tango : 5.16 — Die Handtasche, der ich mich in der vergangenen Nacht eingehend widmete, ist rot und weiß und von feinstem Leder. Zwei Fächer sind in ihrem schmalen Bauch zu finden, die man mit Druckknöpfen verschließen kann. In diesem Moment steht die Tasche auf vier metallenen Füßchen vor mir auf dem Schreibtisch, Schulterriemen, Tragehenkel, Außenfächer, ein wirklich ansehnliches Exemplar, das glänzt und leicht ist. Die Tasche wiegt in nicht befülltem Zustand gerade einmal 400 Gramm, so leicht ist diese Tasche, ganz erstaunlich. Nun habe ich Folgendes unternommen, ich habe zunächst in sorgfältigster Weise einen prächtigen Hautballon gefaltet und in das linke Seitenfach der Leichthandtasche abgelegt. Es handelt sich um ein filigranes, flugfähiges Naturprodukt, welches aus der Schwimmblase eines Mondfisches gefertigt wurde. Ein feiner Schlauch, nicht sichtbar auf den ersten Blick, führt vom Hals des Ballons wiederum zu einem Siphon, in dem sich Helium befindet. Ich habe ihn, nach längerer Überlegung, auf der gegenüberliegenden Seite, im zweiten Außenfach der Tasche untergebracht. Er verfügt über ein Ventil, welches unkontrolliertes Ausströmen des Gases verhindert, über einen Verschluss also, der mit einer sanften Fingerbewegung jederzeit geöffnet werden könnte, sodass das Gas im Bruchteil einer Sekunde in den Ballon schießen, das Futteral des Ballons öffnen und die Handtasche mit Auftrieb ergreifen würde. Sollte ich zu diesem Zeitpunkt das Ventil der Tasche öffnen, endete ihr Flug an der Decke meines Zimmers. — Kurz vor fünf Uhr am Morgen. Schon zu spät, um inmitten der Stadt heimlich einen Freiluftversuch unternehmen zu können. Noch etwas schlafen darum, dann eine Spindel mit äußerst feinem, aber zugfestem Faden in der Länge von 100 Metern an der Tasche befestigen, dann wieder Nacht. — stop
Aus der Wörtersammlung: mond
regen
ulysses : 6.06 — Gestern Abend telefonierte ich mit einer Freundin. Sie hatte kurz zuvor geschrieben, Hochwasser habe den Keller ihres Hauses erreicht. Sie erzählte, das Wasser komme nun durch zwei kleine Löcher in Boden und Wand herein, 5 Liter in einer halben Stunde. Ich hörte ihre Stimme, erschöpft, müde, sie wolle sich einen Wecker stellen und jede halbe Stunde Wasser schöpfen. Eine harte Sache, die noch einen Tag und eine ganze Nacht so weitergehen könne. Während wir sprachen, war das Geräusch tropfenden Wassers im Hintergrund zu vernehmen, als würde meine Gesprächspartnerin in einer Höhle sitzen, in einer entfernten Zeit, auf dem Mond oder auf dem Mars. Als ich klein und sehr unerfahren gewesen war, hatte ich die Vorstellung, nach starkem Regen könnte das Wasser in Telefonleitungen dringen. Ich wunderte mich deshalb, dass das Telefonieren nach Gewitterregen noch funktionierte. Wenn ich dann etwas später durch den Garten spazierte, meinte ich zu beobachten, wie unsere Telefonleitungen aus dem Boden flüchteten. Sie hatten sich zu Teilen aufgelöst und schlängelten, hellrote, glänzende Würmer, durch das feuchte Gras. Ich konnte sie berühren, und wenn ich sie ihn meine Hände nahm, kitzelte es sehr angenehm auf den Handflächen. Einmal setzte ich eine flüchtende Telefonleitung in ein Marmeladenglas. Es waren ein gutes Dutzend Würmer gewesen, die sich um Ausgang bemühten. Ich beäugte sie lange Zeit, die Wände des Glases beschlugen rasch, sodass ich das Glas immer wieder öffnen musste. Wenn ich mein Ohr an den Behälter drückte, konnte ich sie hören, einen eigentümlichen Laut der Not, für dessen Beschreibung ich bisher kein Wort entdeckte. Damals nahm ich das Glas mit in mein Zimmer. Ich stellte es unter mein Bett. Am nächsten Morgen hatte ich seine Existenz vergessen. — stop
schneeechsen
ulysses : 6.55 — Im Traum spaziere ich die winterliche Küste der Staten Island Insel entlang. Sandiger Boden, Strand, der unter meinen Füßen knistert. Es ist sehr kalt, der Schnee in der Nähe des Wassers geschmolzen, landeinwärts aber türmt er sich, Wehen, die Kieferbäume, die ganze Häuser verschlucken. An meiner Seite wandert eine alte, hochgewachsene Frau. Sie erzählt in rasender Geschwindigkeit eine Geschichte, die ich nicht wirklich wahrnehmen kann, weil ich ihre Sprache nicht verstehe. Aber das scheint die alte Frau nicht weiter zu kümmern, vielleicht erzählt sie nur deshalb unentwegt vor sich her, damit ich ihre Stimme hören kann und sie in der Dunkelheit nicht verliere. Tatsächlich ist fast lichtlose Nacht, nur ein halber Mond und ein paar größere Schiffe weit draußen, die in Richtung des offenen Atlantiks fahren. Ich erinnere mich, dass die alte Frau eine Pelzmütze und einen Pelzmantel trägt, sommerliche Schuhe, Sportschuhe und keinerlei Strümpfe. Um sie herum flitzen Eidechsen, sie scheinen ihr zu folgen, weiß sind sie wie der Schnee, aus dem sie gekommen sind. Wenn ich mich bücke, kommen sie neugierig näher, ich kann sie aufheben, ich kann sie zerbrechen, sie tragen schneeweiße Zungen in ihren kleinen Mündern und sie fauchen und tauen, sobald ich sie in meine Hosentasche stecke. In diesem Moment meine ich, die alte Frau mit einem Namen angesprochen zu haben, an den ich mich nicht erinnern kann. Einmal bleibt sie stehen, kauert sich auf den Boden, singt leise eine Melodie vor sich hin, der Faden ihrer Stimme wird sichtbar in der frostigen Luft. Jetzt hebt sie Steine aus dem Sand, schichtet sie übereinander, sodass sie Türme bilden, die sich in der Dunkelheit wie Wächterwesen, wie Mahnende benehmen. Ein hell beleuchtetes Fährschiff fährt dicht am Ufer entlang. Ich sehe Menschen, die tanzen. Das Schiff wird von weiteren Menschen gezogen, die im eiskalten Wasser schwimmen. — stop
mondstimme
charlie : 20.32 — Eine bewegende Geschichte erzählte Alexander Gerst, Astronaut der ESA, er wird im Jahr 2014 auf der Internationalen Raumstation ISS forschen und arbeiten. Sein Großvater sei ein begeisterter Funker gewesen. Er habe in einem Kellerraum, der brummte und summte, eine Funkstation betrieben, Knöpfe, Schalter, Antennen, ein faszinierender Ort. Einmal habe sein Großvater eine seiner Antennen zum Mond hin ausgerichtet und der kleine Junge habe kurz darauf in das Mikrofon gesprochen. Zweieinhalb Sekunden später seien Fragmente seiner Nachricht, reflektiert von der Mondoberfläche, zurückgekehrt. Der Astronaut erinnert sich seiner Begeisterung, als er begriff, dass Teile seiner Person gerade eben in Berührung mit dem Mond gewesen waren. — stop
rom : am tiber
nordpol : 10.32 — Gestern, am späten Abend, von einer Brücke über den Tiber aus einen Mann beobachtet, der am Ufer des Flusses vor einer Inselausbuchtung kauerte. Der Mann fütterte größere und kleinere Tiere mit seiner linken Hand, in der rechten Hand hielt er eine Angel fest. Das war nicht sofort zu erkennen gewesen, weil sich im Fluss und auch in der Luft über dem Fluss nichts bewegte, nicht einmal das Wasser zeigte Strömung. Die Flussoberfläche schimmerte im Mondlicht wie ein See, und das Schilf des Ufers schien von Winden, nicht von wildem Wasser gebeugt. Da waren Schatten im Gras der kleinen Insel, hunderte vorwärts oder rückwärts springende Schemen. Noch nie zuvor habe ich so viele Ratten auf einen Blick gesehen. Wie Eisenspäne einer physikalischen Anordnung zur Untersuchung magnetischer Felder waren sie zu dem Mann hin ausgerichtet, wirbelten durcheinander, sobald der Mann Futterware unter die Tiere schleuderte. Dann wieder stilles Warten. Eine Bisamratte, scheuer Herrscher, enterte das Land. — Am folgenden Tag kehre ich morgens zur Nachtbrücke zurück. Der Mann kauert noch immer vor der kleinen Insel und angelt im Fluss. Möwen haben sich genähert. Ratten sind nur wenige zu sehen, aber Tauben. Wenn der Mann einen Fisch erbeutet, wirft er ihn seinen Freunden vor die Füße. An den steilen Wänden der künstlichen Tiberfassung da und dort blühende Büsche. Eidechsen züngeln gegen die Sonne. — stop
ein zimmer
alpha : 6.28 — Halbdunkel. Vor einem Fenster steht ein Bett. Das Fenster ist leicht geöffnet, Jalousien rippen das Licht, das spärlich hereinkommt. Es könnte Vormittag sein oder Nachmittag. Zufällig habe ich den Film in genau dem Moment angehalten, als eine Fliege den aufgenommenen Flugraum durchkreuzt. Die Gestalt des Tieres ist nicht ganz scharf zu sehen, Beine, die fest an den Körper gepresst sind. Es ist die erste Fliege, die ich in dieser Haltung wahrnehme, ein kleiner Vogel, denke ich im ersten Moment, und dass diese Fliege eigentlich dort, wo sie sich befindet, nichts zu suchen hat. Es handelt sich bei dem abgedunkelten Raum um ein Hospitalzimmer. Neben dem Bett steht ein Tisch, dicht an einer Wand, deren Farbe blättert. Auf diesem Tisch kauert ein Gerät, das Kurven zeigt, Pulse, weiterhin Zahlen, Blutdruckwerte vielleicht. Eine Karaffe mit Flüssigkeit ist zu sehen und ein Schulheft, geöffnet, Schriftzeichen. Ich bin der arabischen Sprache nicht mächtig, und doch vermag ich zu erkennen, dass diese Schriftzeichen arabische Schriftzeichen sind, auch weil ich weiß, dass der Film, den ich angehalten habe, in der Stadt Tripolis aufgenommen sein könnte. Vermutlich wurden die Zeichen von einer jungen Frau geschrieben, die in jenem Bett liegt, auf welches das Zebrastreifenlicht fällt. Die Augen der jungen Frau sind geschlossen, ihre Haut ist weiß wie Schnee, ihr Kopf leicht nach links gerichtet oder gefallen. Ein sehr schöner Mund, das Haar von einem Kopftuch bedeckt. Die Ebenen unter ihren Augen erscheinen dunkel, Monde, Schattenmonde. Hände und Schultern liegen unter einer Decke verborgen, die hell ist, ein Laken. Kein Geräusch ist zu hören. Das Geräusch, das zu dem Film gehört, ist in dem Moment, da ich den Film angehalten habe, ausgefallen. Wenn man ein Geräusch anhält, hört man nichts. Das ist seltsam. Ich erinnere mich, dass da ein Geräusch gewesen war, kurz bevor ich den Lauf des Filmes stoppte, Stimmen auf einem Flur und ein Rauschen, ich nehme an, vom Fenster her. Die Augen der liegenden Frau waren geöffnet gewesen, dunkle Augen, und doch hell und weit. Sie erzählte, dass sie nicht wisse, wie sie hierhergekommen sei. Man habe ihr berichtet, dass man sie in einem Auto über die Grenze brachte, aber sie wisse das nicht mit Sicherheit, weil sie sich nicht erinnern könne. Ihre Beine seien fort. Und ihre beiden Kinder, Mädchen, seien tot. Und ihr Bruder. Und ihre Mutter. Aber auch das wisse sie nicht genau, man habe ihr das erzählt, aber sie könne sich nicht erinnern. Dann schloss sie die Augen. Und ich habe den Film angehalten. Ich habe den Film angehalten in genau dem Moment, da eine Fliege das Bild kreuzte. Kein Ton. — stop
perlboote
india : 0.02 — Auf der Suche nach Behälterkonstruktionen, in welchen Perlboote der Gattung Nautilus durch eine große Stadt transportiert werden könnten, ohne dass die Meerestiere Schaden nehmen würden, auf eine Website gestoßen, die unter dem Namen Louis Benett folgende Zeichenfolge vermerkt: member since monday, 30 january 2012 20.00 / last online > never logged in / profile views : 158 – stop. Seltsame Geschichte. Die Spur eines überaus vorsichtigen Verhaltens vielleicht, ein Zögern. – Mitternacht. stop. — Benny Goodman. — stop
apollo
ulysses : 0.05 — Im Alter von drei Jahren liege ich auf warmem Land, das atmet. Bald fliege ich durch die Luft, schwebe über dem Bauch meines Vaters und lache, weil ich gekitzelt werde. Meine Stimme, meine kindliche Stimme. Und da sind eine hölzerne Eisenbahn, das Licht der Dioden, dampfendes Zinn, Lochkarten einer Computermaschine und die Geheimnisse der Algebrabücher, die der Junge von sechs Jahren noch nicht entziffern kann. Aber Forscher, wie der Vater, will er schon werden, weshalb er die Schneespuren der Amseln, der Finken, der Drosseln in ein Schulheft notiert. Zu jener Zeit drifteten Menschen bereits in Geminikapseln durch den Weltraum, um das Sternreisen zu üben. Nur einen Augenblick später waren sie schon auf dem Mond gelandet, in einer Nacht, einer besonderen Nacht, in der ersten Nacht, da der Junge von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarz-weißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch der Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er soeben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht, in genau derselben besonderen Nacht, saß zur gleichen Minutenstunde irgendwo im Süden der Dichter Giuseppe Ungaretti vor einem Fernsehgerät in einem Sessel und deutete in Richtung des Geschehens fern auf dem Trabanten auf der Bildschirmscheibe, auf einen Astronauten, wie er gerade aus der Landefähre klettert, oder habe ich da etwas in meinem Kopf verschoben? Sicher ist, auf jenem Fernsehgerät, vor dem Ungaretti Platz genommen hatte, waren drei weitere, kleinere Apparate abgestellt. Alle zeigten sie dieselbe Szene. Echtzeit. Giuseppe Ungaretti war begeistert, wie wir begeistert waren. Ja, so ist das gewesen, wie heute, viele Jahre später. – stop
mikado zu weilburg
MELDUNG. Offensichtlich bei Mondschein von leichtem Geistesschwindel befallen, rückte Charles M., 88, in der Orangerie zu Weilburg mittelamerikanischen Kakteen mittels Mikadostäbchen zu Leibe. Man arbeite, so der alte Herr kurz nach seiner Festnahme während erster Befragung, an einer Symphonie für Stachelhorn. Es ist jetzt kurz nach 5. — Game over.
chelsea : ein stunde
echo : 0.28 — In der 22. Straße West existiert ein kleiner Laden für Lampions und andere papierene Lichtbehälter. Wenn man den Laden betritt, meint man sofort, sich selbst in einem Lampion zu befinden, weil Wände, wie sie in Häusern üblich sind, dort nicht zu existieren scheinen, nur Licht und eben Papiere in allen erdenklichen Formen. Ein Ort von Stille, die Luft duftet feinst nach der Wärme tausender Lampen, die im Inneren der Lampions stationieren. Menschen sind zunächst nicht zu sehen, weil sich jene Menschen, die zum Laden gehören, weder bewegen noch sich über Sprache äußern, vielleicht deshalb, weil sie in den Laden eintretende Menschen nicht stören wollen im Bestaunen leuchtender Krokodile, Schwertfische, Zeppeline. Es ist nun tatsächlich möglich, diese verborgenen Personen in Bewegung zu versetzen, in dem man sie bemerkt, sagen wir, mit einem Blick berührt. Genau in diesem Moment einer Berührung treten sie aus dem Licht heraus in den Raum, eine zierliche Frau und ein zierlicher Mann, sie werden vermutlich schon sehr lange Zeit verheiratet sein, so wie sie sich benehmen, glückliche, freundliche Menschen. Alle ihre Waren im Übrigen beschriften sie noch von Hand, zwei Monde von blauer Farbe zu je 1 Dollar 48 Cent. Im Schaufenster findet sich folgendes Schild: Täglich von Montag bis Sonntag 25 Stunden geöffnet. — stop