tango : 8.58 UTC — Wenn ich Menschen, junge oder ältere Menschen frage, ob sie den Moment erinnern, da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Schuhe gebunden haben, sind sie erstaunt, nicht nur deshalb, weil ich mich nach einem weit zurückliegenden Ereignis erkundigte, sondern auch, weil sie nicht selten sofort in der Lage waren, eine Geschichte vom Schuhbinden zu erzählen. Menschen, welche sie lehrten, ihre Schuhe zu binden, auch die Farbe der Schuhe oder Orte, eine Treppe, die Küche oder ein Garten kehrten ins Bewusstsein zurück. Wer sich die Schuhe selbst zu binden vermag, kann das Haus verlassen, kann eine komplexe Figur mit Händen gestalten, überall auf der Welt scheint die Methode der Schleife zu existieren, ja, Schleifen sind komplexe Strukturen, die einerseits sich selbst erhalten mittels Umarmung, andererseits sich auf einen Zugwunsch hin sofort aus ihrer Bindung lösen. Ich selbst habe mich in Landau unter einem Apfelbaum auf einem Bänkchen von Holz sitzend in der Schuhbindung geübt, meine Damalsschuhe waren blau und rot, die Gänseblümchen weiss, der Löwenzahn gelb, die Luft roch nach Stall und meine Tante duftete nach Moos und 4711. Sie erzählte mir mit den Händen wie ich meine Schuhe zu binden vermag. Auch, dass zur Kriegszeit der Himmel im Westen leuchtete, rot am Abend und in der Nacht, das war die Stadt München in der Ferne, die brandet. — An diesem Morgen nun, es ist der 24. Februar 2022, beobachte ich eine Fotografie, die aufgenommen wurde, als ich noch schlief: Automobile, die die Stadt Kyjiw verlassen. Und in diesen Automobilen Menschen, deren Seelen brennen. — stop
Aus der Wörtersammlung: mich
eine schreibmaschine
echo : 15.15 UTC — Ich hörte, drei Jahre sind vergangen, von der Existenz einer mechanischen Schreibmaschine, die nicht größer sein soll als ein Stück Würfelzucker. Würde man diese sehr kleine Schreibmaschine mit bloßem Auge betrachten, würde man vermutlich sagen, das könnte der Form nach eine Schreibmaschine sein. Sie verfügt über Tasten, wie bei einer gewöhnlichen Schreibmaschine, sowie eine Walze, die Papiere zu transportieren vermag, auch über ein Farbband von Haaresbreite, und über Hämmerchen, an deren Enden Plättchen befestigt sind, auf welchen sich Zeichen befinden, die wir kennen. Wie, fragte ich mich, soll diese Schreibmaschine nur zu bedienen sein, wenn sie doch so klein ist, dass sie von einem menschlichen Finger ganz und gar zerdrückt werden könnte, oder verbogen, so dass sie nie wieder schreiben würde. Und überhaupt, wer hat diese Apparatur aus welchem Grunde in jener seltsamen Größe montiert? Man könnte mit ihrer Hilfe vielleicht in der Art und Weise Jack Kerouacs einen Text verfassen, könnte demzufolge einen sehr langen Text auf eine Luftschlange notieren, wenn man nur in der Lage wäre, die Tasten der Schreibmaschine in äußerst zärtlicher Art und Weise anzuschlagen. Eine Lupe scheint unverzichtbar. Auch dass die Schreibmaschine sicher sein muss, als wäre sie in härtester Nuss geborgen. — stop
homs vor jahren nah
papa : 0.28 — Vor wenigen Jahren entdeckte ich einen Film, der seltsamerweise einige Tage später auf der Position, da ich ihn ihm Internet bemerkt hatte, nicht länger anzutreffen war. Der Film, so wird erzählt, war von einer Drohne aus aufgenommen worden, einem künstlichen Vogel, der über und durch die Straßen der Stadt Homs gesteuert worden war. Beinahe hätte ich notiert, die Drohne, sie muss ein recht großes Gerät gewesen sein, sei durch die Straßen der Stadt geirrt, aber für dieses Wort irren flog die Drohne viel zu souverän herum und über Häuser hinweg, sie bewegte sich wie eine professionelle Filmdrohne einer Hollywoodproduktion, oder aber so, als wäre sie an einem luftgefederten Schwenkkran befestigt, sie bewegte sich erschütterungsfrei durch die Luft, keinerlei Druckwelle, kein Wind weit und breit. Was wir sehen, wenn wir diesen Film betrachten, ist eine fürchterlich zerstörte Stadt. Ich habe diese Art Verwüstung auf Fotografien gesehen der Stadt München oder Berlins oder Frankfurts, die im Jahr 1945 aufgenommen worden waren. Ich erinnere mich, man sah dort Menschen, die mit Eimern in langen Reihen hintereinander standen, um Steine in einer Kette zu transportieren, oder Menschen mit Kinderwagen, in welchen Kartoffelsäcke lagen, Menschen mit Rucksäcken und Menschen mit Koffern, die sie über Schuttberge wuchteten. Im mehrere Minuten andauernden Flug über und durch die Stadt Homs war jedoch kein Mensch zu erkennen. Mehrfach habe ich den Film vor und zurückgespielt, nein, kein Mensch war zu sehen, nicht ein einziger Mensch, so sehr ich meine Augen bemühte, nicht einmal Geister. — stop /Koffertext
tintenzeit
echo : 14.32 UTC — Am Telefon meldete sich ein Mann, der mir eine traurige Geschichte erzählte. Er sagte: Meine Frau ist seltsam geworden, sie wurde gerade eben 84 Jahre alt, vielleicht ist sie deshalb seltsam geworden. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mitternacht und sie hat aufgehört zu kochen, deshalb koche ich jetzt für uns beide, obwohl ich nie gekocht habe. Meine Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manchmal sagt sie, dass ich sehr gut kochen würde. Der Mann am Telefon lachte. Und ich erinnerte mich, dass ich vor Jahren einmal einen Ausflug zu einer Tante machte, die damals seit bereits über zehn Jahren in einem Heim lebte, weil sie sehr alt war und außerdem nicht mehr denken konnte. Es war Frühling und der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit weiteren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. — In diesem Augenblick hob ich meinen Füllfederhalter vom Papier, auf das ich meinen Text mit meiner rechten Hand notiert hatte. Es war sehr feines Papier, eines durch das man hindurchsehen kann, wenn man das Papier gegen etwas Licht hält, raschelndes Papier, Luftpapier. Ich hob meinen Blick, um gerade noch wahrnehmen zu können, dass sich das Wort Telefon aufzulösen begann. Zeichen für Zeichen verschwand das Wort von links nach rechts, kurz darauf löste sich auch das nachfolgende Wort vom Papier, dann ein ganzer Satz in etwa der Geschwindigkeit, mit der ich kurz zuvor noch geschrieben hatte. Das war doch seltsam gewesen. Und ich dachte noch: Du musst Dich beeilen, lieber Louis, schnell, schreib weiter. — stop
im zimmer. mitternacht
echo : 0.15 — Auf der Suche nach Danill Charms Textsammlung Fälle balancierte ich zur Winterzeit vor einem Bücherregal auf einem Stuhl. Es war Samstag. Ich erhoffte mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? — Ein bemerkenswerter Satz. — Wie ich bald von dem Stuhl gestiegen war und wieder auf dem Boden stand, hielt ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch war im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen worden. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Ich entdeckte, dass G. und J. gestorben waren, während P. damals noch lebte. Nun ist auch sie gestorben und auch Daniil Charms ist noch immer tot und sein Übersetzer Peter Urban seit 8 Jahren. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen nach wie vor 7° C. Wiederum Mitternacht Langsam spaziere ich wie vor Jahren durch das nächtliche Zimmer. Und während ich so gehe, erinnerte ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südlichen Friedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend gewesen. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich noch immer nicht erinnern, worüber wir gesprochen hatten. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied gewesen war. — stop
lichtauge
india : 22.12 UTC — Unter dem Dach im Zimmer meines Vaters stand ein Tisch, dessen Platte leuchtete, sobald man einen Schalter umlegte, der sich am rechen Vorderen der Beine des Tisches befand. Es war sehr helles Licht, welches dem Tisch innewohnte, es war heller als das Licht des Himmels, heller als der Schein meiner Taschenlampe bei Nacht, es war deshalb vielleicht in meiner Erinnerung ein außerordentlich strahlendes Licht, weil ich mich über dieses Licht wunderte, dass es überhaupt existierte, weil doch der Tisch keine Lampe, sondern eben ein Tisch gewesen war. Manchmal saß mein Vater dort vor diesem Tisch und arbeitete, indem er Dia-Fotografien in das Licht des Tisches legte. Er saß ganz still, tief über die gläserne Platte des Tisches gebeugt und betrachtete seine Fotografien mittels einer Lupe, die er dicht an den Tisch herangeführt hatte. Sein linkes Auge war geschlossen, sein rechtes Auge indessen klein geworden, indessen er durch das geschliffene Glas hindurch jene Welt betrachtete, die er aufgenommen hatte. Dieses beobachtende Auge meines Vaters, das er auf mich richtete, sobald er mich kommen hörte, war ein seltsames Wesen, hell, als ob es etwas von dem Licht des Tisches in sich aufgenommen haben würde, um nun selbst zu einer Lampe geworden zu sein. — stop
schallbecher
india : 22.07 UTC — Vor wenigen Tagen ist im hohen Alter ein Doktor gestorben, der mein Doktor gewesen war, als ich noch in kurzen Hosen im Sommer herumspazierte. Mein Knie, eine Wunde, war längt versorgt, da hatte ich noch den Duft des Jods in der Nase. Der Doktor kam manchmal zu mir nach Hause, wenn ich Fieber hatte. Er führte eine Ledertasche mit sich, in der seine Instrumente klimperten. Ich erinnere mich an die Kühle eines Schallbechers, wenn er nach Geräuschen in mir suchte. Sein Kopf war in diesen Momenten des Lauschens nah, kaum noch Haar, sehr fein und grau. Seine sanfte Stimme. Leise. Einmal war er als Privatmann zu Besuch gekommen. Anstatt eines Blumenstraußes für Mutter, führte er eine Glühsparlampe mit sich, die er in der Art und Weise überreichte, als wäre sie tatsächlich eine frische Blume, ein blühender Zierlauch, sagen wir, oder eine Kugeldistel. — stop
pripyat
echo : 21.08 UTC — Auf meinem Fernsehbildschirm sichtbar üben ukrainische Soldaten den Häuserkampf in der winterlichen Stadt Pripyat. Es ist Abend. Ich öffne mein Notebook, nähere mich in der digitalen Sphäre jener unheimlichen Stadt, Stadt eines Riesenrades, ich erinnere mich, ein Riesenrad in dieser seltsam einsamen Stadt. Da waren vor vielen Jahren noch Menschen gewesen, sie spazierten an einem sonnigen Tag durch einen Park, große Menschen und Kindermenschen kurz nach Havarie des nahen Reaktors. Da waren Blitze, Spuren starker radioaktiver Strahlung, die sich in das Filmmaterial, welches von den großen Menschen und den Kindermenschen erzählt, eingebrannt hatte. All das plötzlich wieder gegenwärtig an diesem Abend, da ich meine Bildschirmreise beginne. Ich komme von Süden, es ist Sommer. Winterbilder existieren von dieser nordukrainischen Landschaft nicht in den Magazinen der Google Earth Maschine, aber eben sommerliche Spuren, zwei Ströme, Juni 2015 und ein weiterer Strom, der im Sommer 2020 aufgezeichnet wurde. Je eine schnurgerade Straße kur vor dem Checkpoint Leliv. Im Juni 2015 kommen wir an, im Juli des Jahres 2020 fahren wir weiter durch die Wälder des Sperrgebietes kurz vor Tschernobyl. Die Straße ist gepflegt, jenseits der Straße zerfallende Häuser, auch Gebüsch von leuchtendem Grün. Plötzlich eine kleine Stadt, die ich in dieser Wildnis nicht erwartet hatte. Häuserblocks. Stromleitungen führen über Brücken. Menschen stehen in kleinen Gruppen am Straßenrand. Dann wieder Juni 2015, wir passieren das Denkmal derer, die die Welt gerettet haben. Da und dort Birken, auch rötlich gefärbte Gewächse. Und Schilder, gelbe Schilder, die vor Strahlung warnen. Da und dort Wolken himmelwärts. — stop
von der killerimpfung
nordpol : 20.18 UTC — Grad sind wir aus dem Zug gestiegen, stehen noch auf dem Bahnsteig. Sie will mir noch etwas sagen. Dass ich nur deshalb noch am Leben sei, weil jene erste und jene zweite Impfung, die ich erhalte habe im vergangenen Sommer, Köderimpfungen gewesen seien. Man tue so, als wäre mit den Impfungen alles in Ordnung. Eine Irrtum, fatal! Juden wurden von diesen verdammten Nazis damals auch getäuscht. Und jetzt geht das wieder los. Sie spricht mit leiser Stimme, sehr seltsam: Alle diese dummen Menschen, die noch gezögert haben, werden jetzt, heute, in dieser Minute, mit der eigentlichen, der tödlichen Dosis gespritzt. Dass ich bereits die dritte Impfung empfangen habe: Schade! Das war für Dich die Killerimpfung, jetzt machen sie den Sack zu. — Sie schaut mich ernst und traurig an. Ihr Rollkoffer quietsch ein wenig, wie sie davon geht. — stop
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 im 508 Stock bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Strasse getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop