Aus der Wörtersammlung: eiche

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mr. charles brown

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sier­ra : 6.28 — Mit­ten in der Nacht ent­de­cke ich, dass Charles Brown tat­säch­lich exis­tier­te. Er war Eng­län­der gewe­sen, sam­mel­te Uhren und trug die­se Uhren am eige­nen Kör­per. Nicht etwa eine Uhr nach der ande­ren Uhr, wie man mei­nen möch­te, viel­mehr eini­ge Uhren oder sehr vie­le Uhren zur glei­chen Zeit. Ich bin natür­lich äußerst begeis­tert, öff­ne zunächst das Fens­ter, lass fri­sche Luft in die Woh­nung, keh­re vor den Bild­schirm zurück, er ist immer doch da, Mr. Charles Brown oder ein Mann, der vor­gab, Mr. Charles Brown gewe­sen zu sein, ein Mann, der Uhren sam­mel­te, der Uhren beob­ach­te­te. Er soll Uhren an sei­nen Fin­gern getra­gen haben, Uhren am Revers, Uhren in der Gestalt von Man­schet­ten­knöp­fen. Ich stel­le mir vor, dass ein fei­nes Zeit­rau­schen von ihm aus­ge­gan­gen sein muss. Ist es nicht wun­der­bar, stun­den­lang an ein Geräusch wie die­ses Rau­schen der Zeit zu den­ken? — 3 Uhr und 10 Minu­ten. Ich habe heu­te nichts wei­ter zu tun, als wach zu blei­ben, bis es hell wer­den wird. — stop / ps. Bemerkt zunächst bei Peter Glaser

 ping

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miranda

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india : 5.45 — Bei leich­tem Regen ges­tern im Park einen älte­ren Herrn beob­ach­tet. Er arbei­te­te an einem Buch, das ich zunächst nicht bemerk­te, weil der Herr auf einer Bank saß im Schat­ten eines Regen­schir­mes. Als ich neben ihm Platz genom­men hat­te, konn­te ich erken­nen, wie der Mann tat­säch­lich Zei­chen in einem Buch notier­te, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Streich­holz­schach­tel. Neben ihm lag ein wei­te­res Buch, Phil­ip Roths Roman Ever­y­man. Der Mann schien das eine Buch hand­schrift­lich in das ande­re Buch zu über­tra­gen. Er notier­te mit einem Blei­stift, den er nach jedem geschrie­be­nen Zei­chen spitz­te. Rot­kehl­chen hüpf­ten zu sei­nen Füßen her­um, pick­ten das leich­te, hauch­dün­ne Holz, das aus der Spitz­ma­schi­ne fiel, vom Boden und tru­gen es fort ins nahe Unter­holz. Ein Ver­grö­ße­rungs­glas, eine Lupe, klemm­te im lin­ken Auge des Herrn, des­halb ver­mut­lich mach­te er den Ein­druck, Schmer­zen zu haben. Manch­mal biss er sich auf die Zun­ge. Wenn ich mich nicht irre, dann hat­te der Mann bereits etwa 100 Sei­ten des Roma­nes trans­fe­riert. Ich sah ihm bald eine Stun­de zu, ohne ein Wort mit ihm zu wech­seln. Fried­lichs­te Stim­mung. Auf dem See drau­ßen hüpf­ten Karp­fen aus dem Was­ser, schwe­re Kör­per. Ein paar Amei­sen trie­ben auf einem Blatt an uns vor­bei. Ich hät­te mich ger­ne unter­hal­ten, weil mir in den ver­gan­ge­nen Tagen unheim­lich zumu­te gewe­sen ist, wäh­rend ich Fern­seh­bil­der aus der Stadt Bos­ton beob­ach­te­te. Der alte, schrei­ben­de Mann aber war so ver­tieft in sei­ne Arbeit, dass er mei­ne Gegen­wart schnell ver­ges­sen zu haben schien. Ich stell­te mir vor, dass er in die­ser Arbeit gefan­gen oder gebor­gen, viel­leicht über­haupt nicht wahr­ge­nom­men hat­te, was in Bos­ton gesche­hen war. Viel­leicht wuss­te er nicht ein­mal vom Krieg in Syri­en oder von der Ent­de­ckung des Higgs-Teil­chens. Als es dun­kel wur­de, setz­te sich der alte Mann eine Stirn­lam­pe auf den Kopf. Für einen Moment leuch­te­te er mir ins Gesicht, um sofort in sei­ner Arbeit fort­zu­fah­ren. — stop

ping

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elisabeth

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hima­la­ya : 6.10 — Im Win­ter des ver­gan­ge­nen Jah­res, an einem win­dig kal­ten Tag, besuch­te ich in Brook­lyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszwes­ka und sei­ne Frau Eli­sa­beth. Sie woh­nen nahe der Clark Street in einem sechs­stö­cki­gen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hat­te den alten Mann wäh­rend einer Fahrt auf einem Fähr­schiff zufäl­lig ken­nen­ge­lernt. Er beob­ach­te­te, wie ich Fahr­gäs­te foto­gra­fier­te, die ihre Namen heim­lich in die höl­zer­nen Sitz­bän­ke des Schif­fes ritz­ten. Er sprach mich freund­lich an, woll­te mir einen Schrift­zug zei­gen, den er selbst drei Jahr­zehn­te zuvor an Ort und Stel­le in der glei­chen Wei­se wie die beob­ach­te­ten Pas­sa­gie­re ein­ge­tra­gen hat­te. Stolz war der alte Mann gewe­sen. Wir führ­ten ein kur­zes Gespräch über die New Yor­ker Hafen­be­hör­de, Eisen­bah­nen und Flug­zeu­ge, weiß der Him­mel, wie dar­auf gekom­men waren. Als wir das Schiff ver­lie­ßen, lud Mr. Tomaszwes­ka mich ein, ein­mal zu ihm zu kom­men, dar­um stieg ich nur weni­ge Tage spä­ter in den sechs­ten Stock des schma­len Hau­ses auf den Höhen Brook­lyns. Die Tür zur Woh­nung stand offen, war­me Luft kam mir ent­ge­gen, die nach süßem Teig duf­te­te, nach Zimt und Früch­ten. Die Räu­me hin­ter der Tür waren ver­dun­kelt. Ich hat­te sogleich den Ein­druck, dass ich viel­leicht träum­te oder ver­rückt gewor­den sein könn­te, weil in die­sem Halb­dun­kel an den Wän­den, auch auf dem Boden, Lam­pen, Dioden­lich­ter, glüh­ten. Modell­ei­sen­bahn­zü­ge fuh­ren auf schma­len Gelei­sen her­um. Ich höre noch jetzt das lei­se Pfei­fen einer Dampf­lo­ko­mo­ti­ve, das mei­nen Besuch beglei­te­te. Es war eine rasen­de Zeit, Stun­den des Stau­nens, da in der Woh­nung des alten Herrn eine sehr beson­de­re Modell­an­la­ge gas­tier­te, ja, ich soll­te sagen, dass die Woh­nung selbst zur Anla­ge gehör­te, wie der Him­mel zur wirk­li­chen Welt. Alle Züge fuh­ren auto­ma­tisch von einem Com­pu­ter gesteu­ert, die Luft über den Gelei­sen roch scharf nach Zinn. Wir spra­chen indes­sen nicht viel, Mr. Tomaszwes­ka und ich, son­dern schau­ten dem Leben auf dem Boden in aller Stil­le zu. An einem Fens­ter, des­sen Vor­hän­ge zuge­zo­gen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Eli­sa­beth. Sie beach­te­te mich nicht, starr­te viel­mehr lächelnd auf eine klei­ne Klap­pe, die in die Wand des Hau­ses ein­ge­las­sen war. Manch­mal öff­ne­te sich die Klap­pe und ich konn­te für Momen­te das Meer erken­nen, das an die­sem Tag von grün­grau­er Far­be gewe­sen war, wun­der­ba­re Augen­bli­cke, denn immer dann, wenn das Meer in dem klei­nen Fens­ter erschien, lach­te die alte Frau mit glo­cken­hel­ler Stim­me auf, um kurz dar­auf wie­der zu erstar­ren. Ein­mal setz­te sich Mr. Tomaszwes­ka neben sei­ne Frau und füt­ter­te sie mit war­mem Oran­gen­ku­chen, den er selbst geba­cken hat­te. Und wie wir uns wie­der auf den Boden setz­ten, um ein Modell des Ori­ent­ex­press durch die Zim­mer der Woh­nung krei­sen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemein­sam hier oben sehr glück­lich sei­en. Er kön­ne mit sei­ner Frau zwar nicht mehr spre­chen, er kön­ne sie nur noch strei­cheln, was sie irgend­wie ver­ste­hen wür­de oder sich erin­nern an die Spra­che sei­ner Hän­de. Ver­stehst Du, sag­te er, sie ver­gisst immer sofort, alles ver­gisst sie, auch wer ich bin, aber sie ver­gisst nie­mals nach den klei­nen Engeln zu sehen, die uns besu­chen, sie kom­men dort durch die Klap­pe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wun­der, sag­te der alte Mann, wie schön sie lacht, mein jun­ges Mäd­chen, nicht wahr, mein jun­ges Mäd­chen. — stop

polaroidstrandburg

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javier

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alpha

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : JAVIER IAN
date : april 1 13 10.12 p.m.

Nach wie vor bewegt sich Fran­kie sehr lang­sam den Hud­son River ent­lang. Es geht nur weni­ge hun­dert Meter am Tag vor­an. Fran­kie, als ob er ein Ziel ver­folg­te, kennt nur eine Rich­tung: süd­wärts. Der Ver­kehr auf der 12th Ave­nue ist grau­en­voll gefähr­lich bei Tag und bei Nacht. In den ers­ten Stun­den, da das Eich­hörn­chen den Cen­tral Park ver­las­sen hat­te, moch­ten wir kaum glau­ben, dass es über­le­ben wür­de. Aber er ist schnell und er scheint zu wis­sen, dass ihm die Stra­ßen der Stadt zum Ver­häng­nis wer­den könn­ten. Wir bemü­hen uns Fran­kie zu schüt­zen, wo und wie auch immer wir kön­nen. Erfolg­los haben wir nahe Man­hat­tan Crui­se Ter­mi­nal einen Hot­dog-Ver­käu­fer gebe­ten, Fran­kie nicht wei­ter zu füt­tern. Wir wis­sen jetzt, dass er Gur­ken­schei­ben und Zwie­beln bevor­zugt. Von Mit­te Febru­ar bis in die ers­te März­wo­che hin­ein war kaum eine Bewe­gung Fran­kies zu ver­zeich­nen gewe­sen. Wir haben sein Ver­hal­ten zunächst mit den groß­zü­gi­gen Spen­den des alten Man­nes aus Puer­to Rico begrün­det. Als aber Javier Ian eini­ge Tage mit sei­nem fah­ren­den Stand nicht erschie­nen war, bemerk­ten wir, dass Fran­kie Kreuz­fahrt­schif­fe beob­ach­te­te. Es waren die MS Aida, die MS Car­ni­val Mira­cle, die MS Free­dom of the Seas, die pracht­voll beleuch­tet an den Piers fest­ge­macht hat­ten. Fran­kie hock­te auf einer jun­gen Eibe, immer auf dem­sel­ben Ast, Stun­de um Stun­de. Es ist nicht mög­lich zu ver­ste­hen, was ihn an dem Blick auf den Fluss und auf die rie­si­gen Schif­fe fes­sel­te, er schien kaum zu schla­fen und er dul­de­te uns in sei­ner Nähe, wir kamen so nah an ihn her­an, dass wir ihn bei­na­he zu berüh­ren ver­moch­ten. Am 6. März brach Fran­kie wie­der auf. Er schien nach uns zu sehen, ob wir ihm fol­gen. Und tat­säch­lich war­te­te er, wenn wir uns zur Pro­be ver­steck­ten in einer der Stra­ßen, die zum Fluss füh­ren. Die Näch­te sind nach wie vor kalt, aber ohne Frost. Unser Fran­kie ist kräf­tig, ist stark über den Win­ter gekom­men. Wir befin­den uns Höhe 41. Stra­ße. Es ist Mon­tag, der 1. April 2013, frü­her Abend. — Aller­bes­te Grü­ße sen­det Mal­colm / code­wort : medusenkopfauge

emp­fan­gen am
1.04.2013
2034 zeichen

mal­colm to louis »

polaroidstrand2

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nachtameise

14

alpha

~ : sam
to : Mr. louis
sub­ject : WANDERAMEISE

Mein lie­ber Freund Lou­is, es gibt Neu­es zu berich­ten. Ich bin näm­lich umge­zo­gen, von einer Woh­nung in eine ande­re Woh­nung, bei­de befin­den sich in dem­sel­ben Haus. Jah­re­lang, wie Du weißt, leb­te ich im 3. Stock, jetzt schaue ich vom 25. Stock­werk auf die Stra­ße hin­un­ter. Die Men­schen sind noch klei­ner gewor­den, ihre Stim­men nicht län­ger zu hören. Ich woh­ne unter dem Dach. Manch­mal lie­ge ich rück­lings auf dem Boden und den­ke, dass es hier ganz wun­der­bar ist, weil ich nie wie­der von Schrit­ten geweckt wer­de, wenn ich schla­fe. Natür­lich ist der Auf­stieg beschwer­lich, kein Lift nach wie vor, aber die Luft scheint hell zu sein, auch nachts, weil sie so gut riecht, nach See­luft, ja, nach See­luft. Vor weni­gen Stun­den öff­ne­te ich das Fens­ter nach Süden hin und füt­ter­te Möwen mit Brot, seit­her umkrei­sen sie lau­ernd das Haus. Die Woh­nung neben­an scheint leer zu ste­hen, von unten ist lei­se Kla­vier­mu­sik zu hören, nichts wei­ter. Es ist über­haupt sehr still hier oben. Wäh­rend ich nachts, eine Wan­der­amei­se, mei­ne Bücher und Papie­re nach oben schlepp­te, war ich kei­ner Men­schen­see­le begeg­net. Aber ich hör­te Stim­men, nicht von den Türen, von irgend­wo her, als wären Men­schen in den Stu­fen, dem Holz des Trep­pen­ge­län­ders, den Wän­den des alten Hau­ses gefan­gen. In den höhe­ren Stock­wer­ken befin­den sich Brief­käs­ten mit schwe­ren, eiser­nen Deckeln, in wel­che man Bot­schaf­ten abwer­fen kann. Natür­lich bin ich nicht sicher, ob sie noch funk­tio­nie­ren. Ich habe zur Pro­be eine Nach­richt fol­gen­den Inhal­tes an mich selbst abge­schickt: Etwas Selt­sa­mes ist gesche­hen. Bin ges­tern Abend ein­ge­schla­fen, obwohl ich in einem äußerst span­nen­den Buch geblät­tert hat­te. Viel­leicht war’s die schwe­re, war­me Luft oder eine schlaf­lo­se Nacht der ver­gan­ge­nen Jah­re, die rasch noch nach­ge­holt wer­den muss­te. So oder so schlum­mer­te ich eine Stun­de tief und fest im Gras und wäre ver­mut­lich bis zum frü­hen Mor­gen hin in die­ser Wei­se anwe­send und abwe­send zur glei­chen Zeit auf dem Boden gele­gen, wenn ich nicht sanft von einer nacht­wan­deln­den Amei­se geweckt wor­den wäre. Kaum hat­te ich die Augen geöff­net, war ich schon mit einer Fra­ge beschäf­tigt, die ich erst weni­ge Stun­den zuvor ent­deckt hat­te, mit der Fra­ge näm­lich, wie Tief­see­ele­fan­ten hören, was sie mit­ein­an­der spre­chen, da doch die Sprech­ge­räu­sche ihrer Rüs­sel sehr weit von ihren Ohren ent­fernt jen­seits der Was­ser­ober­flä­che zur Welt kom­men und rasch in alle Him­mels­rich­tun­gen ver­schwin­den. Eine dif­fi­zi­le Fra­ge, eine Fra­ge, auf die ich bis­her viel­leicht des­halb kei­ne Ant­wort gefun­den habe, weil ich eine Ant­wort nur im Schlaf fin­den kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Dein Sam. Guten Mor­gen! — stop

gesen­det am
17.03.2013
8.15 pm
2253 zeichen

 

polaroidmusiker

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flugbriefe

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del­ta : 0.01 — Nach einer har­ten Schicht im Post­amt von Bre­les, an wel­cher nicht weni­ger als zwei­hun­dert Beam­te betei­ligt gewe­sen sein sol­len, star­te­ten in den frü­hen Mor­gen­stun­den 5778 Luft­post­brie­fe von eige­ner Kraft, jeder also für sich und zur glei­chen Zeit, ihren Flug von der fran­zö­si­schen Küs­te über den Atlan­tik nach John Island, South Caro­li­na. Man fliegt im Schwarm nun schon die 16. Stun­de, eine äußerst güns­ti­ge Linie ent­lang, weil man in der Lage ist, sich an den Ster­nen zu ori­en­tie­ren. Es soll ein wun­der­ba­res Schau­spiel gewe­sen sein, wie sich die Wol­ke der Luft­post­brie­fe unter dem Bei­fall des gela­de­nen Publi­kums vom Boden erhob, um sich auf den Weg zu machen, das unend­lich wei­te West­meer zu über­que­ren. Ein Augen­zeu­ge berich­te­te von einem Geräusch, das er nie zuvor wahr­ge­nom­me­nen habe, als ob sich ihm tau­sen­de Bie­nen näher­ten. Ein wei­te­rer Beob­ach­ter schwärm­te von wun­der­bar schim­mern­der Erschei­nung genau in dem Moment, da die Brief­wol­ke den Hori­zont erreich­te. Er sag­te, dass man noch eine lan­ge Zeit ein Brum­men ver­nom­men habe. Einer der flie­gen­den Brie­fe sei vor sei­nen Füßen ins Gras gestürzt. Er habe den Brief mit sich nach Hau­se genom­men, wo er ihn unter­such­te. Ein Lie­bes­brief von Madame Juli­ett L. an sich selbst sei im Umschlag ent­hal­ten gewe­sen. An der obe­ren Brief­kan­te, je an einer Ecke links und rechts, befän­den sich Roto­ren, die im Zustand der Ruhe, in der Art geschlos­se­ner Regen­schir­me nach unten gefal­te­ten sei­en. Der Flug­brief ist leicht, sag­te der Mann zum Schluss, ein klei­nes Wun­der mit einer Brief­mar­ke, die über Licht­sen­so­ren zu ver­fü­gen scheint. — stop

ping

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erzählende physik eines fallendes radios

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sier­ra : 6.32 — Von der Berech­nung des Luft­wi­der­stan­des, dem ein Kör­per begeg­net, wenn er sich im frei­en Fall befin­det, wuss­te ich bis kurz nach Mit­ter­nacht nichts. Auch die Berech­nung der wach­sen­den Geschwin­dig­keit, mit der sich ein stür­zen­der Kör­per dem Erd­mit­tel­punkt nähert, war mir bis­her nicht mög­lich, weil ich noch nie gut gewe­sen bin in der Mathe­ma­tik der Phy­sik. Ich habe also nach­ge­le­sen und bin in die­ser Lek­tü­re auf einen wun­der­ba­ren Text gesto­ßen, den der Phi­lo­soph Lukrez bereits im Jahr 55 vor Chris­tus notiert haben soll. Er schreibt: Wer nun etwa ver­meint, die schwe­re­ren Kör­per, die senk­recht rascher im Lee­ren ver­sin­ken, ver­möch­ten von oben zu fal­len auf die leich­te­ren Kör­per und dadurch die Stö­ße bewir­ken, die zu erre­gen ver­mö­gen die schöp­fe­risch täti­gen Kräf­te: Der ent­fernt sich gar weit von dem rich­ti­gen Wege der Wahr­heit. Denn was immer im Was­ser her­ab­fällt oder im Luft­reich, muss, je schwe­rer es ist, umso mehr sein Fal­len beei­len, des­halb, weil die Natur des Gewäs­sers und leich­te­ren Luft­reichs nicht in der näm­li­chen Wei­se den Fall zu ver­zö­gern imstand ist, son­dern im Kamp­fe besiegt vor dem Schwe­re­ren schnel­ler zurück­weicht: Dahin­ge­gen ver­möch­te das Lee­re sich nie­mals und nir­gends wider irgend­ein Ding als Halt ent­ge­gen­zu­stel­len, son­dern es weicht ihm bestän­dig, wie sei­ne Natur es erfor­dert. Des­halb müs­sen die Kör­per mit glei­cher Geschwin­dig­keit alle trotz unglei­chem Gewicht durch das ruhen­de Lee­re sich stür­zen. — Eine wei­te­re Stun­de spä­ter hat­te ich eine recht prä­zi­se Vor­stel­lung von der Beschleu­ni­gung, die ein Tran­sis­tor­ra­dio erfährt, wenn es aus 1,60 Meter Höhe von einem Bar­tisch aus zu Boden fällt. Das ist eine wich­ti­ge Erfah­rung, um eine Geschich­te erzäh­len zu kön­nen, die sich dem Ver­hal­ten eines fal­len­den Radi­os gemäß ent­wi­ckeln könn­te. Weil sich das Radio zunächst lang­sam, dann schnel­ler wer­dend durch die Luft bewegt, wür­den sich auch die Wör­ter der Geschich­te zunächst lang­sa­mer ereig­nen, eine gerin­ge Men­ge Wör­ter für ein erzähl­tes Par­tic­le der Geschich­te, wohin­ge­gen zuletzt, kurz vor dem Auf­prall des Radi­os sich sehr vie­le Wör­ter ereig­nen wer­den, um ein erzähl­tes Par­tic­le zu erzeu­gen. Eine inter­es­san­te Vor­stel­lung, die ich para­do­xer­wei­se in mei­nem Gehirn her­um­zu­dre­hen ver­mag. Weil sich das Radio zunächst lang­sam bewegt, ist viel Zeit, um vie­le Wör­ter zu notie­ren. Ste­tig wer­den die Wör­ter weni­ger, weil sich die Zeit ihrer Auf­füh­rung ver­kürzt. Alles das ist für eine extre­me Zeit­lu­pe aus­ge­dacht. Und jetzt habe ich einen klei­nen Kno­ten im Kopf. Guten Mor­gen. — stop

formel

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eleonore

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del­ta : 2.42 — Von Eleo­no­re weiß ich nichts, außer, dass sie über win­zi­ge Hän­de ver­fügt. Das ist nicht viel, nein, nicht viel, viel­leicht soll­te ich erwäh­nen, dass sie die Luft sehr lan­ge Zeit anzu­hal­ten ver­mag. Ich habe vor Kur­zem noch mit ihr das Luft­an­hal­ten geübt, wie saßen vor­ein­an­der und lach­ten, dann sag­te sie: Jetzt, und schloss ihren Mund. Auch ich schloss mei­nen Mund, ich mach­te einen Strich aus ihm in mei­nem Gesicht. Es war natür­lich Ehren­sa­che, dass in der Zeit unse­res Wett­kamp­fes weder von ihr noch von mir durch die Nase geat­met wur­de. Zunächst übten wir eine Minu­te, dann zwei, bis dahin hat­ten wir uns nur gewärmt oder ent­spannt, um sehr bald 2 Minu­ten und drei­ßig Sekun­den lang die Luft anzu­hal­ten, was mir bereits Schmer­zen berei­te­te, ich muss­te mich kon­zen­trie­ren, wäh­rend Eleo­no­re mich völ­lig ent­spannt betrach­te­te. In der Dis­zi­plin eines Atem­still­stan­des von drei Minu­ten und drei­ßig Sekun­den senk­te sie ihre Augen, nicht weil sie kämp­fen muss­te, son­dern weil sie mei­ne Hän­de beob­ach­te­te, die ein wenig zit­ter­ten, ich hat­te sie zu Fäus­ten geballt, ein Zei­chen, dass ich bald auf­ge­ben wür­de, wie man mir spä­ter erzähl­te. Das war nach mei­ner zwei­ten Ohn­macht gewe­sen, ich wur­de näm­lich schläf­rig nach 3 Minu­ten und 45 Sekun­den, sowie nach einer Übung von über 4 Minu­ten. Hier ende­te unser gemein­sa­mes Trai­ning, weil Eleo­no­re nicht wei­ter­ma­chen woll­te, da ich kein ernst­zu­neh­men­der Geg­ner für sie war. Statt­des­sen durf­te ich ihr zuse­hen, wie sie ver­such­te, in ihrer Lieb­lings­dis­zi­plin, der Lang­zeit­stre­cke von über sechs Minu­ten, eine schwie­ri­ge Rechen­auf­ga­be zu lösen. Sie notier­te ein Ergeb­nis, eine grö­ße­re Zahl, auf ein Blatt Papier in der ach­ten Minu­te, und sank dann laut­los in ihrem Stuhl in sich zusam­men, wo sie in die­ser Minu­te noch immer sitzt und fest zu schla­fen scheint. Mehr­fach habe ich ver­sucht, sie zu wecken, indem ich ihren Namen rief. Mit jedem mei­ner Rufe wuchs die Furcht, sie zu berüh­ren. Es ist jetzt eine hal­be Stun­de ver­gan­gen, drau­ßen vor dem Fens­ter summt eine kal­te Nacht. Nein, nein, ich bin nicht wirk­lich beun­ru­higt, denn ich mei­ne zu erken­nen, dass sich Eleo­no­res Brüs­te heben und sen­ken. Auch ihre Hän­de schei­nen sich leicht zu bewe­gen. Sie sind tat­säch­lich außer­or­dent­lich klein, es sind die Hän­de eines Mäd­chens an den Armen einer erwach­se­nen Frau, und sie sind weiß, ich erin­ne­re mich, sie waren schon immer sehr weiß gewe­sen. — stop

ping

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Louis / XD5878682-NOE06 24.11.10~24.11.2015

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nord­pol : 5.04 — Denk­bar, dass irgend­wann ein­mal Waren­häu­ser exis­tie­ren wer­den für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kop­fes Zube­hör. Auch Geschäf­te für Nie­ren, Kno­chen, Seh­nen, Haut und wei­te­re Mate­ria­li­en eines mensch­li­chen Kör­pers sind wahr­schein­lich gewor­den. Man wird, sofern man über aus­rei­chend finan­zi­el­le Mit­tel ver­fügt, wesent­li­che ana­to­mi­sche Sub­stan­zen der eige­nen Exis­tenz in zen­tra­len Maga­zi­nen voll aus­ge­wach­sen vor­rä­tig hal­ten, um in der Not ohne Ver­zö­ge­rung han­deln zu kön­nen. Fern­rei­sen­de füh­ren dann Behäl­ter mit sich, in wel­chen sich tief­ge­kühl­te Lun­gen und Her­zen befin­den. Ein ana­to­mi­scher Eis­schat­ten könn­te unse­re Lebens­zeit beglei­ten, solan­ge man nicht in der Lage ist, eine kom­plet­te, eine durch­blu­te­te, wil­len­lo­se Gestalt, eine Kopie der eige­nen Per­son in nächs­ter Nähe in Bereit­schaft zu hal­ten. Die­se Per­son könn­te über Rei­se­pa­pie­re ver­fü­gen, über per­sön­li­che Klei­dung, über einen Schrank­kof­fer zum Schla­fen, über einen Stuhl zum Sit­zen, über etwas Per­so­nal, wel­ches das dop­pel­te Wesen füt­tern und baden und spa­zie­ren füh­ren wird im Gar­ten. Jedes fünf­te Jahr wür­de das Wesen erneu­ert wer­den. In den Papie­ren mei­nes Schat­tens könn­te fol­gen­de Signa­tur zu ent­de­cken sein: Lou­is / XD5878682-NOE06 24.11.10~24.11.2015. − stop
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chile

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echo : 6.05 — Der Spatz, der ges­tern Nach­mit­tag auf dem Brett vor dem Fens­ter saß, war ein küh­ler Vogel gewe­sen. Von der Käl­te der Luft so lang­sam gewor­den, konn­te ich ihn ohne Gegen­wehr in mei­ne Hän­de neh­men. Drau­ßen ist es jetzt schon lan­ge dun­kel gewor­den. Der klei­ne Vogel kau­ert in der Nähe der Hei­zung in einem Körb­chen auf einem Tuch und scheint zu schla­fen. Ich fra­ge mich, wie er den Novem­ber, den Dezem­ber, den Janu­ar über­le­ben konn­te. Es ist über­haupt seit län­ge­rer Zeit der ers­te Spatz, der mir begeg­net. Wenn ich dar­über nach­den­ke, weiß ich nicht ein­mal mehr, über wel­che Stim­me Spat­zen oder Sper­lin­ge gebie­ten. Ich höre hier in der Stadt im Som­mer noch das sir­ren­de Gespräch der Schwal­ben und im Win­ter das Gur­ren der Tau­ben vom Dach her und mor­gens ein­sa­me Amseln sin­gen. Die Stim­men der Sper­lin­ge aber sind ver­lo­ren gegan­gen. Gera­de noch habe ich in den Brief­mar­ken­samm­lun­gen mei­nes Vaters geblät­tert, die zu einer Zeit ange­legt wor­den waren, als in Mit­tel­eu­ro­pa noch Wol­ken von Spat­zen durch die Gär­ten wir­bel­ten. Es ist ein eigen­tüm­li­cher Geruch, der von den Alben aus­geht, lan­ge wur­den sie nicht geöff­net. Auch Brie­fe sind dort archi­viert, kost­ba­re Schrift­stü­cke einer Zeit, da mein Vater noch lan­ge nicht exis­tier­te. In die­ser Minu­te erin­ne­re ich mich an einen beson­de­ren Brief, den ich vor Jah­ren ein­mal auf mei­nem Schreib­tisch gefun­den hat­te, ich berich­te­te bereits, es war ein Luft­post­brief. Als ich das Cou­vert des Brie­fes genau­er betrach­te­te, das heißt, als ich den Brief so nahe an mei­ne Augen her­an­führ­te, dass ich die Stem­pel­ein­trä­ge sei­ner Anschrif­ten­sei­te ent­zif­fern konn­te, bemerk­te ich, dass der Luft­post­brief bereits vor lan­ger Zeit in Euro­pa auf­ge­ge­ben und über den Atlan­tik geflo­gen wor­den war. In Sant­ia­go de Chi­le dann ange­kom­men, konn­te der Brief nicht zuge­stellt wer­den, ver­mut­lich weil die Zei­chen, die den Brief beschrif­te­ten, kaum zu ent­zif­fern gewe­sen waren. Nach eini­gen Wochen War­te­zeit, reis­te der Brief, nun mar­kiert mit einem Schild­chen in blau­er, spa­ni­scher Far­be: Impo­si­ble de ent­re­gar! *, über den Atlan­tik zurück, um sich nur weni­ge Tage spä­ter erneut auf den Weg über das Meer nach Chi­le zu bege­ben. Ein wei­te­rer Schrift­zug war hin­zu­ge­kom­men, ein fei­ner, aber groß­zü­gi­ger Stem­pel­auf­druck: -Die­se Sen­dung wur­de von einem Blin­den geschrie­ben!- Zwei fri­sche Wert­mar­ken, nichts sonst ver­än­dert. Und so mach­te sich der Brief bald dar­auf ein vier­tes Mal auf den Weg über das Meer wie­der nach Euro­pa zurück und lan­de­te, weiß der Him­mel, war­um, in mei­ner Nähe, in der Nähe mei­ner Schreib­ma­schi­ne.- stop

* Nicht zustellbar

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