tango : 0.25 — Ich war einmal zugegen, als Teddy seine Kamera in den Park spazieren führte, an einem kalten, winterlichen Tag, es hatte geschneit. In den Händen des stattlichen runden Mannes sah der Fotoapparat, der einen Computer enthielt, klein aus, zerbrechlich. Unentwegt berichtete sein stolzer Besitzer von den Möglichkeiten der Fotografie, die diese Kamera in Zukunft für ihn eröffnen würde. Es war eine Art Liebesbeziehung, die ich damals beobachtete, Teddy und seine kleine Lichtfangmaschine, wie er mit seinem dritten Auge den Schnee betastete, wie er mir erzählte, dass man Schnee eigentlich nicht fotografieren könne. Das war vor vier oder fünf Jahren gewesen. Seither sind Teddy und seine Kamera weit herumgekommen in der Welt, vor allem reisten sie nach Peking, verbrachten dort mehrere Monate im Jahr, wanderten durch die große Stadt auf der Suche nach Augenblicken, die Teddy sammelte. Es war ein Fotografieren wie ein Gespräch, auch ein Selbstgespräch gegen die Verlorenheit, gegen die Angst vielleicht einmal wieder in den Alkohol zurückzufallen, jedes Bild ein Beweis für die eigene Existenz. Eine seiner Fotografien aus dem Sommer 2012 zeigt zwei Jungen, wie sie dem riesigen, runden Mann mit dem kleinen Fotoapparat begegneten. Der eine Junge scheint zu staunen, der andere will die rechte, seitwärts ausgestreckte Hand des Fotografen berühren. Es ist eine typische Fotografie, das Werk eines Künstlers, der manchmal in Europa anrief, weil er sich einsam fühlte in irgendeinem Hotel der chinesischen Provinz bei Eis und Schnee. Auch in Peking hatte er Freunde, gute, wirkliche Freunde, in seiner kleinen Wohnung dort wohnten eine junge Studentin und ihre Mutter. Vor wenigen Tagen erreichte mich nun die Nachricht seines Todes, für den es zu diesem Zeitpunkt keine Erklärung gibt. Auf Facebook notierte er noch: Bitte beachte, dass ich prinzipiell keine Nachrichten schreibe oder beantworte. Verwende bitte immer meine E‑Mail-Adresse, um mich zu erreichen. Per Mail bin ich stets zu erreichen. – Lieber Teddy, ich werde das sofort versuchen. — stop
Aus der Wörtersammlung: eigentlich
dampfende ohren
alpha : 6.55 — Ich forsche gern in meinem digitalen Analyseprogramm nach Fragen an Suchmaschinen, die zu meiner Particlesarbeit führten. Merkwürdige, verrückte, poetische Sentenzen sind zu finden. In der vergangenen Woche zum Beispiel folgende: meine schreibmaschine schreibt buchstaben übereinander . kleine rote fliegen in der küche . käfer der auf unserem körper wohnt . lustige geschichten über ohren . ägyptisches frauzeichen mit flügeln . schimpansen im weltall . schlafende elefanten . männer mit kleinen köpfen . ist albert sanchez pinol ein mann . louis’ lichtgeschichte. stop — Über Nacht ist es kalt geworden. An der Straßenbahnhaltestelle beobachte ich einen älteren Herrn, aus dessen Ohren Dampf zu treten scheint. Man könnte sagen, es handelt sich um den ersten rauchenden Kopf, den ich in meinem Leben persönlich gesehen habe. Als ich näher herantrete, erkenne ich, dass sich in den Ohren des dampfenden Herrn je ein Tier befand. Ich fragte, ob ich vielleicht einmal genauer betrachten dürfte, was dort in seinen Ohren existiert. Weil der alte Mann nichts hörte, trug ich mein Anliegen in Zeichensprache vor. Er schien mich zu verstehen und neigte unverzüglich seinen Kopf, sodass ich eine gute Aussicht hatte auf das rechte seiner Ohren. Tatsächlich waren dort Augen und Zangen eines Käfers zu erkennen. Als ich mich näherte, zog sich das Wesen ein wenig in die Tiefe des Ohres zurück, das von weißem flaumigen Haar besetzt war, wie von einem kostbaren Pelz. Der dünne Faden des Käferatems, den ich kurz zuvor beobachtet hatte, war nun gut zu sehen, aber ich konnte nicht eindeutig identifizieren, woher der Atem des Käfers eigentlich kam, wo der Atem, der in der kalten Luft kondensierte, den Käferkörper präzise verließ. Noch ehe ich meine Frage zur Konstruktion des Käfers stellen konnte, war der alte Herr in eine Straßenbahn gestiegen und davongefahren. — Dienstag. — stop.
dos passos’ lesebrille
delta : 22.01 — In dem Moment, da ich beim Augenoptiker meinen Wunsch nach einer Lesebrille vorgetragen hatte, war ich etwas verlegen gewesen, als ob ich plötzlich uralt geworden sei und etwas an Bedeutung verloren hätte. Ich sagte nun zu dem Mann, der hinter dem Tresen stand: Hören Sie, ich benötige eigentlich noch keine Brille. Ich sehe, glaube ich, noch gut nach nah und fern. Aber ich möchte gerne dieses Buch hier lesen. Ich legte John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer auf den Tresen ab, genauer gesagt, Dos Passos’ Roman in der deutschen Taschenbuchausgabe des Rowohlt Verlages, ein Buch, dem sofort anzusehen ist, dass man Papier sparen wollte, eine ehrenwerte Handlung, um Urwälder vor der Vernichtung zu bewahren, das ist denkbar. Man kann sich das so vorstellen: Die Zeichen, die im Körper des Buches zu finden sind, sind äußerst klein geraten, alle Zeilen liegen dicht zueinander und spannen sich tatsächlich fast vollständig vom linken bis zum rechten Rand der Seite. Es ist ein dicht bedrucktes Buch, eine beinahe dunkle Erscheinung. Können Sie mir eventuell mit einer passenden Brille weiterhelfen, fragte ich den Optiker vorsichtig. Wissen Sie, wie ich bereits erwähnte, ich benötige eigentlich noch keine Brille! Der Optiker nahm also das Buch in die Hand, wog es hin und her, öffnete es, warf einen kurzen Blick auf die erste Seite des Romans und lächelte, ich sollte ihm folgen. Im Magazin, – es war ein großes, erhebliches, ja ein bedeutendes Warenlager -, führte er mich Schubladenwände entlang, die bis unter die Decke reichten, es roch sehr gut, etwas nach Alkohol und etwas nach feinen Motorölen. Nach einer Weile blieb er stehen und deutete auf eine der Schubladen. Dort stand, gleichwohl in sehr kleiner Schrift geschrieben: Dos Passos / Manhattan Transfer. Wie er nun die Schublade öffnete, lagen dicht an dicht einige schöne Lesebrillen in verschiedenen Farben und Größen und Formen. Über Dos Passos’ Brillenschublade war ein Fach mit der Beschriftung: Samuel Beckett / Gesammelte Romane zu erkennen. Gleich rechts davon lagerten Ulysses’ Brillen. – stop
depesche aus neuseeland
ulysses: 6.58 — Vielleicht liegt die Fotografie, die Rahel vor zwei Tagen im Zug kurz vor dem Flughafen mit ihrem Handy von mir machte, soeben in Neuseeland auf einem Holztisch in der Küche ihres Hauses, dunkelgrüne Weiden, Schafe vor den Fenstern. Ja, vielleicht, das ist denkbar. Sicher ist, dass diese Aufnahme tatsächlich gemacht wurde, und dass ich auf ihr vermutlich etwas unruhig wirken könnte, weil ich Rahel so viele Jahre nicht gesehen hatte, wie sie plötzlich vor mir sitzt, ein Geist sozusagen, ich glaubte, sie sei längst gestorben. Man hatte mir erzählt, ein Freund, sie sei tot, das war plausibel, so wie Rahel lebte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde war sie in dem Moment der Nachricht ihres Ablebens nach Jahren vollkommener Abwesenheit, wieder zu einer Anwesenden geworden, eine Tote nun mit einem Status. Jahre war sie ein Nichts gewesen, weder da noch dort, eine Leere. Und plötzlich saß sie in meiner Gegenwart im Zug und nannte mich beim Namen. Sie wunderte sich, sie fragte: Warum siehst Du mich so seltsam an? Ich antwortete, dass ich überrascht sei. Liebe Rahel, sagte ich, ich kann noch nicht glauben, Dich hier zu sehen. Ja, so sprach ich zu ihr hin, ohne mich eigentlich hören zu können. Leider war kaum Zeit für ein Gespräch gewesen, ehe Rahel aus dem Zug stürmen würde, um das Nachtflugzeug nach Singapur noch zu erreichen. In dieser Zeit, die nur Minuten dauerte, erzählte sie, dass sie damals, vor vielen Jahren, nach Neuseeland gereist und dort geblieben sei. Sie habe Europa beinahe vergessen, sie sei nur deshalb zurückgekommen, weil ihre Mutter gestorben war. Stolz erwähnte sie, dass sie zwei Töchter habe, und ich stelle mir nun vor, wie sie vielleicht in diesem Moment, da ich meinen Text notiere, jene Fotografie gemeinsam betrachten, die auf dem hölzernen Tisch der Küche in Neuseeland liegt, ausgedruckt in schwarzer und weißer Farbe, das Gesicht eines Mannes, der staunt, der im Grunde glaubt, zu träumen. Gestern war dieses Bild zu mir gekommen, durch Luft, sagen wir, Signale. Ich hörte, wie mein Telefon ein Geräusch machte, als die Fotografie vollständig eingetroffen war. Unter dem Bild war eine kleine Notiz zu finden. Rahel schrieb: Lieber Louis, ich freu mich sehr, Dich gesehen zu haben. Ich glaubte, Du wärest nicht mehr unter uns. Melde mich wieder. r. – stop
von den vasentieren
tango : 3.15 — Tagelang habe ich überlegt, ob es sinnvoll ist, über die Existenz der Vasentiere weiter nachzudenken. In diesem Diskurs mit mir selbst, haben meine Vorstellungen über das Wesen und die Gestalt der Vasentiere, indessen weiter an Präzision zugenommen, ohne dass ich das zunächst bemerkte. Einmal wartete ich an einer Ampel unter einer Kastanie. Es war früher Abend und ich nutzte diese Situation des Innehaltens, um mir vorzustellen, wie es sein könnte, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigentlich nicht notwendig gewesen war, Vasentiere dürfen atmen, Vasentiere müssen atmen, und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, eine innere feste Struktur auszubilden, sagen wir, eben eine Art Behälter zu sein. Das ist gut gelungen, auch nachdem ich von einer Kastanie auf den Kopf getroffen worden war, bewegte ich mich nicht. In diesem Moment wurde stattdessen deutlich, dass Vasentiere niemals flüchten, weil sie nicht flüchten wollen und weil sie nicht flüchten können, ihnen fehlen Füße und Beine. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer organischen Konstruktion her begabt, Formen nachzuahmen, die geeignet sind, tiefere Gewässer in sich auszubilden, das ist nicht verhandelbar. Auch nicht, dass sie das Wasser zur Versorgung der Pflanzen, welchen sie Herberge bieten, aus der Luft entnehmen, sei sie noch so trocken. Möglich ist, dass Vasentiere, die in der Lage sind, mittels ihrer Gedanken Bewegung zu formulieren, eher unglückliche Wesen sein werden, daran sollte man unbedingt denken, ehe man sich an die Verwirklichung der Vasentiere machen wird. — stop
quallenuhr
~ : oe som
to : louis
subject : QUALLENUHR
date : sept 12 12 10.22 a.m.
Ganz plötzlich, lieber Louis, habe ich Lust bekommen, Dir zu schreiben. Eigentlich wollte ich mich erst am kommenden Samstag melden, aber ein Sturm bewegt sich auf uns zu und es ist nichts zu tun, als zu warten, ob er uns mit voller Wucht treffen wird. Vermutlich ist es diese Warterei, die an unseren Nerven zerrt. Auch, dass die Tage wieder kürzer werden. Gestern haben wir einen Schwarm Tintenfische beobachtet, der unser Schiff umkreiste. Ein ungewöhnlicher Anblick, die Tiere waren schneeweiß. Wir haben einige gefangen, sie schmecken süß, wenn man sie brät, nach Brot, nach Gebäck, nach Mandeln. Beunruhigend ist, dass sie weder über Herzen noch Augen verfügen. Eine halbe Nacht haben wir einen Fisch nach dem anderen durchsucht. Als wir kein Exemplar mehr hatten, um unsere Suche fortsetzen zu können, ist Miller mit dem Beiboot losgefahren. Fast windstill ist es hier unten auf Höhe des Meeres, weit oben jedoch rasende Wolken von West nach Ost. Ja, lieber Louis, wir durchleben schwierige Tage. Und Noe, unser Noe in der Tiefe, ist von Fieber befallen. Wir haben ihn gut 150 Fuß angehoben, damit er Licht sehen kann. Seit mehreren Stunden wiederholt er eine kleine Geschichte, von der wir nicht wissen, woher sie kommt. Noe sagt, Noe stelle sich ein Zimmer vor, ein freundliches, helles Zimmer von allerfeinster Quallenhaut, ein Zimmer von Wasser, ein Zimmer von Salz, ein Zimmer von Licht. Man könnte dieses Zimmer, und alles, was sich im Zimmer befindet, das Quallenbett, die Quallenuhr, und all die Quallenbücher und auch die Schreibmaschinen von Quallenhaut, trocknen und falten und sich 10 Gramm schwer in die Hosentasche stecken. Und dann geht man mit dem Zimmer durch die Stadt spazieren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaffeehaus und wartet. Noe sitzt also ganz still und zufrieden unter einer Ventilatormaschine an einem Tisch, trinkt eine Tasse Kakao und lächelt und ist geduldig und sehr zufrieden, weil niemand weiß, dass er ein Zimmer in der Hosentasche mit sich führt, ein Zimmer, das er jederzeit auspacken und mit etwas Wasser, Salz und Licht, zur schönsten Entfaltung bringen könnte. Hier spricht Noe. Noe stellt sich ein Zimmer vor, ein freundliches, helles Zimmer von feinster Quallenhaut. — Beste Grüße. Ahoi. Dein OE SOM
gesendet am
12.09.2012
2268 zeichen
mr. munki
marimba : 6.22 — Das Vergessen ist nicht gerade eine meiner Stärken. Ich kann mich noch nach Jahren an jedes schwierige Gespräch erinnern, wo es sich ereignete, mit wem ich mich unterhalten hatte und worüber. Dafür vergesse ich auf dem Weg von meinem Arbeitszimmer in die Küche, weshalb ich mich eigentlich in Bewegung setzte. Auch die Uhrzeit vergesse ich gerne, Telefonnummern, Passwörter, Namen, ganze Bücher, dass sie existieren, Buchstaben, meinen Regenschirm. Einmal wäre ich beinahe im Herbst ohne Schuhe auf die Straße getreten. Genau genommen bin ich im Vergessen leichtfüßiger, als ich dachte. Ich vergesse aber leider in vielen Fällen nicht, was ich gerne vergessen würde. Heute habe ich bemerkt, dass ich versäumte, also vergessen habe, in einem Buch weiterzulesen, das ich im Mai zuletzt in Händen gehalten habe. Vielleicht erinnern Sie sich, es handelte sich um Pete L. Munki’s Roman Nautilus. Der Erzähler der Geschichte, ein junger Mann namens Zezito Lopes, ruhte zuletzt im 10. Stock eines Hauses in der Lexington Avenue auf einer Treppenstufe. Früher Nachmittag. Ein schwerer Behälter von gepanzertem Glas, in dem sich zwei Fische der Gattung Nautilus befanden, stand neben dem wartenden Mann auf dem Boden. Ich erinnerte mich damals, dass der junge Mann, er war ein gut trainierter Träger, sich kurz darauf erhoben hatte, um an einer der Wohnungstüren, die auf den Flur führten, zu klingeln und nach einem Glas Wasser zu fragen. Unverzüglich wurde geöffnet, ein Gespräch entwickelte sich, in dessen Folge Zezito Lopes sich bückte, seinen gepanzerten Behälter in die Hände nahm und mit ihm in der Wohnung verschwand. So weit, so gut. Als ich das Buch im Mai im Zug geöffnet hatte, konnte ich die markierte Textstelle nicht finden. Sofort der Gedanke, ich hätte möglicherweise fantasiert, eine beunruhigende Vorstellung. Nicht minder beunruhigend schien mir der Gedanke gewesen zu sein, das Buch selbst könnte sich verändert haben, weiter- oder umgeschrieben worden sein, obwohl sich das Buch, auch nachts, immer in meiner Nähe aufgehalten hatte. Zu Hause angekommen legte ich das Buch unter andere Bücher auf meinem Schreibtisch ab, wo ich es heute wieder entdeckte. Als ich das Buch öffnete, war das Buch leer. Kein Zeichen zu finden, nur der Titel der Geschichte: Nautilus. Darunter ein weiterer Satz: Bitte warten. Pete L. Munki. — stop
PRÄPARIERSAAL : schlafgänger
charlie : 6.54 — Otto Lilienthal soll als junger Mann ein Schlafgänger gewesen sein wie mein Vater. Ich erinnere mich, dass er einmal erzählte, er habe während früher Forschungszeit sein Bett mit einem „leichten Mädchen“ geteilt. Nachts schlief er auf ihrem Lager, tags sie auf dem Lager meines Vaters. Eine merkwürdige Vorstellung. Sie sind sich, wenn ich mich nicht irre, persönlich nie begegnet sein, aber ihren Gerüchen, Wärme, einem Körperabdruck, Haar. — Kurz vor Sonnenaufgang. Gerade eben lese ich einen E‑Mailbrief June’s, 22. Sie schildert in lakonischer Weise ihre Erfahrung eines Präpariersaales: > Der Tag des ersten Testates: Nervosität, Übelkeit, bestanden! Glücksgefühle, ab nach Hause, schlafen! Jetzt alles tun, außer lernen. Oh, es ist schon spät, verdammt, was muss ich morgen eigentlich machen? Das werde ich in der S‑Bahn schon noch herausfinden. Dann der erste Tag des neuen Abschnitts: Arm oder doch der Kopf? Was muss ich eigentlich tun? Ich hätte mir das gestern doch noch ansehen sollen, meine Assistentin wird mir schon helfen, erst mal das Fett abtragen, da kann ich nicht viel falsch machen. Was muss ich eigentlich finden? Ach, das finde ich morgen auch noch! Endlich nach Hause! – Der 2. Tag: Was habe ich heute zu unternehmen? Verdammt, warum meint mein Assistent, dass es nicht gut ist, dass ich diesen kleinen Hautnerv noch nicht gefunden habe. Feierabend! — Der 3. Tag: Nachtarbeit, müde! — Der 4. Tag. Ich bin schon wieder nicht vorbereitet, ich hatte so viel nachzuholen, bald ist erneut Testat und ich kann noch nicht einmal mein eigenes anatomisches Gebiet erklären. – 5. Tag, zwei Tage vor dem zweiten Testat: Panik! Ich habe überhaupt keine Ahnung. Ich muss noch so viel lernen, dass das alles niemals in meinen Kopf gehen wird. Ich habe zwar schon sehr viel gelernt, aber ich habe alles, was ich lernte, wieder vergessen. — 6. Tag, letzter Tag vor dem Testat: Ich glaube, mein Präpariergebiet kann ich jetzt inwendig und auswendig, aber ich weiß nichts vom Bein! Wenn ich über das Bein gefragt werde, dann falle ich durch! Ich muss noch dringend das Bein lernen! Nein, das lern ich jetzt nicht mehr. Mut zur Lücke. Nacht! — stop
summenlicht
himalaya : 3.15 — Über meinem Schreibtisch brennt seit einer Stunde ein warmes Licht, elektrisches Feuer, welches einem Glaskolben entkommt, in dem sich weitere kleinere Glaskolben befinden. Diese kleineren, unsichtbaren Glaskolben erzeugen das eigentliche Licht, das als Summenlicht durch das milchige Glas zu mir in den Raum entkommt. Ich dachte gerade eben noch, als ich eine Konstruktionszeichnung meiner neuesten Leuchtbirne betrachtete, dass sie Lichtbeeren enthält, Lichtkirschen genauer. Auf einem weiteren Zettel war das schöne Wort Lumen verzeichnet, außerdem der Hinweis, ich könnte meine Lampe 12000 Male ein und wieder ausschalten, ohne dass mein neues Licht daran zugrunde gehen würde. Noch viel erstaunlicher war mir vorgekommen, dass der Lichtkörper, den ich erworben hatte, 25 Jahre leuchten wird. Eine erstaunliche Aussage. Sie ist in einer Weise verzeichnet, als wäre ihre Grundlage Erfahrung. Ich habe mir gedacht, dass man vielleicht eine Möglichkeit gefunden haben könnte, die Zeit für Untersuchungen des Lichts derart zu beschleunigen, dass aus 25 Menschenjahren 2 Lampenmonate werden. Ich bekomme das bisher nicht vollständig in meinen Kopf, insbesondere den Gedanken nicht, dass ich nach meiner ersten schönen Lampenbirne zu meiner Lebzeit höchstwahrscheinlich nur noch eine weitere Frucht dieser Art für gute Sicht über meinem Schreibtisch erwerben werde. — stop
ein zimmer
alpha : 6.28 — Halbdunkel. Vor einem Fenster steht ein Bett. Das Fenster ist leicht geöffnet, Jalousien rippen das Licht, das spärlich hereinkommt. Es könnte Vormittag sein oder Nachmittag. Zufällig habe ich den Film in genau dem Moment angehalten, als eine Fliege den aufgenommenen Flugraum durchkreuzt. Die Gestalt des Tieres ist nicht ganz scharf zu sehen, Beine, die fest an den Körper gepresst sind. Es ist die erste Fliege, die ich in dieser Haltung wahrnehme, ein kleiner Vogel, denke ich im ersten Moment, und dass diese Fliege eigentlich dort, wo sie sich befindet, nichts zu suchen hat. Es handelt sich bei dem abgedunkelten Raum um ein Hospitalzimmer. Neben dem Bett steht ein Tisch, dicht an einer Wand, deren Farbe blättert. Auf diesem Tisch kauert ein Gerät, das Kurven zeigt, Pulse, weiterhin Zahlen, Blutdruckwerte vielleicht. Eine Karaffe mit Flüssigkeit ist zu sehen und ein Schulheft, geöffnet, Schriftzeichen. Ich bin der arabischen Sprache nicht mächtig, und doch vermag ich zu erkennen, dass diese Schriftzeichen arabische Schriftzeichen sind, auch weil ich weiß, dass der Film, den ich angehalten habe, in der Stadt Tripolis aufgenommen sein könnte. Vermutlich wurden die Zeichen von einer jungen Frau geschrieben, die in jenem Bett liegt, auf welches das Zebrastreifenlicht fällt. Die Augen der jungen Frau sind geschlossen, ihre Haut ist weiß wie Schnee, ihr Kopf leicht nach links gerichtet oder gefallen. Ein sehr schöner Mund, das Haar von einem Kopftuch bedeckt. Die Ebenen unter ihren Augen erscheinen dunkel, Monde, Schattenmonde. Hände und Schultern liegen unter einer Decke verborgen, die hell ist, ein Laken. Kein Geräusch ist zu hören. Das Geräusch, das zu dem Film gehört, ist in dem Moment, da ich den Film angehalten habe, ausgefallen. Wenn man ein Geräusch anhält, hört man nichts. Das ist seltsam. Ich erinnere mich, dass da ein Geräusch gewesen war, kurz bevor ich den Lauf des Filmes stoppte, Stimmen auf einem Flur und ein Rauschen, ich nehme an, vom Fenster her. Die Augen der liegenden Frau waren geöffnet gewesen, dunkle Augen, und doch hell und weit. Sie erzählte, dass sie nicht wisse, wie sie hierhergekommen sei. Man habe ihr berichtet, dass man sie in einem Auto über die Grenze brachte, aber sie wisse das nicht mit Sicherheit, weil sie sich nicht erinnern könne. Ihre Beine seien fort. Und ihre beiden Kinder, Mädchen, seien tot. Und ihr Bruder. Und ihre Mutter. Aber auch das wisse sie nicht genau, man habe ihr das erzählt, aber sie könne sich nicht erinnern. Dann schloss sie die Augen. Und ich habe den Film angehalten. Ich habe den Film angehalten in genau dem Moment, da eine Fliege das Bild kreuzte. Kein Ton. — stop