delta : 2.55 – In der vergangenen Nacht habe ich meiner persönlichen Servermaschine, — sie befindet sich in etwa fünfhundert Kilometer Entfernung an einem nicht bekannten Ort -, einen Namen gegeben: Charlie, Rootserver Charlie. Das ist so gekommen, weil ich nämlich um Mitternacht an meinem Schreibtisch saß, als mein E‑Mailprogramm meldete, eine Nachricht sei für mich eingetroffen. Ich wusste sofort, woher diese nächtliche Mail allein gekommen sein konnte. Und ich dachte in zärtlicher Weise, als ob ich insgeheim diesen Namen schon längere Zeit vergeben haben würde: Charlie, hi Charlie! Nacht für Nacht, 0.01.12 MEZ, eine Sekundenuhr, dieselbe Botschaft: /etc/psa/plesk-cron/daily/completed : beruhigend in seiner lakonischen Art, mein lieber Louis, ich bin wach wie du, alle Systeme in Ordnung, Tag abgeschlossen, neuer Tag beginnt. stop. 12 ° Celsius. stop. Wolkenloser Himmel. stop. Ich verfüge zu diesem Zeitpunkt über 1.5 Kilogramm Mehl, 800 Gramm Reis, 2 Paprikaschoten in gelber Farbe, 1 Paprikaschote in roter Farbe, 1 halben Entenvogel, 3 Liter Wasser in Flaschen, Salz, Zimt und Pfeffer, 16 Scheiben finnischen Brotes, 1 Glas Aprikosenkonfitüre, 1 Glas Honig, 5 Kerzen. – stop
Aus der Wörtersammlung: dach
swing
echo : 0.18 — Gerade eben, es ist bereits kurz nach Mitternacht, wurde in meiner nächsten Nähe eine Apfelsine geschält. Während ich meinen Händen zusah, wie sie geschickt Kernstücke der Frucht voneinander trennten, ohne dass ich ihnen genauere Anweisungen geben musste, dachte ich darüber nach, wie viele Apfelsinen diese Hände in ihrem Leben bereits geschält haben könnten. Natürlich habe ich sofort gefragt, wie viele Tage meine Hände mir schon zu Diensten sind. Ich überlegte also, wie viele Tage ich bereits unter den Lebenden verweile. Seltsamerweise muss ich jetzt einen Bleistift und ein Blatt Papier zur Hilfe nehmen, um meine Berechnungen ausführen zu können, obwohl doch so vieles wie von selbst zu gehen scheint, dass ich zum Beispiel Benny Goodman hören kann, während ich die Zahl 365 mit einer weiteren Zahl multipliziere, und dass meine Füße unter dem Tisch einem swingenden Rhythmus folgen, als hätten sie nichts mit mir zu tun, sondern verfügten über ganz eigene Ohren. Eine Fliege schaut mir zu. Ob sie vielleicht doch schon schläft? — stop
malta : fernaugen
sierra : 15.02 – Rollläden von rostigem Metall. Zerbrochene Leuchtschriftzeichen. Der Fußboden vor dem Laden mit schwarzer Farbe beschmiert. Das Büro der Libyen Air, trostlose Aussicht, als hätte ein ganzes Land seine Fernaugen für immer geschlossen. Gleich links und rechts des eisernen Lids sitzen junge Menschen in Cafés. Dienstag, früher Vormittag, Taxifahrer lungern in der St Pius Street. Ich folge einer Katze, die ihrerseits Gerüchen, Geräuschen, Bewegungen und weiteren unsichtbaren Spuren und Wünschen folgt. Prächtiges Tier, schwarzes, zerzaustes Fell, breiter Kopf, gelbe Augen. Sie scheint ihren Beobachter angenommen zu haben, dreht sich immer wieder einmal nach mir um, als würde sie mich in der Verfolgung ermuntern. Von der Republik Street in die Windmill Street, dann nordwärts die Merchant Street entlang. Schulkinder in Uniformen, ein paar ältere Menschen, Frauen, Männer, in dunkler, feiner Kleidung, kleinere Läden, Süßstoffe im Halbdunkel. Mein Blick einmal zur Katze hin, dann wieder hinauf zu den hängenden Wintergärten an den Fassaden der alten Häuser, die schmal sind, ohne Zwischenräume. In der Old Hospital Street eine verwitterte Tür, die sich im Wind leicht bewegt. Dort verschwindet die Katze. Wildnis ohne Dach. Zitronenbäume entkommen dem Boden. An einer Wand, von Flechten besetzt, ein Ofen. Im Regal gleich darüber, eine Tasse von Porzellan. — stop
malta : fallschirmregen
nordpol : 16.22 – Aus heiterem Himmel setzt sich vor der Nationalbibliothek eine uralte britische Lady zu mir in den Schatten. Helle, faltige Haut, die sich mit dem Seewind über ihren dürren Körper hinzubewegen scheint. Sie trägt einen grünen Sonnenhut, gelbe Ledersandalen und einen langen beigefarbenen Rock; hellblaue Augen, Stecknadelpupillen, die mich fixieren, kein Lidschlag. Wo ich herkomme, will sie wissen, was ich da notiere, ob ich mit dem Internet verbunden sei. Indem sie mir zuhört, lehnt sie sich in ihren Stuhl zurück, um sich sofort wieder zu nähern, wenn sie selbst zu sprechen beginnt. Dass es ein Wunder sei, wie schnell die Deutschen nach dem Krieg wieder wohlhabend geworden sind. Ja, die Deutschen, sagt sie mit ihrer hellen Stimme, alles, was die Deutschen tun, machen sie gründlich. Einmal, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, regneten eines frühen Morgens Fallschirme auf die Ebenen Maltas herab. Sie hatten es nicht leicht mit der Landung, da waren überall steinerne Wälle zum Schutz vor dem Wind. Kurz darauf fielen Bomben auf den kleinen Ort Mosta. Wenn Sie Zeit haben, besuchen Sie Mosta, das müssen Sie unbedingt tun! Eine Bombe traf die Kirche, dorthin hatten sich hunderte Menschen geflüchtet, aber die Wände, das Gewölbe waren unbesiegbar gewesen. Eine weitere Bombe traf den Marktplatz und tötete ein Dutzend Hühner. Die alte Frau spricht jetzt langsam und präzise, als erwartete sie, dass ich ihre Erzählung Wort für Wort im Kopf mitschreiben würde. Eine ihrer Schwestern sei verwundet worden, ein Splitter habe den Onkel, der sich auf sie geworfen habe, glatt durchschlagen. Ihr Vater habe dann ein Zelt im Haus für die Familie errichtet, weil das Haus sein Dach verloren hatte durch den Luftdruck, als ein benachbartes Grundstück einen Volltreffer erhielt. Es ist schon ein Wunder, sagt sie und lächelt, es ist schon ein Wunder. - stop
malta : lower barracca gardens
india : 23.37 – Samstag. stop. Seit bald zwei Tagen keine Zeitung gelesen. Über den wolkenlosen maltesischen Himmel streunen Wasserflugzeuge. Es ist heiß in der Sonne, aber es weht ein angenehm kühler Wind durch die Gassen der alten Stadt. Habe in den Lower Barracca Gardens Stunden versucht, seltsam luftige Wesen zu fotografieren, sie sind ohne Ausnahme, sobald ich auf den Auslöser drücke, Flüchtende, das heißt, Abwesende, als ob sie meine planenden Gedanken lesen könnten, segeln mit einem sirrenden Geräusch unter verwitterten Bäumen davon, Grillen vielleicht, Grillenvögel, weil sie nicht springen, sondern fliegen, aber nicht von der Gestalt der Vögel, sondern von der Gestalt der Insekten sind. Goldgelb die Farbe ihres Körpers, wie die Steine der Stadt so goldgelb, für einen Moment dachte ich, dass sie selbst steinerne Wesen sein könnten, dass sie den Wänden der Häuser entkommen, dass die Stadt in dieser Weise in kleinen Teilen gegen die Abendluft zu entweichen wünscht, eine Stadt kurz vor dem Abflug, aber noch nicht entschlossen, kehrt sie zurück, ehe die Sonne ganz verschwunden ist. Da sind Fühler an den fliegenden Steintieren befestigt, länger als ihr Hauptkörper sind sie, und hauchdünne Segelflügel, die Dämmerung vom Himmel rufen. Lotsenschiffe verlassen den Hafen. Gegen Mitternacht werden sie zurückkommen, Tankschiffe, riesigen gewässerten Zeppelinen ähnlich, im Schlepp. — stop
zivilisation
romeo : 5.51 — Ein schwergewichtiger Mann unlängst am Ende der Nacht während einer Straßenbahnfahrt. Drückt mich samt Schreibmaschine zur Seite. Ein harter, zunächst schweigender Körper, fahles Gesicht. Dann mit gepresster Stimme. Ich sei einer, der in der 1. Klasse reisen sollte. Unterdrückte, massive Gewaltbereitschaft, die bei leisester Provokation hemmungslos auszubrechen droht. Enormer Hass aus kleinen Augen. Ein Moment, da ich glaube, dem Bösen höchstpersönlich zu begegnen. Der massige Mann folgt mir an diesem Frühlingsmorgen klarer Luft über die Straße. Das Singen der Amseln in den Bäumen. Der glühende Wunsch in meinem Kopf, die Gestalt hinter mir mittels eines Skalpells sorgfältig in kleinste Teile zu zerlegen. Ein Hauch nur, so fein die Haut der Zivilisation, die mich im Innern schützt. — Erneut endende Nacht. Ein Reporter stand gerade noch vor mir auf einem Dach in Tokio. Er sagte, diese Situation, morgens zu erwachen und zu bemerken, dass wieder ein Kernreaktor explodiert ist, sei surreal. — Man müsste, denke ich, auf der Stelle Käferwesen erfinden, die sich rasch vermehren, Milliarden Käfer Stunde um Stunde, Wesen, die sich unverzüglich auf die Jagd nach kleinsten Teilchen in der Atmosphäre machen würden, um sie zu verspeisen, weil das ihre Bestimmung ist, ihre Leidenschaft, das Jagen, das Fangen und das Segeln auf strahlenden Flügeln weit aufs Meer hinaus. — stop
fernsehmaschine
tango : 22.08 — Bilder von der Fernsehmaschine, die einem Albtraum entkommen. Das Meer reißt menschliches Leben an sich, eine gewaltige, flüssige Faust, die auf schwankendes Land niedergeht. Atomare Höllenhitze in zerbrechlichen Gefäßen. Ein kleiner Junge steht unter Nadelbäumen, erhobene Hände, vor einer erwachsenen Person, die einen Schutzanzug trägt. Der Astronaut misst, ob das Kind gefährlich geworden ist. Uralte Menschen ruhen in der kalten Luft auf Bahren in Decken gewickelt dicht über dem Boden, Neugeborene in ihren letzten Lebenstagen, die mit wild gewordenen Augen den Himmel betasten. Von Stunde zu Stunde zählen Kommentatoren in den Sprachen dieser Welt Geisterzahlen, Tote, Vermisste, Verletzte. Da ist ein brausendes Geräusch, schwarzes Wasser, das Autos, Schiffe, Häuser durch enge Straßen landeinwärts drückt, Hupen, blechernes Krachen, keine menschlichen Stimmen. Am Strand dann aber ein Mann, der zu einer Kamera spricht. Er sagt, er glaube, sich in einem Horrorfilm zu befinden, er wisse nicht, ob er träume. Mit einem festen Griff reißt er an der Haut seines Gesichtes. Das Unsichtbare schon anwesend. Weit draußen auf dem offenen Pazifischen Ozean treibt ein weiterer Mann. Er steht auf dem Dach seines eigenen Hauses. — stop
luftteilchen
romeo : 6.02 — Wie mich das begeistert, Details einer Geschichte nachzudenken, feinsten Teilchen einer Wirklichkeit, die später einmal unsichtbar sein werden in der Zeichenlinie auf Papieren, nur für mich wahrnehmbar im Moment der Erfindung. Ein Duft. Ein Geräusch. Die Farbe der Wolken über einer Landschaft. Oder eine Bewegung. Die Bewegung einer Hand, eines Mundes, einer Schrift. Das Murmeln einer Stimme im Schlaf. Gestern habe ich darüber nachgedacht, welcher Art ein Geschenk sein könnte, das ich mit mir nehmen würde, wenn ich ein befreundetes Ehepaar besuchte in seiner wohlgestalteten Wohnung, die eine menschliche Wohnung ist, aber eben vollständig mit Wasser gefüllt. Ich dachte, dass ich ihnen eine Schmuckschnecke zum Geschenk machen sollte, ein ganz besonderes Exemplar von der Größe einer Hand, das nun über die Wände der unterseeischen Behausung gleiten und musizieren würde, warme, leise pfeifende Geräusche. Diese freundliche Molluske könnte von innen her blau beleuchtet sein, so weit lässt sich das gut denken. Wie aber verpacke ich mein Geschenk, ja, wie zum Teufel lassen sich 2 Pfund Süßwasserschnecke artgerecht verschnüren? — stop
nachtbuch
olimambo : 5.15 — Regelmäßiges, stundenlanges Geräusch des Regens vergangene Nacht. Auch dann noch, während ich Duke Ellington hörte für eine Stunde, weil ich den Regen sehen konnte im Licht der Straßenlaternen und die Spur der Geräusche weiterdachte. Man sollte einmal ein Nachtbuch notieren, das nur vom Regen handelt, ein Buch der Regenschirme, ein Buch triefender Menschen, ein Buch der Schlauchboote, ein Buch, mit dem in der Hand man übers Wasser laufen könnte. Wenn es gelungen sein wird, würde man vielleicht bisweilen den Blick von beleuchteten Zeilen heben und sich wundern, weswegen man in einem Zimmer lesend unter einem Regenschirm Platz genommen hat. – stop
entfaltung
sierra : 22.15 — Sobald ich notiere, das ist merkwürdig, wild vor mich hin notiere, vermag ich zugleich über etwas nachzudenken, das mit dem, was ich notiere, scheinbar nicht in Verbindung steht. Es ist so, als würden die gedachten und sofort geschriebenen Wörter oder die Bewegungen meiner Hände, abseits gefaltete Gedanken öffnen, die nur in dieser Weise erreichbar sind, warum?
interview tahrir square februar 2011 kurz vor ausbruch staatlicher der gewalt gegen aktivisten/innen auf dem platz source : zero silence project