nordpol : 2.55 — Beobachtete nachmittags auf meinem Fernsehbildschirm einen Blitz, der einen Abend zuvor von einer Handykamera aufgenommen worden war. Dieser Blitz ereignete sich in Istanbul zu einem Zeitpunkt, als ich gerade überlegte, ob ich in einem Buch lesen sollte oder besser noch etwas notieren über die Kirschholzwangen einer japanischen Frau, die ich gerade erfinde. Aber mein Kopf war in der feuchtwarmen Luft doch sehr langsam geworden, also stellte ich mich für zwei Minuten unter kaltes Wasser und als ich zurückkam und mein Fernsehgerät einschaltete, konnte ich sehen, was der Blitz, den ich erst einen Tag später mit eigenen Augen sehen würde, angerichtet hatte. Menschen lagen bewegungslos auf einer Straße herum und andere Menschen, die sich bewegten, versuchten jene Menschen, die lagen und sich nicht mehr bewegten, zu überreden, es ihnen gleichzutun, also zu atmen und weiterzuleben, als sei der Blitz nie geschehen. Da war das Geräusch von Ambulanzen, ein jaulender Ton, von dem ich häufig träume, und da war die Stimme einer amerikanischen Frau, die die Explosion zweier Bomben meldete, einer kleineren, lockenden Bombe und einer größeren, mordenden Bombe. Als ich gestern Nachmittag dann auf meinem Fernsehbildschirm jenen Blitz beobachtete, der so viele Menschen tötete, dass zwei Hände nicht ausreichen, sie mit den Fingern zu zählen, habe ich überlegt, ob ich nicht bald einmal wagen sollte, einen Attentäter zu erfinden, also mich in einen Attentäter zu verwandeln auf dem Papier, mich hineinzuversetzen in eine Figur, die Bomben legt, um Menschen zu töten. Ist es möglich, frage ich, mich in einen Attentäter so lange hineinzudenken, wie ich mich in eine japanische Frau hineindenke, eine japanische Frau mit einem kirschhölzernen Gesicht, ohne Schaden zu nehmen? — stop
Aus der Wörtersammlung: os
ein kind
marimba : 6.16 — In der Schnellbahn vom Flughafen wieder ein merkwürdiges Kind beobachtet. Das Kind saß auf dem Schoß der Mutter, hatte einen Schnuller im Mund und betrachtete Fahrgäste, die dort in seiner nächsten Nähe saßen oder standen. Alle waren sie müde, ein Langstreckenflug von New York her über den Atlantik lag hinter ihnen, das Kind aber schien gut geschlafen zu haben. Es hatte blitzblanke Augen von dunkelbrauner Farbe, und mit diesen Augen nun arbeitete es sich von einem Erwachsenengesicht zum nächsten. Wenn die Augen des Kindes ein Gesicht erreichten, verweilten sie eine gewisse Zeit lang, als ob sie sich das Gesicht für immer einprägen, oder aber als ob sie in dem Gesicht etwas finden wollten, nach dem gesucht werden musste. Wenn das Kind mit der Beobachtung eines Gesichts fertig geworden war, hüpften seine Augen auf das nächste Gesicht, und so weiter und so fort. Nie, ich meine, nie, solange ich das Kind und seine Augen beobachtete, kehrte sein Blick zu einem Gesicht zurück, das es bereits einmal besucht hatte, sodass ich behaupten möchte, dass seine Augen, das heißt, das Gehirn des Kindes, den Raum des Zuges systematisch untersuchte. Für eine Sekunde hatte ich den Gedanken, dass das Kind vielleicht ein uralter Mensch gewesen war, der rückwärts lebte, für den sich die Zeit umgekehrt hatte, der bald den Anfang seiner Existenz wieder erreichen würde, der noch einmal alles ansah, mit Kinderaugen, aber vielleicht einem uralten Gehirn. Wer aber, wenn ich dieses Gefüge weiterdenke, war diese müde Frau gewesen, auf dessen Schoss das Kind ruhte und schaute? – Weit nach Mitternacht. Habe den Verdacht, diese Geschichte schon einmal erzählt zu haben. Ein Déjà-vu. Werde mir sofort zur Beruhigung eine kleine Ente braten. — stop
fliegende arme
delta : 0.05 — Wieder kurz nach Mitternacht. Immer schneller laufen die Tage. Gerade eben entdeckte ich auf Karteikarte 705 eine Notiz, die ich am 7. März 2006 in einem anatomischen Präpariersaal vermerkte. Sie geht so: Heute beginnt die Präparation der Gesichter. Wilhelm, 21, erzählt, er habe von hautlosen Armen geträumt, die an Propellerflügeln hinter ihm her durch den Saal schwebten. Meistens schlafe er aber gut. Wenn Wilhelm einmal nicht schlafen kann, liest John Steinbeck. Das beruhige. — stop
käferwerfen
sierra : 22.31 — Regeln für das Werfen von Käfern an Sommerabenden. Ein türkisfarbener Rüsselkäfer, zum Beispiel, sollte möglichst nach acht Uhr nicht mehr geworfen werden. Er schläft dann schon und ist mit der Entfaltung der Flügel im Halbschlaf zu langsam. Dagegen sind schlanke Laufkäfer auch nach zehn Uhr abends, selbst im Dunkeln noch, problemlos durch die Luft zu schleudern. Pillendreher, gut gepanzert, stürzen sowieso, demzufolge jederzeit, vom Himmel. Marienkäfer kennen keine Regel, mal fällt einer, dann wieder nicht. — stop
yanuk : frogs
~ : yanuk le
to : louis
subject : LIGHT
date : july 12 08 6.15 p.m.
Lieber Mr. Louis, ich schreib Dir noch rasch, bevor die Dunkelheit wie ein nasses Tuch vom Himmel fallen wird. Ist Dir bekannt, dass ich seit bald zweihundert Tagen auf Baum No 728XZ sitze, ohne einmal den Erdboden berührt zu haben? Viel Zeit habe ich in den vergangenen Wochen damit verbracht, mein Zelt gegen das Licht der Sonne abzudichten. Werde fortan versuchen, am Tag zu schlafen und nachts meinen Forschungsarbeiten nachzugehen. Bin zufrieden, habe viele neue Wesen entdeckt, aber die Hitze setzt mir zu, und das Licht scheint doch eine Flüssigkeit zu sein, die durch den kleinsten Spalt fließen und mein Zelt auszufüllen vermag. Vielleicht ist das Licht deshalb nicht auszuschalten, weil ich weiß, dass es dort draußen, vor meinem Zelt unter dem Mantel von Blättern, hell ist, oder weil Licht in meinem Kopf brennt, das ich nicht zu Ende denken kann. Und doch, mein lieber Louis, bin ich glücklich. Dank Dir herzlich für den feinen Simmons Text. Das erste Buch, das ich per E‑Mail erhalten habe. Ich bin natürlich bislang nicht sehr geübt im Lesen vor Bildschirmen und die Falter setzen mir zu. Sie haben die Größe meiner Hände, sind staubig und zu schwer für die Zungen der Frösche, die in meiner Nähe sitzen und warten, dass ich mit meinen Selbstgesprächen beginnen werde. Manchmal habe ich das Gefühl, bereits seltsam geworden zu sein. Vielleicht bin ich ein erfundenes Geschöpf? Wirst Du schreiben, sobald Du etwas Verrücktheit bei mir findest? – 6.12 p.m. 32 °C. 97 Prozent Luftfeuchte. Position 1°38’S 61°42’W — Yanuk
eingefangen
22.05 UTC
1538 Zeichen
himmelbahn
romeo : 1.15 — Überlegte, was wäre, wenn ich einmal meine Sprache verloren haben würde, wenn eine Ameise vor einer nunmehr sprachlosen Person über einen Tisch spazierte? Was würde ich noch denken, wenn ich dieses Tier sehe, aber kein Wort für seine Erscheinung in meinem Kopf entdecken könnte? Ich müsste vielleicht ein Wort erfinden in diesem Moment, um das Ameisentier wahrzunehmen, das heißt, über das Tier nachdenken zu können. Vielleicht würde ich mich an das Wort Eisenbahn erinnern. Vielleicht würde ich sagen, das ist eine kleine Eisenbahn, die über den Himmel laufen kann. — stop
nachtzeppelin
whiskey : 5.25 — Seltsame Lufterscheinung heute Nacht. Warm war’s bis 1 Uhr, dann plötzlich kühl bis 2, dann wieder warm. Arbeitete bei geöffneten Fenstern, hörte Duke Ellington, überlegte einen Brief an Daisy Hilton. Vielleicht ist ein kühles Objekt lautlos über die Stadt geflogen, ein Nachtzeppelin, oder ein Schwarm sehr kalter Faltertiere, vollkommen unbekannte Wesen, oder aber alle Eisspinnen der Stadt, so wie sie im Geheimen in jedem Kühlschrank existieren, haben ihre Boxen verlassen und sich zum Plaudern draußen vor den Fenstern getroffen. Wer könnte schon sagen, was genau geschehen ist in dieser Stunde mit ihrer seltsamen Luft? Haben doch fast alle Menschen geschlafen. — Es ist 7 Uhr morgens. Ich leg mich jetzt nieder. Gute Nacht. — stop
eisenbahn
nordpol : 15.02 — Als ich gestern Nachmittag mit einer Suchmaschine in Sammelordnern des Jahres 2003 nach Notiztexten forschte, die ich in den Tagen des Irakkrieges notiert haben könnte, entdeckte ich eine Passage, die von einem Loch in meinem Perserteppich erzählt. Ich konnte das Loch damals von meiner Position aus als Beobachter auf dem Sofa vor dem Fernsehbildschirm gut erkennen. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, dieses Loch nun plötzlich zu betrachten, obwohl ich viele Jahre die Verletzung des Teppichs, eine Scharte von der Breite einer Hand, nicht wahrgenommen hatte. Ich glaube, ich hatte die Geschichte, die davon erzählt, wie das Loch in den Teppich gekommen war, ganz einfach vergessen. Aber dann war sie plötzlich gegenwärtig, weil ein amerikanischer Panzer während einer Liveaufnahme in Bagdad ein Hotel beschossen hatte, in dem sich Journalisten befanden. Die Granate des Panzers traf einen Balkon und auf diesem Balkon einen Kameramann, dessen Körper, der noch heftig blutete, mit dem Aufzug ins Foyer gefahren wurde. Eine Stimme auf dem Bildschirm kommentierte das Geschehen mit dem Satz, der Journalist habe sich im falschen Moment am falschen Ort befunden. Und da war nun jene Geschichte von einer Sekunde zur anderen Sekunde wieder in mein Bewusstsein zurückgekehrt, die Geschichte, die vom Loch in meinem Perserteppich erzählte. Ich saß auf dem Sofa und notierte, dass ich mich wundere, und ich betrachtete den Teppich und das Loch, das von dem Splitter einer britischen Granate im Jahr 1942 in das Gewebe gerissen worden war, und für einen Augenblick sah ich meinen Vater, ein Kind, wie er auf diesem Teppich, der sein Teppich gewesen war, spielte, vielleicht mit einer Eisenbahn aus Buntmetall, die er gerade noch rechtzeitig aufgehoben haben könnte und mitgenommen in den Luftschutzkeller. — stop
blutgefäss
romeo : 0.05 — Einmal, an einem heißen Sommerabend, habe ich eine Stadt durchwandert. Sie lag bereits unterm Nachtzeppelin, weshalb ich nicht sofort bemerkte, dass an der Innenseite meines linken Oberschenkels ein voluminöses Blutgefäß aus der Fassung gesprungen war. Der seltsame Eindruck, während ich spazierte, ein kleines Tier würde mich kosend berühren. Kurz darauf notierten Fahrgäste eines U‑Bahnwagons, ich würde, derart weit geöffnet, vielleicht bald ernsthaften Schaden erleiden. Und tatsächlich, da war ein Schlauch von dunkelblauem Gummi, der nahe meiner Leistengegend unruhig durch die Luft zappelte. Ich konnte seine Bewegung gut erkennen, weil ich, weiß der Himmel warum, insgesamt nicht bekleidet gewesen war. Eine ältere Dame, eine Ärztin, nahm dann Platz in meiner Nähe. Mit bloßen Händen erweiterte sie meinen Schenkel bis hin zum Knie, sodass weitere Schläuche aus dem Oberschenkel fielen, die sie sortierte, während sie gelassen eine Melodie vor sich hin summte. Da waren Strukturen, kein Blut, in gelber, in roter, in grüner, in blauer Farbe. Indem sie an einem der geschmeidigen Röhrchen zog, an einem filigranen Gefäß, nein, an einem hauchdünnen Seilzug, sandfarben, schloss sich das Linke meiner Augen gegen meinen Willen, und die Ärztin lachte und sagte, schau her, wie schön bunt Du doch bist. Wenn ich hier ein wenig ziehen werde, machst Du auch noch das rechte Auge zu. Dann wach. — Heute ist Sonntag, bald wieder Nacht. Geträumt habe ich bereits am Samstag. — stop
nachtmensch
romeo : 0.08 – Manche Menschen, zum Beispiel, wenn ich ihnen nachts auf der Straße begegne, grüßen mich, als würden wir uns gerade im Hochgebirge oder in einer anderen Wildnis befinden. Wir setzen uns dann auf die nächste Bank, tauschen ein wenig Proviant und die letzten Nachrichten aus, und fühlen einander verbunden, sagen wir, durch den Mangel an Licht. Andere Menschen wiederum fürchten sich vor mir, wie jene uralte Dame mit ihrem noch älteren Hund, sie fletscht die Zähne, sobald sie mich sieht gegen drei Uhr auf dem Adornoplatz. Vielleicht gehört sie bereits in den heranrückenden Morgen, ist Tagmensch, nicht Nachtmensch, hält mich für lichtscheues Gesindel. Obwohl ich ihr längst in meiner ganzen Harmlosigkeit bekannt sein müsste, doch stets dieselbe urmenschlich drohende Haltung. Vielleicht ist sie halbwegs schon blind geworden. Oder aber ich werde vergessen, immer wieder vergessen, einmal um die eigene Achse gedreht, und schon bin ich zu weiterem taufrischen Schrecken geworden.