gefangener Spinnen. Man hat ihnen die Beine abgenommen, aber sie leben und singen feinste Seide. Werden sie müde, werden sie an Soldaten verfüttert. — Kurz nach elf Uhr. Abend. Gerade eben hörte ich vom Tod des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. — stop
istanbul
nordpol : 2.55 — Beobachtete nachmittags auf meinem Fernsehbildschirm einen Blitz, der einen Abend zuvor von einer Handykamera aufgenommen worden war. Dieser Blitz ereignete sich in Istanbul zu einem Zeitpunkt, als ich gerade überlegte, ob ich in einem Buch lesen sollte oder besser noch etwas notieren über die Kirschholzwangen einer japanischen Frau, die ich gerade erfinde. Aber mein Kopf war in der feuchtwarmen Luft doch sehr langsam geworden, also stellte ich mich für zwei Minuten unter kaltes Wasser und als ich zurückkam und mein Fernsehgerät einschaltete, konnte ich sehen, was der Blitz, den ich erst einen Tag später mit eigenen Augen sehen würde, angerichtet hatte. Menschen lagen bewegungslos auf einer Straße herum und andere Menschen, die sich bewegten, versuchten jene Menschen, die lagen und sich nicht mehr bewegten, zu überreden, es ihnen gleichzutun, also zu atmen und weiterzuleben, als sei der Blitz nie geschehen. Da war das Geräusch von Ambulanzen, ein jaulender Ton, von dem ich häufig träume, und da war die Stimme einer amerikanischen Frau, die die Explosion zweier Bomben meldete, einer kleineren, lockenden Bombe und einer größeren, mordenden Bombe. Als ich gestern Nachmittag dann auf meinem Fernsehbildschirm jenen Blitz beobachtete, der so viele Menschen tötete, dass zwei Hände nicht ausreichen, sie mit den Fingern zu zählen, habe ich überlegt, ob ich nicht bald einmal wagen sollte, einen Attentäter zu erfinden, also mich in einen Attentäter zu verwandeln auf dem Papier, mich hineinzuversetzen in eine Figur, die Bomben legt, um Menschen zu töten. Ist es möglich, frage ich, mich in einen Attentäter so lange hineinzudenken, wie ich mich in eine japanische Frau hineindenke, eine japanische Frau mit einem kirschhölzernen Gesicht, ohne Schaden zu nehmen? — stop
simbabwe
delta : 0.02 — Gestern, am frühen Nachmittag, legte ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nachtarbeit sehr müde war. Ich stellte mein Fernsehgerät an, dort lief ein kleiner Charlie Chaplin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wieder wach wurde nach zwei Stunden, war der kleine Film zu Ende und ich sah in einem anderen Film eine Frau in einer grünen Landschaft auf dem Erdboden liegen. Die Frau, die ich sah, war eine afrikanische Frau, eine Bürgerin des Staates Simbabwe. Sie lag dort in Simbabwe auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sitzen konnte. Sie war ungefähr so alt wie ich oder sehr viel jünger, der tägliche Hunger hatte sie vielleicht älter gezeichnet, und sie schaute in die Kamera, eine europäische Kamera, und sagte, dass sie so gerne eine Apfelsine haben würde. — stop
libellen
sierra : 3.22 — Heut Nacht sitz ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle eben, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
mund ohne zunge
marimba : 5.15 — Schon immer bin ich ein Träumer gewesen, saß auf Bäumen, kam zu spät zur Schule oder zum Mittagessen, Fußballspiele endeten ohne mich, Züge fuhren in die falsche Richtung mit mir davon. Einmal küsste ich ein Mädchen so lange ich konnte, das heißt, sie küsste mich so lange sie wollte, weil die Zeit, von der ich erzähle, eine Zeit gewesen war, in der die Mädchen sich die Jungen zum Küssen holten, weil die Jungen noch mit Eisenbahnen oder anderen Jungen spielten. Während sie ihren sehr kühlen Mund auf meinen sehr kleinen Mund presste, sah sie auf die Uhr und manchmal lachten wir, ohne die Lippen voneinander zu lösen, weil die Winde aus unseren Nasen sich über unseren Wangen kreuzten. Bald sagte sie, eine Minute, und dann sagte sie, zwei Minuten, und so eilten wir von Rekord zu Rekord, zitternde Wesen ohne Zungen. Schon damals trug ich eine innere Uhr mit mir herum. Ich hatte eine genaue Vorstellung, wo diese Uhr zu finden sein musste. Nicht im Kopf, nicht in der Nähe meiner Ohren, dort wäre ihr Zählwerk zu hören gewesen. Und ich wusste, dass man sich auf innere Uhren, auf Körperuhren, nicht verlassen konnte, nicht wenn man gerade noch von einem Mund geküsst worden war.
eisenbahn
nordpol : 15.02 — Als ich gestern Nachmittag mit einer Suchmaschine in Sammelordnern des Jahres 2003 nach Notiztexten forschte, die ich in den Tagen des Irakkrieges notiert haben könnte, entdeckte ich eine Passage, die von einem Loch in meinem Perserteppich erzählt. Ich konnte das Loch damals von meiner Position aus als Beobachter auf dem Sofa vor dem Fernsehbildschirm gut erkennen. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, dieses Loch nun plötzlich zu betrachten, obwohl ich viele Jahre die Verletzung des Teppichs, eine Scharte von der Breite einer Hand, nicht wahrgenommen hatte. Ich glaube, ich hatte die Geschichte, die davon erzählt, wie das Loch in den Teppich gekommen war, ganz einfach vergessen. Aber dann war sie plötzlich gegenwärtig, weil ein amerikanischer Panzer während einer Liveaufnahme in Bagdad ein Hotel beschossen hatte, in dem sich Journalisten befanden. Die Granate des Panzers traf einen Balkon und auf diesem Balkon einen Kameramann, dessen Körper, der noch heftig blutete, mit dem Aufzug ins Foyer gefahren wurde. Eine Stimme auf dem Bildschirm kommentierte das Geschehen mit dem Satz, der Journalist habe sich im falschen Moment am falschen Ort befunden. Und da war nun jene Geschichte von einer Sekunde zur anderen Sekunde wieder in mein Bewusstsein zurückgekehrt, die Geschichte, die vom Loch in meinem Perserteppich erzählte. Ich saß auf dem Sofa und notierte, dass ich mich wundere, und ich betrachtete den Teppich und das Loch, das von dem Splitter einer britischen Granate im Jahr 1942 in das Gewebe gerissen worden war, und für einen Augenblick sah ich meinen Vater, ein Kind, wie er auf diesem Teppich, der sein Teppich gewesen war, spielte, vielleicht mit einer Eisenbahn aus Buntmetall, die er gerade noch rechtzeitig aufgehoben haben könnte und mitgenommen in den Luftschutzkeller. — stop
flaubert
~ : louis
to : Mr. gustave flaubert
subject : MEMPHIS
Verehrter Mr. Flaubert, gestern, am späten Nachmittag, knisterte ein feiner Regen ans Dachfenster meines Zimmers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyptisches Reisetagebuch geöffnet, eine sehr feine Arbeit, detailliert, das Abschiednehmen, ihre voraus reisenden Koffer. Während Sie gerade an Bord der Canja Memphis passierten, bin ich eingeschlafen, vielleicht weil ich müde war von einer viel zu kurzen Nacht. Als ich wieder wach wurde, knisterte der Regen noch immer gegen das Fenster, und ich erinnerte mich, ihnen erzählen zu wollen, dass ich seit vorgestern, 15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, Augenpaare sammle, die meine elektrische Seite besuchen. Vermutlich werden Sie mich für einen seltsamen Vogel halten, weil ich Augen paarweise zähle, ihre Existenz und woher sie kommen und welche Brillen sie tragen und die Zeit messe, die sie mit meinen Wörtern verbrachten. Gestern Abend um 22 Uhr 17 Minuten und 11 Sekunden hatte ich Besuch aus Shanghai. In großer Entfernung lurten also ein paar Augen, verweilten, kaum zu glauben, sechs Sekunden auf meinen Zeilen, dann waren sie wieder weg. Ich habe mir gedacht, dass diese hastigen Augen vielleicht meine Schriftzeichen nicht entziffern konnten, dass sie deshalb nur zwei oder drei Atemzüge lang bei mir verweilten. Ja, lieber Flaubert, das könnte sein, nein, ich hoffe, dass es so gewesen ist. Später Abend schon wieder. Werde jetzt weiter lesen in Ihrer ägyptischen Reise, während die Augenzählmaschine arbeitet, ohne dass ich mich auch nur einmal für sie bewegen müsste. Ihr Louis, mit allerbesten Grüßen.