kilimandscharo : 1.52 — Es ist heiß und schwül. Ein Ventilator dreht sich langsam über dem Tresen einer Bar. Zwielicht. Auf einem Hocker vor einem Glas Whiskey sitzt ein trinkender Mann, der bereits betrunken zu sein scheint. Wir befinden uns in Amerika irgendwo im Süden, ich glaube in Savannah. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, auch nicht in welchem Film präzise der trinkende Mann auf einem Stuhl vor einem Glas Whiskey sitzt. Das Seltsame, das Besondere an diesem Mann ist, dass um seinen Kopf herum Fliegen schwirren, die sich nicht entfernen, weil sie in irgendeiner Weise an dem Kopf selbst oder in seiner Nähe befestigt wurden, Fliegen, die sozusagen Gefangene oder Haustiere des trinkenden Mannes sind. Plötzlich fällt mir ein, dass sich diese Szene in dem Film Mitternacht im Garten von Gut und Böse ereignet haben könnte, den ich vor einiger Zeit beobachtet und in Besitz genommen hatte. Also suche ich nach der Szene im Film und entdecke bald einen hellen Ort, einen Imbiss, in dem ein Mann namens Lucer vor einem Tresen sitzt. Der Mann ist weder betrunken noch existiert ein Glas Whiskey, aber eine Tasse Kaffee. Um seinen Kopf herum schwirren Bienen, deren Körper nun tatsächlich an Fäden befestigt sind, welche wiederum mit Hemd und Hose des Mannes unmittelbar in Verbindung stehen. Einige Bienen haben auf dem haarlosen Kopf des Mannes Platz genommen, er scheint sich darüber zu wundern, dass man ihn beobachtet. In der 46. Minute der Filmzeit verlässt der Mann den kleinen Laden, um sofort wieder rückwärts einzutreten. Ich nehme an, ich erinnerte mich an diese Szene, weil ich gegen 22 Uhr eine Nachricht von Atombatterien gelesen hatte, die nicht stärker als ein menschliches Haar sein sollen und in der Lage, hunderte Jahre kleinere Maschinen mit Strömen zu versorgen. Das war in der Tat eine wunderbare Nachricht, weil ich jetzt ernsthaft über die Existenz künstlicher Taubenschwänzchen nachzudenken vermag, Wesen, die ein menschliches Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende als fliegende Satelliten begleiten und dokumentieren könnten. Wie sie nun in der Nacht leise summend dicht über den Schlafenden schweben und warten. — stop
Aus der Wörtersammlung: leben
alice austen
echo : 1.58 — Vor längerer Zeit einmal wollte ich ein Haus besuchen, das die Fotografin Alice Austen viele Jahre ihres Lebens bewohnte. Ich erinnere mich, es war ein bitterkalter Tag gewesen, Schnee bedeckte Staten Island, und die Luft war so eisig, dass selbst die Möwen nicht zu fliegen wünschten. Vermutlich deshalb, weil es so kalt gewesen war, blieb ich an der Railway Station Clifton im Zug, anstatt auszusteigen und ein paar Meter zu Fuß zu Austens Haus zu gehen. Ich fuhr weiter bis nach Tottenville, wo der Zug eine halbe Stunde wartete, um dann dieselbe Strecke zurückzufahren. Ein Angestellter der Bahngesellschaft dampfte wie eine Lokomotive über den Bahnsteig von Waggon zu Waggon, er schlug Eis von den Trittbrettern des Zuges. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, ließ er sich auf eine Bank fallen und schlief sofort ein. Auch auf meinem Rückweg zum Fährschiffterminal stieg ich in Clifton nicht aus, es war noch immer stürmisch, und ich vergaß das Haus, das ich besichtigen wollte, und Alice Austen, die tausende Fotografien Manhattans zu einer Zeit angefertigt hatte, da das Fotografieren noch Mut, Kraft und Ausdauer erforderte. Gestern habe ich ein wenig Zeit auf der Suche nach ihr verbracht. Sie soll als einzige Frau der Insel Besitzerin eines Automobils gewesen sein. Auf einer Fotografie ist ihre Lebensgefährtin Gertrude Tate zu sehen, wie sie stillhält. Die junge Frau sitzt auf einer Veranda, die heute noch existieren soll, umgeben von Blumen, einer Wildnis so wild, dass sie die nahe Küste verbirgt. Auf einer weiteren Fotografie, die ich noch nicht kenne, soll Alice Austen an derselben Stelle im Alter von 26 Jahren zu sehen sein, auch sie sitzend, eine Selbstaufnahme, unter einem Strauß Blumen verborgen ein Gummiball gefüllt mit Luft, die sie mittels einer kräftigen Bewegung ihrer Hand durch einen Schlauch zu ihrer Kamera gepresst haben musste, um die Lichtaufnahme auszulösen. Ein Geräusch vielleicht, wie ein Atemzug möglicherweise, oder ein Seufzen. — stop
slow
himalaya : 18.08 — Er schreibe, erzählte M., damit sich in seinem Leben nicht alles wiederhole, Tag, Nacht, Winter, Sommer, wenn ich erfinde und das Erfundene notiere, dann ist das so, als würde ich neues Land entdecken, das ich betreten, auf dem ich spazieren kann. Deshalb bleibe sein Leben spannend, es würde ihm wohl nie langweilig werden, auch wenn er sich wochenlang mit ein und derselben Frage beschäftigen würde, zum Beispiel, weshalb er noch nie eine Fliege bemerken konnte, die auf dem Rücken fliegen kann, obwohl sie doch längst erfunden worden sei. — Vor wenigen Minuten habe ich an M. seit langer Zeit wieder einmal gedacht, es war vielleicht deshalb gewesen, weil ich einen Film beobachtete, der von der Arbeit und dem Leben John Irvings erzählt. Der Schriftsteller erwähnt Folgendes: Jener Zeitraum, wenn ein Buch veröffentlicht wird, wenn alle Leute mit dir darüber reden, ist sehr kurz, es ist nach wenigen Monaten vorbei. Dagegen hat das Schreiben des Buches vielleicht vier, fünf, sechs oder sogar sieben Jahre gedauert. Und für das nächste Buch benötigt man dann wieder so lange. Durch das Ringen habe ich gelernt, dass man diesen langen Prozess lieben muss. Man muss es lieben, zu üben, dieselbe Bewegung hundertmal zu wiederholen, mit demselben langweiligen Sparringspartner. Es dauert lange, Zentimeter für Zentimeter, hier etwas durchstreichen, diesen Satz an diese Stelle, den Satz hier weg und dorthin schieben, die Leute würden einschlafen, wenn sie einem Schriftsteller bei der Arbeit zusehen, oder einem Ringer beim Training. Es war wichtig für mich, das zu lernen. — stop
unterm maulbeerbaum
delta : 18.12 — Helena erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Seiten, in dem von einem jungen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maulbeerbaum setzte, um seinen Pulsschlag zu zählen. Wie er nun gegen seine Müdigkeit kämpft, gegen das aufreizende Gefühl der Ameisenbeine, welche unter seinen Hosenbeinen spazieren, auch gegen Durst- und Hungergefühle, wie lange Zeit kann man so sitzen und zählen, nicht lange. Es war noch nicht einmal dunkel geworden, als der junge Mann aufstand und verschwand. Da war nun also ein Maulbeerbaum gewesen, irgendwo im Süden, ein paar Vögel außerdem, Hasen, Füchse, Eidechsen, Spinnen, Käfer und eine Erzählerin, die darauf wartete, dass der junge Mann wieder kommen und seine Pulse weiterzählen würde. Wie sie in ihrem Kopf Stunden, Tage, Wochen lang den Baum beobachtete, wie sie sich indessen einmal erinnerte an einen Freund, der verrückt geworden sein soll, weil er nicht damit aufhören konnte, Zeitungspapiere mittels Scheren zu zerlegen. Er sammelte Beweise für dies und das! Berge von Zeitungen soll er in seiner Leidenschaft für Beweissicherung zerlegt haben, auch unterwegs konnte er nicht damit aufhören, ein Seltsamer, der nur deshalb in Zugabteilen sichtbar wurde, weil die Papiere, die Zeitungen selbst damals, als er lebte, noch sichtbar gewesen waren. Heutzutage darf man, sagt Helena, in unsichtbarer Weise verrückt werden, fast alle sind wir schon längst verrückt, haben auf Computern Texte gesammelt, die wir niemals lesen werden, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Beweise. In ihrer Geschichte im Übrigen will sie eine weitere Erzählung versteckt haben, jedes einzelne Wort der Geschichte, auch ganze Sätze. Um welche Erzählung es sich präzise handelt, möchte sie nicht verraten. Die Erzählung soll von einer berühmten Schriftstellerin erfunden worden sein, eine wunderbare Miniatur. Sie wartet noch immer. — stop
vor neufundland 18:22:58 uhr : webstimme
alpha : 22.01 — Fiebertage. Ich meine, stürmischen Wind vor den Fenstern zu hören. Ein helles Geräusch weiterhin in meinem Kopf, leise, zu jeder Zeit. Einmal stehe ich auf, schalte meine Computermaschine an, entdecke eine Nachricht Noes. Tag 1498 im Taucheranzug vor Neufundland, Tiefe 84 Meter. ANFANG 18.22.58 | | | > ich höre das ticken einer uhr. s t o p ich könnte die zeit zählen. s t o p weitermachen. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e s t r a i g h t a h e a d. s t o p solange ich lache ist leben in meinem gehäuse. s t o p der duft der kirschblüten. s t o p von einem atemzug zum anderen. s t o p stark. s t o p süß. s t o p vielleicht flieder? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p ich stelle mir vor ich arbeitete im weltraum. s t o p grandiose idee. s t o p da ist etwas das nicht stimmt. s t o p eine menschliche stimme in meiner nähe. s t o p eine warme menschliche stimme so nah dass ich den luftzug spüre der sie webt. s t o p < | | | ENDE 18.24.28
galina
sierra : 16.28 — Gestern Abend, im Flughafenzug, erzählte Galina, die seit zehn Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebt, sie sei vor wenigen Wochen mit ihrer 85-jährigen Großmutter nach Ägypten ans Meer geflogen, ein Wagnis, ein Abenteuer, weil ihre Großmutter, eine federleichte Person, kaum noch auf ihren eigenen Füßen gehen könne. Man habe sie in einem kleinen, offenen Elektroautomobil vor das Flugzeug gefahren und das „uralte Mädchen“ mittels einer speziellen Hebebühne zu einer besonderen Tür am Heck des Flugzeuges transportiert. Dort sei sie winkend verschwunden, um ihrer Enkelin kurz darauf freudestrahlend mittels eines Rollators im Gang des Flugzeuges entgegenzukommen, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Die alte Frau, deren Name Galina nicht erwähnte, soll in ihrem Leben weit herumgekommen sein. Sie lebte in der Ukraine nahe Donezk, einige Jahre später zog sie nach Kirgisien weiter, auch dort, nahe der chinesischen Grenze, wurde die deutsche Sprache in einer Weise gesprochen, dass ich sie nur mit Mühe verstehen würde, bemerkte Galina. In Ägypten habe ihre Großmutter stundenlang bis zu den Schultern mit Wasser bedeckt im Meer gestanden, sie habe sich an einem Schwimmbrett festgehalten und gesummt und gewartet, dass die Fische zu ihr kommen. Ihr dreieckiges Kopftuch, das sie immerzu trage, habe sie indessen so gebunden, wie sie es von Grace Kelly lernte. Abends saßen die junge und die alte Frau in lindgrüne Bademäntel gehüllt im Hotelzimmer vor dem Bildschirm eines Notebooks. Sie waren via Skype mit Familienangehörigen in Donezk verbunden, immer wieder sei die Verbindung unterbrochen worden, einmal seien Detonationen zu hören gewesen, da habe sich ihre Großmutter ins Bett gelegt. Am nächsten Morgen schwebte die alte Frau wieder lange Zeit im Meer dahin. — stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR: „Die gewaltlose politische Gefangene Atena Farghadani befindet sich seit dem 9. Februar im Iran im Hungerstreik, um gegen ihre Haft zu protestieren. Nun schwebt sie in Lebensgefahr. Die Künstlerin befindet sich wegen ihrer friedlichen Aktivitäten in Haft, unter anderem hatte sie in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert. Die iranische Malerin Atena Farghadani trat am 9. Februar in einen Hungerstreik. Sie nahm fortan nur noch Wasser, jedoch keine Nahrung mehr zu sich. Hiermit will sie gegen die Fortdauer ihrer Haft im Gharchak-Gefängnis in der Stadt Varamin protestieren, in dem es keinen Trakt für politische Gefangene gibt und in dem die Haftbedingungen äußerst schlecht sind. Am 25. Februar gab ihr Rechtsbeistand an, dass Atena Farghadani als Folge ihres Hungerstreiks einen Herzinfarkt erlitten und kurzzeitig das Bewusstsein verloren habe. Sie gab an, ihren Hungerstreik solange nicht zu beenden, bis die Behörden ihrem Antrag nachkommen, sie in das Evin-Gefängnis in Teheran zu verlegen. Am 26. Februar wurde sie in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht. Atena Farghadani wurde zum ersten Mal am 23. August 2014 wegen ihrer friedlichen Aktivitäten festgenommen. Sie hatte Familien von politischen Gefangenen besucht und in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert, die einen Gesetzentwurf eingebracht hatten, der freiwillig durchgeführte Sterilisationen unter Strafe gestellt hätte und der Teil eines groß angelegten Plans ist, den Zugang zu Verhütungsmitteln und Dienstleistungen bezüglich der Familienplanung zu beschränken. Sie wurde fast zwei Monate lang im Trakt 2A des Evin-Gefängnisses festgehalten, davon 15 Tage in Einzelhaft. Zu ihrer Familie und ihrem Rechtsbeistand durfte sie keinen Kontakt aufnehmen. Am 6. November 2014 wurde sie gegen Zahlung einer Kaution freigelassen. Ihre neuerliche Festnahme am 10. Januar erfolgte nach der Vorladung eines Revolutionsgerichts, möglicherweise als Vergeltungsmaßnahme für ein Video, das sie nach ihrer Haftentlassung veröffentlicht und in dem sie erklärt hatte, wie Gefängnisaufseherinnen sie geschlagen und erniedrigenden Leibesvisitationen unterzogen sowie anderen Misshandlungen ausgesetzt hatten. Ihre Eltern gaben in Interviews an, dass Atena Farghadani vor ihrer Überführung ins Gharchak-Gefängnis noch im Gerichtssaal geschlagen wurde. Die Anklagen gegen sie lauteten auf “Verbreitung von Propaganda gegen das System”, “Beleidigung von Parlamentsabgeordneten durch Zeichnungen” und “Beleidigung des Religionsführers.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und bis spätestens 10. April, unter »> ai : urgent action
münchen — mariupol
echo : 22.01 — Einen Gegenstand mit Gedanken durchdringen. Haltbar machen. Eine Geschichte, eine schwierige Geschichte, zur Erfahrung notieren. Nicht im Schreiben liegt die Schwierigkeit, sondern darin, so zu leben, dass das zu Schreibende ganz natürlich entsteht. Etwas heute beinahe Unmögliches; aber ich kann mir keinen anderen Weg vorstellen. Dichtung als Entfaltung, Blüte, oder nichts. Alle Kunst der Welt könnte dieses Nichts nicht verbergen. Philippe Jaccottet. stop — Eine Reise von München nach Mariupol in Worten > Hauptbahnhof : Richtung Westen 300 m Links Richtung Bayerstraße abbiegen 53 m Rechts abbiegen auf Bayerstraße 500 m Weiter auf Landsberger Str. 900 m Rechts auf die Auffahrt nach A9/ Nürnberg/ Flughafen München abbiegen 250 m Auf Donnersbergerbrücke/ B2R fahren Weiter auf B2R 3,4 km Die Auffahrt Richtung Salzburg/ Passau/ Nürnberg/ Flughafen München/ A94/ bald in Tschechien. A9 nehmen 550 m Weiter auf Georg-Brauchle-Ring/B2R 46,9 km Am Autobahnkreuz 65-Dreieck Holledau rechts halten und den Schildern A93 in Richtung Hof/ Regensburg/ Wolnzach folgen 750 m Weiter auf A93 128 km Am Autobahnkreuz 28-Kreuz Oberpfälzer Wald rechts halten und den Schildern A6 in Richtung Prag/ Praha/ Waidhaus/ Vohenstrauß/ Tschechien folgen 33,7 km Sie sind Weiter auf D5/ E50 151 km Bei Ausfahrt 1 in Pražský okruh/ E50/ R1 Richtung Brno einfädeln 29,2 km Die Ausfahrt D1/ E65/ E55 nehmen1,0 km Auf D1/ E50/ E65 fahren 193 km Weiter auf Route 50/ D1/ E50 6,4 km Weiter auf D1/E462 19,1 km Bei Ausfahrt 230 auf R46/ E462 in Richtung Olomouc/ Ostrava/ Vyškov fahren 900 m Weiter auf E462/R46 36,4 km Bei Ausfahrt links in E442/ E462/ R35 Richtung Hranice/ Opava/ Ostrava/ Olomouc-Holice/ Route 35/ R46 abbiegenWeiter auf E462 45,7 km Weiter auf D Sie sind bald in Polen. 65,3 km >
holly
remington : 18.05 — Ich träumte, von einer Staten Island Fähre auf das offene Meer hinaus getragen worden zu sein. An Bord des Schiffes waren zahlreiche Menschen gewesen, sie fotografierten einander, manche lasen in einer Zeitung, andere tranken Kaffee aus Pappbechern oder telefonierten. Niemand schien sich zu wundern, dass die Fähre, hinsichtlich einer üblichen Reisedauer von 25 Minuten, nicht landete. Stunden vergingen. Einmal fegte ein Sturm über das Schiff hinweg, hunderte Möwen flatterten kreischend über die Decks. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte, als ich erwachte, eine Frau habe mir gegenüber Platz genommen. Ich meine, mich an ihren Namen erinnern zu können, ich glaube, sie hieß Holly. In diesem Augenblick, als ich die Augen öffnete, transferierte sie einen Text mittels eines Pinsels auf ein quadratisches Blatt Papier, das von mindestens 50 cm Durchmesser gewesen war. Sie trug eine Sonnenbrille sowie einen Sommerhut auf dem Kopf, außerdem ein helles Kleid, auf welchem vereinzelt Kirschen aufgedruckt worden waren, und schwere Wanderschuhe, deren Schnürsenkel sie nicht verknotet hatte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde schlief auch Holly ein, ihr Kopf neigte sich zur Seite, kurz darauf glitt das Papier, das sie beschriftet hatte, von ihren Schenkeln und landete vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konnte, was Holly notierte: Lesemaschine No. 82 / Dachgarten, 75, Greenwich Avenue Manhattan [ Schlüssel : Mrs. M. Linneker — 8. Stock ] > Die Geschichte von den Papiertierchen. Handzeichnung, ca. 68 pt: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, sollte bald einmal wach werden. — stop
radio
charlie : 0.08 — Gestern Abend hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand wollte mich wecken. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich dachte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch sehr schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop