marimba : 3.10 — Es ist richtig, ich bin begeistert. Seit zwei Tagen schwebt eine merkwürdige Gestalt durch meine Wohnung. Es handelt sich um ein Lungenballontier, nichts weiter, um eine Kreatur von kühler, sandfarbener Haut in der Größe einer Honigmelone. Wenn ich sage, dass es sich bei diesem Wesen um ein Lungenballontier handelt, dann deshalb, weil das Tier in seiner derzeitigen Erscheinung vorwiegend aus Luft zu bestehen scheint. Es war nämlich nicht sehr groß gewesen, als es mir am Samstag von einem Briefboten in einer flachen Schachtel übergeben worden war. Wie es dort lag, sah es zunächst noch aus wie ein Taschentuch, sorgfältig gebügelt und gefaltet. Genau in seiner Mitte war ein winziger Kopf zu erkennen, ein Mund und eine Nase und Augen, die geschlossen waren, als würde das Tier schlafen. Kaum aber aus seinem Reisebehälter gehoben, holte das kleine, gefaltete Tier Luft und begann langsam zu wachsen. Es war in diesem Vorgang des Wachsens nichts zu hören, als ein äußerst leises Pfeifen, dessen Ursprung ich nicht erkennen konnte. Eine Stunde verging und eine weitere Stunde, bis das Tier sich vollständig entfaltet hatte. Es war rund geworden, nach wie vor aber noch faltig, und es wuchs weiter, und es begann sich von dem Tisch zu lösen, auf dem es die ersten Stunden in Freiheit verbracht hatte. Seither bewegt es sich langsam wie ein Zeppelin durch meine Zimmer. Zunächst war es ins Bad geflogen, dann in die Küche, durch den Flur zurück ins Wohnzimmer, und von dort ins Arbeitszimmer, wo es vor dem Fenster eine Weile verharrte, obwohl draußen tiefe Nacht herrschte. Das Tier hatte inzwischen seine Augen geöffnet, kein Wunder, es schien auch an mir selbst zunehmend interessiert zu sein, wie genau in diesem Moment, da ich notiere. Gerade kommt es wieder zurück aus der Küche, es nähert sich, es ist nun ohne Falten und es schimmert, und noch immer pfeift es leise vor sich hin. — stop
Aus der Wörtersammlung: mund
PRÄPARIERSAAL : nachthörnchen
nordpol : 5.15 — Seit zwei Stunden sitzt ein Eichhörnchen auf meinem Fensterbrett. Es ist mitten in der Nacht und so kalt, dass ich den Atem des kleinen Tieres, das um diese Uhrzeit eigentlich tief schlafen sollte, in der Dunkelheit zu erkennen vermag. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht täusche. Es ist denkbar, dass ich mir das Eichhörnchen nur vorstelle. Und wie ich über die Möglichkeit der Täuschung nachdenke, bemerke ich, dass die Vorstellung eines Eichhörnchens mittels weit geöffneter Augen tatsächlich gelingen kann, und zwar je für ein oder zwei Sekunden in einem Bild, das pulsiert, das in der dritten Sekunde schon wieder verloren ist und zunächst dann wieder erscheint, wenn ich das Wort Eichhörnchen denke oder Eichhörnchenschweif. Ich muss das weiter beobachten. Wenn ich nun die Notizen Michaels aus dem Präpariersaal, die vor mir auf dem Tisch liegen, betrachte, weiß ich, dass sie keine Täuschung sind, weil ich das Papier, auf dem sie sich befinden, berühren, vom Tisch heben, falten und wieder entfalten kann, und damit gleichwohl Michaels Zeichen, die keinerlei pulsierender Bewegung unterworfen sind. Er schreibt: Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege, wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war, im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefäße betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Gegenwärtig will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jeder Zeit rechnen. — stop
matrjoschka
romeo : 6.28 — Seit meiner Kindheit besitze ich eine Puppe von Holz. Ich habe sie unter dem Namen Babuschka kennengelernt. Dieser Name war so lange gültig gewesen, bis mir eine russische Bekannte erzählte, dass es sich eigentlich um eine Matrjoschkapuppe handeln würde. Man kann diese Puppe öffnen, indem man an ihr dreht, bis sie sich an ihrem Bauch derart entzweit, dass sie tatsächlich aus zwei Teilen mit exakt geschnittenen Rändern besteht, einem unteren Teil mit Füssen, die in Farbe auf das helle Holz aufgetragen sind, und einem oberen Teil mit einem gezeichneten Kopf. Mit dieser Trennung geht die Gestalt der Puppe jedoch nicht wirklich verloren, weil sie in einer kleiner gewordenen Ausgabe, die sich in der größeren Puppenform versteckte, weiterhin vorliegt. Sie verfügt über das gleiche Gesicht, wie ihre Hülle, über einen etwas kleineren Mund, und gleichfalls gerötete Wangen und kleinere Augen, und sie drückt in dieser Erscheinung nichts anderes aus als: Ich bin nur eine Hülle, ich trage mein eigentliches Inneres in mir, mein Wesen, öffne mich! Und so weiter und so fort. Gestern nun habe ich einen Brief gelesen, in dem von der Gattung der Babuschkapuppen die Rede war. Ich hatte den Brief noch nicht zu Ende studiert, da stand ich auf und ging zum Regal, nahm meine Puppe seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder in die Hand und öffnete sie. Tatsächlich habe ich sofort ein intensives Gefühl wahrgenommen, eine Empfindung meiner Kindheit, zugleich in der Zeit weit entfernt und nah und vertraut. Hier der Brief, der mir meine Puppe von Holz in Erinnerung gerufen hatte. Miriam erzählt von Erfahrungen des Präpariersaales: Zuerst also haben wir die Haut entfernt und dann das Fett. Das war wie ein zweiter Mantel gewesen, und dann kamen die Muskeln dran, und plötzlich war der Bauch offen. Bis dahin habe ich immer an diese Babuschkapuppen gedacht. Die werden ja auch immer kleiner, wenn man eine geöffnet hat und danach die nächste. Aber dann waren auf dem Tisch plötzlich nur noch Arme und Beine und ein Kopf, der aus zwei Teilen bestand. Ich weiß noch, wie ich am Ende des Tages alles so hingelegt habe, als wäre der Rumpf noch da, solch eine Ordnung habe ich versucht. Das sah also aus wie ein Strichmännchen. Aber eben ohne Bauch. Ich erinnere mich in diesem Moment sehr gut an eine merkwürdige Geschichte aus der Anfangszeit des Kurses. Ich war schon sehr früh am Morgen im Präpariersaal des Institutes. Ich hatte schlecht geschlafen wegen einer leichten Grippe, und so war ich eine der ersten Studentinnen gewesen, die an diesem Tag die Arbeit an ihrem Leichnam aufgenommen haben. Ich präparierte an einem der Arme, eine recht komplizierte Angelegenheit war das gewesen, und ich dachte immer wieder, dass meine Hand nicht ruhig genug wäre, um eine so feine Aufgabe auszuführen. Ich fluchte also ein wenig vor mich hin und dann entschuldigte ich mich plötzlich. Ganz im Ernst. Ich entschuldigte mich bei dem Leichnam für meine unfreundlichen Worte. Ich höre das jetzt noch. Ich höre mich sagen: Sorry! Und ich sage Dir, ich habe mich gut gefühlt. Ich habe, nachdem mir bewusst geworden war, dass ich zur Leiche gesprochen hatte, noch ein wenig so weitergemacht. Eine Unterhaltung war das natürlich nicht. Ein Monolog. One way! Aber gut. — stop
eine sprechende maschine
remington : 6.52 — Vor wenigen Tagen hatte ich von der Entdeckung eines Museums der Nachthäuser erzählt, das sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist noch immer ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Heute liegt der Garten tief verschneit. Ich stehe unter einem der Apfelbäume, die ohne Blätter sind. Dieser Baum trägt seine Sommerfrüchte so, als ob er sie festhalten würde, sie sind etwas kleiner geworden, voller Falten, aber sie leuchten Rot und sie duften. Der junge Mann, der mich bereits einmal durch das Museum geführt hatte, kommt in diesem Moment auf mich zu. Er freut sich, dass ich wiedergekommen bin. Eine Weile stehen wir uns gegenüber, es ist zum Erbarmen kalt, wir treten von einem Bein aufs andere, während der junge Mann eine Zigarette raucht, dann ist es fast dunkel und wir treten wieder in das Museum ein. Er möchte mir eine kleine Maschine zeigen, die im ersten Stock seit vielen Jahren in einer weiteren Vitrine sitzt. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine ähnliche Apparatur zu handeln, wie jene von der ich berichtete. Ein Gecko von Metall, der in der Lage ist, sich zum Zwecke protestierender Kommunikation Wände hinauf an die Decke eines Zimmers zu begeben, um sich dort festzusaugen. Aber anstatt eines oder mehrerer Schlaginstrumente, mit welchen gegen die Decke getrommelt werden könnte, verfügt dieses kleine Wesen über einen Lautsprecher, der wie ein Mund gestaltet ist, und deshalb hervorragend geeignet zu sein scheint, heftige Geräusche des Sprechens zu erzeugen. Bei dieser Apparatur, sagt der junge Angestellte, handelt es sich um den ersten Deckensprecher der Geschichte, ein äußerst sinnvolles Gerät. Er fordert mich auf, näherzutreten. Sehen Sie genau hin, sehen Sie, er ist verbeult! Tatsächlich war der kleine eiserne Gecko von zahlreichen Schlägen so verletzt, dass er vielleicht kaum noch in der Lage gewesen war, seiner Aufgabe nachzukommen. Denkbar ist, dass er in einer Nacht der Tagmenschen derart wirkungsvoll gearbeitet haben könnte, dass man ihn fangen wollte, weshalb man in die Wohnung des Nachtmenschen eingebrochen war, um ihn zum Schweigen zu bringen. Als man das ramponierte Gerät viele Jahre später öffnete, entdeckte man eine Tonbandspule, auf welcher Literatur von Bedeutung festgehalten war. Ein Bruchstück der historischen Aufnahme war noch vorhanden gewesen, und jetzt, in dieser Nacht, spielt mir der junge Mann vor, was der Apparat gesprochen hatte. Eine äußerst laute, scheppernde Stimme ist zu vernehmen: Zuerst wollte er mit dem unteren Teil seines Körpers aus dem Bett hinauskommen, aber dieser untere Teil, den er übrigens noch nicht gesehen hatte und von dem er sich keine rechte Vorstellung machen konnte, erwies sich als zu schwer beweglich; es ging so langsam; und als er schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich vorwärts stieß, hatte er die Richtung falsch gewählt, schlug an dem unteren Bettpfosten heftig an, und der brennende Schmerz, den er empfand, belehrte ihn, dass gerade der untere Teil augenblicklich vielleicht der empfindlichste war. — Hier endet die Spule, ums sofort wieder von vorn zu beginnen. — stop
anton voyls fortgang
~ : oe som
to : louis
subject : ANTON VOYLS FORTGANG
date : nov 10 12 10.08 p.m.
Es ist gekommen, wie ich es erwartet habe. Noe schweigt. Wir haben ihm George Perecs Roman Anton Voyls Fortgang in die Tiefe geschickt. Es handelt sich in unserer Versuchsanordnung um das Unterwasserbuch No 282, ein Buch, in dem der Buchstabe E auf 320 Seiten nicht erscheinen wird. Kurz nachdem Noe seine Lektüre mit fester Stimme aufgenommen hatte, versuchten wir vorherzusehen, wie lange Zeit Noe lesen würde, ehe er das vollständige Fehlen eines bedeutenden Buchstabens im Text bemerkt haben würde. Er las etwa 10 Minuten, dann hörte er auf, seine Stimme wurde zunächst leiser, er dehnte die Worte, sagte, dass ihm etwas merkwürdig vorkommen würde, er könne bisher nicht sagen, was genau ihm merkwürdig erscheine, er müsse nachdenken. Wir sitzen jetzt alle vor den Lautsprechern und Bildschirmen und warten. Im Schein der Lampe, die Noe und das Buch, das er in seinen schweren Händen hält, beleuchtet, sehen wir, dass er sich langsam bewegt. Er scheint im Buch zu blättern. Er scheint überhaupt noch immer, nach 656 Tagen in einer Meerestiefe von 820 Fuß schwebend, ein guter Beobachter zu sein, obwohl es nichts zu sehen gibt als etwas Dämmerung, wenn Tag geworden ist, und ein paar Fische, die ihn von Zeit zu Zeit besuchen. Ich nehme an, Noe wird oft an uns denken. Er hört uns zu, hört, was wir sprechen, auch dann, wenn wir unter uns sind, wenn wir vergessen haben, das Mikrofon auszuschalten. An der Art und Weise wie wir atmen, vermag Noe zu unterscheiden, ob Lin, Eric, Martin, Tom, Lilly oder ich vor dem Mikrofon Platz genommen haben. Gerade eben beginnt er wieder zu lesen, er scheint an den Anfang des Buches zurückgekehrt zu sein: In Rocamadour gabs Mundraub sogar am Tag: man fand dort Thunfisch, Milch und Schokobonbons im Kilopack. Und wieder schweigt Noe. Es ist später Abend. Samstag. Ein Frachtschiff, hell beleuchtet, lungert am Horizont. Ahoi, lieber Louis. Dein OE SOM
gesendet am
10.11.2012
1856 zeichen
mr. blankfeins schweigen
bamako : 6.45 — In der 37. Minute einer Filmdokumentation, die von den Strukturen der Goldman Sachs Bank erzählt, ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges. Lloyd Blankfine, Vorstandsvorsitzender genau dieser Bank, wurde in einem Fernsehinterview befragt. Ein äußerst scharfzüngiger Redner von heller Stimme, erkundigte sich Mr. Blankfine zunächst bei dem Moderator der Sendung, wie oft er ihn, Blankfine, im Fernsehen gesehen habe? Nie! Wissen Sie was. Das war vermutlich ein Fehler. Wir müssen uns jetzt bemühen, den Leuten zu erklären, was wir tun. Sofort spitzte sich die Lage zu. Der Moderator der Sendung, der Mr. Blankfine unmittelbar gegenübersaß, parierte mittels einer weiteren Frage, die der Banker so nicht erwartet haben mag. Er formulierte präzise: Ist es vorgekommen, dass ihre Investment-Berater einem Kunden Anlagen verkauft haben, gegen die Goldman zur selben Zeit spekulierte? Nun geschah Folgendes: Mr. Blankfine’s Augen weiteten sich, er senkte seinen Blick, setzte zu einer Antwort an, ein Geräusch war zu hören, der Teil eines nicht erkennbaren Wortes, sein Mund stand leicht offen, er schwieg, er schwieg sehr gründlich, sieben Sekunden lang, für eine üblicherweise äußerst schnell sprechende und denkende Person, die sich unter öffentlicher Beobachtung weiß, ein bedeutender Zeitraum. Ich habe diese Sentenz des Gespräches mehrfach vor und zurückgespielt, da mir Lloyd Blankfine in jenem Moment eine außerordentlich authentische Persönlichkeit gewesen zu sein schien. Ein Mensch, der nach einzelnen Wörtern suchte, nach einem angemessenen Gedanken in seinem Kopf, weil sich bislang dort Sätze formulierten, die so aufrichtig waren, dass Mr. Blankfine sie nicht aussprechen durfte, um nicht für immer Schaden zu nehmen, er selbst nicht und seine Bank nicht. Ich beobachtete sein Gesicht. Dreifach war Lidschlag zu erkennen, seine Augäpfel erweckten den Eindruck, als würden sie wachsen unter dem Druck eines Blickes, der nicht entscheiden konnte, ob er sich nach innen oder nach außen richten sollte, während ungeheure, vorbewusste Rechenleistung entfesselt war, um vielleicht doch einen Ausweg zu finden. — stop
rom : im museum
delta : 10.01 — Durch Hallen, Zimmer, Flure, Säle der vatikanischen Museen bewegen sich Menschen mit Vorsatz. Eine Versammlung von Menschen in Gruppen, genauer, die sich zwischen einem Eingang und einem Ausgang in gemeinsamer Richtung entlang einer Linie bewegen, die sich schlängelt, die kurvt, die sich faltet. Köpfe, tausende Köpfe vor großartiger Malerei, Säle mit Tierskulpturen, Menschenskulpturen, Säulenskulpturen. Über der sich langsam bewegenden Menge zittern an Schirmen, Taktstöcken, Zeigern Wimpel aller Art, dort genau befinden sich männliche oder weibliche Führer, die sprechen, eine Art beruhigendes Sprechen, eine Bändigung der Besuchergruppen, die wie durchblutete Schiffe über einen Hafen zu lotsen sind. Man kann seltsame Dinge vernehmen, sobald man sich einer der Gruppen nähert und lauscht. Die Führer sprechen leise in ihre Mikrofone: Schauen Sie dorthin, sehen Sie sich das an, Augen, dreitausend Jahre alte Augen, sehr selten. Und jetzt gehen wir weiter! In der Sixtinischen Kapelle nur wenige Minuten später existieren männliche Personen, die für Geräuschlosigkeit unter den staunenden müden Menschen sorgen. Sie tragen kleine Mikrofone in der Nähe ihres Mundes, sie sagen Folgendes: Psssst! Oder sie sagen: Silence, please! — stop
contergan
lima : 10.27 — Die Arme meiner Cousine sind kurz, an ihren Händen fehlen die Daumen. Als ich noch ein Kind gewesen war, beobachtete ich gern ihre Füße, die sich bewegten, als wären sie nicht Füße, sondern Hände. Man kann mit den Füßen malen, das wusste ich schon immer, und man kann mit den Füßen in Büchern blättern und einen Löffel zum Munde führen, man kann auf Füßen gehen und man kann sich mit den Füßen die Haare kämmen. Je nachdem, von welchem Standpunkt aus man das betrachtet, ist das seltsam oder eben nicht. Meine Cousine machte die Erfahrung, dass man sie versteckte, wenn Besucher zu ihrer Familie nach Hause kamen. Ich selbst dagegen wurde gerufen, damit ich betrachtet werden konnte. Mein Gott, ist er doch wieder kräftig gewachsen, der kleine Kerl! Er heißt Andreas, nichts weiter. Meine Cousine heißt Lilli, und sie heißt noch das Wort Contergan dazu, weil das viele Menschen sofort denken, wenn sie die Malerin Lilli Eben sehen. Da kann man nichts machen. Wenn etwas anders ist an einem Menschen, wenn etwas zu viel ist oder fehlt, dann bekommt das Fehlende oder das Zusätzliche einen Namen, der ein Leben begleitet, wie das meiner Cousine, die eine starke Persönlichkeit geworden ist. Aber die Hände und der Rücken tun außerordentlich weh mit dem Alter, und auch die Zähne tun weh, weil sie so viel mit den Zähnen machen musste in ihrem Leben. Eine einzige kleine Tablette, nicht wahr, die ihre Mutter, meine Tante, zu sich genommen hatte zu einer Zeit, da sie noch nicht wusste, dass sie schwanger gewesen war. Tausende Tote. Zehntausende Menschen mit einem oder mehreren Handicaps. Am vergangenen Freitag wurde von dem Geschäftsführer der Firma Grünenthal der Versuch einer Entschuldigung unternommen, ohne weiterführende Verantwortung übernehmen zu wollen. Er sagte: Wir bitten um Entschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht den Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben. Wir bitten Sie, unsere lange Sprachlosigkeit als Zeichen der stummen Erschütterung zu sehen, die Ihr Schicksal bei uns bewirkt hat. — stop
stimmen zu st. georg
echo : 0.28 — Ein Spaziergang über den alten Münchner Friedhof St. Georg. Ich stand vor Liesl Karlstadts Grab, plötzlich hörte ich ihre Stimme, die von irgendwo her aus den Kastanienbäumen in nächster Nähe zu kommen schien. Orangefarbene Blüten, Fuchsköpfen ähnlich, lungerten auf dem kleinen Karlstadthügel. Blaue Fühlerkäfer hetzten über sandigen Boden. Waldbienen, Mooshummeln, Raupenfliegen, es sirrte und brummte in allen möglichen Tönen. Auf dem Gedenkstein für Rainer Werner Fassbinder hockte ein Marienkäfer von Holz, der Schirm eines Fächerahorns spendete Schatten. Auch an Fassbinders Stimme konnte ich mich sofort erinnern, ohne einen konkreten Satz aus seinem Munde zu vernehmen. Es war ganz so, als würden die Stimme in meinem Kopf eine Stimme simulieren. Erich Kästner allerdings war mir entweder abhandengekommen oder ich habe seine Stimme tatsächlich noch nie in meinem Leben gehört. Aber den Sedlmayr, Walter, erinnerte ich unverzüglich und auch die angenehm warme Stimme Bernd Eichingers, der so plötzlich gestorben war. Sommerfäden schwebten durch die Luft. Das Rascheln der Eichhörnchen unter dem Efeu. Über mir ein blaugrauer, blitzender Himmel. Es duftete nach Zimt, warum? Irgendwo in meinem Kopf, ich spürte das genau, muss eine Erinnerung an die Stimme Oskar Maria Grafs zu finden sein. Und wenn ich nun noch zwei oder drei Stunden auf meinem Sofa sitze und lausche in dieser stillen Nacht, wird sie vielleicht hörbar werden. — stop
kühle augen
nordpol : 6.32 — Gestern am späten Abend wohnte ich via Internet einer Hinrichtung bei. Fünf Männer wurden erschossen, und zwar in Aleppo auf offener Straße. Es waren Rebellen, die das Feuer auf Gefangene eröffneten. Sie riefen: Gott ist groß! Gott ist groß! Als die Personen, es sollen Angehörige einer berüchtigten, mordenden und folternden, regierungstreuen Miliz gewesen sein, längst tot gewesen waren, wurde noch immer auf sie geschossen, als wollte man die Körper vor der Hauswand zu Staub zerlegen, den der Wind mit sich forttragen könnte. Rechts neben dem gerade erwähnten Filmdokument von zwei Minuten Länge, war die Existenz weiterer Filme in Vorschau zu sehen, darunter der Bericht eines nordamerikanischen Fernsehsenders über die chirurgische Rekonstruktion eines schwer verletzten Gesichtes. Ein Kannibale hatte im Staate Louisiana Nase, Mund und Augen eines Mannes verspeist. Der arme Mann war kurz darauf noch am Leben gewesen und wurde nun von zwei Schwestern behutsam über den Flur eines Krankenhauses geführt. Auch diesen Film habe ich mit kühlen Augen betrachtet. Dann war Mitternacht vorüber und ich spazierte ein wenig durchs Viertel. Katzen waren unterwegs, die mit ihren Scheinwerfern nach mir leuchteten. Im Park um die Ecke wurden Feigen und Datteln gebraten. Ein süßer, milder Nebelduft hing in der Luft. Ich saß eine halbe Stunde auf einer Bank und beobachtete Bäume, ob sie vielleicht nachtwärts arbeiten, der ein oder andere. – stop