tango : 23.15 — Im Regen mit Tonbandgerät unter dem Schirm am See. Samstag. Augustkastanien fallen aus den Bäumen. Auf den Häuptern der Rotwangenschildkröten, die sich zu meinen Füßen arglos versammeln, als lauschten sie wie ich Magnetkopfstimmen, feuchte Häubchen von Ahornsamen. Kaum ein Mensch unterwegs. Ich dachte für einen Moment, weiß nicht wie das gekommen ist, dass ich an diesem Ort ohne Zeugen sofort den Versuch unternehmen könnte, eine der Schildkröten an ihrem Hals zu packen, sie aus dem Wasser zu heben, um sie zu Hause in der Küche mit einem Meißel zu öffnen. Auf Porzellan gebettet kurz darauf ein Reptilienhäufchen, rosafarben, feinste Streifen Schildkrötenbauches, dessen eigentliche Gestalt ich mir hinter Panzerhäuten liegend zurzeit nicht vorstellen kann. — 22 Uhr 58. Janine erzählt: > Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich nachts aufwachte und den haarlosen Kopf meines Freundes vor mir gesehen habe. Ich erschrak fürchterlich. Ich saß ein paar Minuten senkrecht im Bett, dann bin ich aufgestanden. Wir haben eine sehr schöne Küche. Ich habe von Zeit zu Zeit in der Küche kampiert. Ich habe dort gelernt und manchmal bin ich mit dem Kopf auf dem Anatomieatlas eingeschlafen. Merkwürdig, über wie viel Kraft ich doch verfüge. Ich war beim Tanzen, zweimal wandern in den Bergen, ich habe gepaukt und ich habe mit dem Skalpell gearbeitet. Ich habe vormittags und mittags und Abend für Abend in der Bibliothek gelesen. Und wenn ich nachts in der Küche eingeschlafen bin, dann waren da plötzlich sehr scharfe Bilder in meinem Kopf. Aufblitzende Fotografien, die überfallartig Angst erzeugten. Der geöffnete Mund eines Toten. Sandige Zungen. Ein hoch aufragender, dunkelroter Penis. Das zerteilte und gehäutete Gesicht einer alten Frau. Das war nicht geträumt, ich habe diese Bilder bei vollem Bewusstsein vor mir gesehen. Jetzt kommen sie mich seltener besuchen. — stop
Aus der Wörtersammlung: rinne
PRÄPARIERSAAL : skalpell
romeo : 3.05 — Ich habe das Fauchen eines Schwans gehört. Zunächst war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich mich nicht vielleicht geirrt haben könnte, ein Nachgeräusch, dachte ich, ein Schatten in den Ohren, wie in den Augen Nachbilder entstehen, weil ich am Abend wirklichen, fauchenden Schwänen im Palmengarten begegnet war. Also spulte ich das Band zurück und hörte noch einmal genauer hin, und da war das luftige Geräusch tatsächlich wieder zu hören gewesen, in einer Atempause Emilys, deren Stimme ich im Nymphenburger Schlosspark aufgezeichnet hatte. Sie wollte Spazierengehen. Sie hatte gesagt, sie könne sich besser konzentrieren in Bewegung, vor allem besser schweigen, nachdenken im Gehen. Winterzeit, Schnee lag hoch bis zu den Knien und die Schwäne fauchten hungrig. Emily nun, so wie sie gesprochen hatte, ohne Pausen an dieser Stelle, weil ich ihr Schweigen in den Zeichen entfernte: > Bevor ich erzähle, wie ich die Öffnung des Körpers erlebt habe, möchte ich erwähnen, dass dieser erste Tag und auch der zweite Tag für mich nur schwer zu ertragen gewesen sind. Ich war beeindruckt von der großen Zahl der Tische, die in den Apsiden standen. Ganz ehrlich, ich war eingeschüchtert. Ich fühlte mich unsicher und unbedeutend und ich glaube, viele andere haben sich selbst auch so wahrgenommen. Man will das natürlich nicht zeigen. Man wünscht sich, souverän zu sein. Aber ich musste mich überwinden, den Körper überhaupt nur zu berühren. Da war ein Widerstand in mir, dem ich bis heute noch nachspüren kann Ich habe mehrere Versuche unternommen und hatte plötzlich große Angst, dass ich das überhaupt niemals könnte. Aber meine Freunde am Tisch waren sehr verständnisvoll. Sie haben mich nicht gedrängt und auch unser Tischassistent nicht. Er sagte, dass das ganz normal sei und dass ich mich beruhigen solle und ganz ruhig atmen. Ich hatte eine irgendwie verzerrte Wahrnehmung, alles war so laut um mich herum und ich bekam schlecht Luft. Ich bin dann erst einmal aus dem Saal geflüchtet. Eine Freundin hat mich begleitet und wir sind auf dem Flur hin- und hergelaufen. Und dann wollte sie zurück und ich folgte. Ich erinnere mich an den grünen Kittel unseres Assistenten. Er beugte sich gerade über den Körper des Toten und zog das Skalpell vom Kinn in Richtung des Nabels. Ich wunderte mich, dass man gar nichts hören konnte. Verstehen Sie, ich kann mir heute noch nicht erklären, warum ich ein Geräusch erwartet habe. Man konnte auch keine Spuren eines Schnittes erkennen. Dann ist etwas Merkwürdiges mit mir geschehen. Ich habe meine Position am Tisch wieder eingenommen, das heißt, ich habe mich wieder zu meiner Gruppe gestellt. Ich habe meine Handschuhe angezogen, mein Skalpell ausgepackt und meine Pinzette und dann habe ich angefangen zu arbeiten. Ich will das so sagen, ich habe den Körper auf dem Tisch zunächst mit dem Skalpell berührt und dann mit meinen Händen. Ich war sehr glücklich gewesen, dass ich mich überwinden konnte. Immer wieder ist aber das Gefühl einer gewissen Unwirklichkeit zurückgekehrt, der Eindruck an diesem Ort deplatziert zu sein, fremd oder so etwas. Sobald ich dann etwas getan habe, wenn ich gearbeitet habe, wenn ich also präpariert habe, ging das gut mit mir. Ich glaube, ich war eine von jenen, die stets tief über das Präparat gebeugt waren, ich bin sehr schnell in den Saal zum Tisch gelaufen, und wenn ich fertig war, habe ich den Saal so rasch wie möglich wieder verlassen.
PRÄPARIERSAAL — so haben wir angefangen
delta : 22.20 — Sobald ich mein Tonbandgerät betrachte, wenn ich beobachte, wie sich zierliche Rädchen hinter einer Scheibe bewegen, Lust, die kleine Maschine auseinanderzunehmen, alles zu betrachten und dann wieder zusammenzusetzen, auch wenn vielleicht Jahre vergehen, bis die Zusammenhänge der Maschine wieder fehlerlos hergestellt sein werden. An diesem Abend, da im Hintergrund eine weitere, eine digitale Tonbandmaschine Joshua Redman wiederholt, ist alles noch in Ordnung, unberührt, sagen wir. Tom erzählt: > Man geht also vorsichtig los, man kommt durch eine Klapptür in den Saal und sieht sofort, dass da sehr viele Menschen sind. Ich hatte zunächst ein paar Probleme damit, die Knöpfe meines Kittels in die Finger zu bekommen, weil ich einen Atlas unter den Arm geklemmt hatte und ein Paar Latexhandschuhe in der einen Hand und in der anderen meinen Werkzeugkasten, eine hölzerne Schachtel mit Pinzetten und Skalpellen. Ich habe mir gedacht, du musst jetzt nicht besonders souverän sein, mein Junge, sondern zunächst einmal deinen Tisch finden und deine Leute und dann wirst Du ganz einfach anfangen. Also bin ich gleich nach links gelaufen, weil ich wusste, dass ich in einer Abteilung arbeiten werde, die links liegt, wenn man das von der Tür aus betrachtet. Aber dann hatten wir natürlich keine Ahnung, wie wir anfangen sollten. Wir standen um einen Tisch herum und haben zunächst einmal abgewartet. Wir waren acht Leute. Weil wir uns noch nicht alle kannten, haben wir uns erst einmal vorgestellt. Vielleicht bekomm ich sie grad schnell zusammen. Da war, zum Beispiel, Mika, eine Norwegerin, und Michael, der mir am Tisch gleich gegenüber arbeitete, und Susan, die sich ein Tuch um ihren Kopf gebunden hatte, damit das Haar ihr nicht ins Gesicht fallen konnte. Und da waren Zue natürlich, eine Afrikanerin von der Elfenbeinküste, die uns nicht immer verstehen konnte, weil sie die englische und französische Sprache flüssiger sprechen konnte als die deutsche Sprache, und Ismene, eine Griechin, die uns sofort erzählt hatte, dass sie Chirurgin werden wolle. Ich erinnere mich, Ihre Augen waren stark gerötet, vielleicht weil ein scharfer Geruch in der Luft hing, irgendetwas, das die Augen reizte. Ich konnte diesen Geruch bereits auf der Straße wahrnehmen, und später, am Abend, zu Hause, hatte ich ihn an den Händen. Kurzum, wir haben dann also gewartet. Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir so gewartet haben. Das war eine seltsame Situation. Wir haben uns immer wieder angelächelt. Ich glaube, wir waren alle sehr verlegen und standen zu diesem Zeitpunkt unter einer großen Spannung. Der Tisch hatte die Nummer 4/12. Eine rote Plane war über diesen Tisch ausgebreitet und wir konnten eine Kontur erkennen, eine Erhebung. Wir wussten, dass da ein Körper lag und dass dieser Körper eher klein sein musste, zierlich, sagen wir. Ich hatte die Vorstellung, dass dort unter der Decke eine Frau liegen könnte. Und ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment überlegte, ob das Geschlecht des Körpers, den ich in den kommenden Wochen auseinander nehmen würde, eine Bedeutung für mich haben würde oder nicht. Und dann ging alles sehr schnell. Unser Coassistent kam zu uns an den Tisch und erkundigte sich, ob alles o. k. sei. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute jeden einzelnen von uns an und lachte sehr freundlich. Wir haben dann damit begonnen, das rote Tuch vom Tisch zu nehmen. So haben wir angefangen.
eine nase
nordpol : 22.20 — Auf einem anatomischen Beobachtungskärtchen, das mit der Nummer 572 versehen ist, folgende Notiz: Selbstverständlich besitze ich eine Nase. Ich habe mich über diesen Satz, den ich handschriftlich mit Bleistift notierte, gewundert, weil ich mich nicht erinnern konnte, in welchem Moment mir dieser Satz wichtig gewesen zu sein schien. Vielleicht, denke ich in dieser Minute, wollte ich mich daran erinnern, bei Gelegenheit einmal über die Bedeutung des Wortes Besitz im Zusammenhang des eigenen Körpers nachzudenken. — stop
PRÄPARIERSAAL : zeppelin
echo : 2.16 — Wallstreet gestern Abend auf Fernsehbildschirm. Hinter einem Reporter, der vom abwärts strebenden Verhalten der Kurse erzählte, warteten japanische Menschen. Sie winkten fröhlich in die Kamera, grüßten, fächelten sich Luft zu mit fleischfarbenen Zeitungspapieren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dachte ich, würde ich südwärts laufen zur nahegelegenen Hafenstation, würde mich auf das obere Deck eines der alten Fährschiffe begeben, würde bald im kühlenden Fahrtwind sitzen, eine Coke in der linken, eine Teigtasche mit Hummerfleisch in der rechten Hand, das Tonbandgerät in der Tasche und Mels Stimme im Kopfhörerohr, wie sie erzählt von anatomischer Zeit. — 2 Uhr und zwanzig Minuten. Regen. Blitze. Donner. Gerade eben hörte ich mich selbst, meine eigene Stimme. Ich formulierte vorsichtig eine Frage, wollte wissen, ob Mel sich im anatomischen Saal gefürchtet habe? Nein, antwortete Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekunde lang vor den Toten gefürchtet. > Ich hatte in diesen 6 Wochen keine Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf meine Aufgabe konzentriert. Ich habe mich vor Testaten ein wenig gefürchtet, und ganz am Anfang vielleicht davor einmal rasch umzufallen. Nur deshalb hatte ich wirklich Angst, umzufallen, das heißt nicht arbeiten zu können, aber davon erzählte ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau überlege, dann kann ich mich nicht erinnern, dass im Präpariersaal überhaupt irgendjemand umgefallen ist. Vielleicht musste man mal aus dem Saal gehen und sich setzen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschlafen hatte und deshalb müde war und weil die Augen brannten vom Formaldehyd in der Luft. Aber umgefallen, ich meine, ohnmächtig geworden, davon habe ich nichts mitbekommen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch präparierte, hatte ich bisweilen den Eindruck, dass dieser Saal nicht wirklich war. Ich konnte meine Eindrücke nicht mit der Straße, über die ich nach Hause spazierte oder mit den Gesprächen der Menschen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Verbindung bringen. Ich hatte den Eindruck, dass der Saal, dass die ganze Situation irgendwie frei schwebte, also ganz für sich war, isoliert. Und so reiste ich also hin und her, von da nach dort und wieder zurück, aber das war nicht schwer gewesen, so hin und her zu springen. Ich habe von dem ein oder anderen meiner Freunde gehört, dass sie Albträume gehabt hätten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Ich glaube, ich war in irgendeiner Weise geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, vielleicht war es die Dichte der Aufgaben, die mir gestellt waren. Ich hatte keine Zeit, lange über diese merkwürdige Situation nachzudenken. Ich meine, ich habe nicht lange darüber nachgedacht, dass ich, Mel, hier den Körper einer alten Frau so lange zerlege und betrachte, dass er fast verschwunden sein wird, wenn ich fertig sein werde. Ja, – es war sehr viel zu tun. Das hat es leichter gemacht.
PRÄPARIERSAAL : kreide
delta : 22.56 — Gewitterhimmel. Abend. Moskitofische segeln von Zimmer zu Zimmer. Seit zwei Stunden Julian, seine tiefe Tonbandstimme. Seltsam ist, dass ich mich an Julians Gesicht nicht erinnern kann. Zeit und Ort der Tonbandaufnahme, ein kleines Café in Schwabing zu München, sind hingegen sofort erreichbar. Samstag. Winter. Sobald sich die Tür des Cafés öffnete, wehte Schneewind herein. > Wir haben zunächst das Präparat auf dem Tisch herumgedreht. Aber das sagt sich so leicht. Man kann das Präparat nicht alleine herumdrehen. Das Präparat ist zu schwer, um von einer Person auf einem schmalen Tisch herumgedreht werden zu können. Wir haben das Präparat gemeinsam bewegt. Ein intensiver Moment. Wir schwitzen. Wir halten den Atem an. Das Präparat ist feucht. Eine Hand hält den feuchten Kopf des Präparates, eine weitere Hand einen feuchten Arm, Hände halten feuchte, kühle Schenkel, einen feuchten, kühlen Rücken, einen feuchten, kühlen Nacken. Wir haben noch nicht an Tiefe gewonnen, wir haben noch keinen Schnitt gesetzt. Wir sind noch am Anfang. Wir sind noch am ersten Tag. Wir haben noch nicht darüber geschlafen. Ich sehe, wie ich ein Stück Kreide in die Hand nehme. Ich nehme dieses Stück Kreide in die rechte Hand. Mit der linken Hand taste ich über den Rücken meines Präparates. Ich ertaste Untiefen, Knochen, feste Strukturen, die meinen Fingern Orientierung bieten. Sobald ich mit der linken Hand eine Untiefe, einen Knochenpunkt ertastet habe, ziehe ich mit der rechten Hand einen Kreis. Wenn ich mit der Kreide den Körper berühre, gibt der Körper nach. Mein Finger ist ein Werkzeug des Tastens, die Kreide ein Werkzeug des Beschreibens. Ich zeichne dem Präparat die Form eines Herzens auf die Brust. Ich zeichne einen Magen auf den Bauch. Ich zeichne in die Tiefe eine Niere links, eine Niere rechts. Ich habe die Vermutung eines Herzens, ich habe die Vermutung eines Magens, ich habe die Vermutung einer Niere da und einer Niere dort. Das Präparat ist ohne Geräusch. Es ist merkwürdig, alles scheint schon sehr lange her zu sein, und doch habe ich den Eindruck, dass kaum Zeit vergangen ist. Das Präparat auf dem Tisch, dieser Mensch, ist fast verschwunden. — stop
PRÄPARIERSAAL : namen
marimba : 22.51 — Feuchte Fliegen lungern am Abend auf dem Boden herum. Das sanfte, einschläfernde Geräusch des Wassers, Dunkelheit kommt bald aus den Wolken gefallen. Unter dem Schirm dort weiter anatomische Tonbänder verzeichnet. Veronika* erzählt eine feine Geschichte, die ich beinahe genau so wiedergebe, wie ich sie vor wenigen Minuten hörte: > Ich stehe vor einem Tisch und betrachte einen Körper. Das ist ein Bild, das ich nicht erfunden habe, ein Bild, das jetzt zu meinem Leben gehört. Eine Frau, die in einem weißen Kittel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursachen dieses Todes nichts zu tun, ich empfinde keine Trauer, aber Respekt. In den ersten Minuten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geordnet, nicht systematisch jedenfalls nachgedacht. Ich glaube, ich habe zunächst versucht, ein Gefühl, ein geeignetes Gefühl für diese Situation zu finden, eine Position, meine Position. Kurz zuvor waren wir noch im Hörsaal gewesen. Unser Professor hatte ein Präparat mitgebracht. Dieser helle Körper, der weit entfernt in einem Oval unter den hoch aufragenden Sitzreihen auf einer Bahre lag, hatte etwas Einsames an sich. Als ich mich dann an meinem Tisch stehend über den Körper eines Mannes beugte, den ich in den folgenden Wochen zerlegen würde, suchte ich unwillkürlich nach Spuren, die zu einer Vorstellung führen könnten, wie er einmal lebte. Aber da war nichts, was mich mit seiner Zeit noch verbinden konnte, kein Name. Das Haar des Mannes war entfernt, an seinen Ohren waren hölzerne Schilder angebracht, auch an seinen Handgelenken und an seinen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Ich erinnere mich, der Mann wirkte weder friedlich noch so, als würde er nur schlafen, da waren weder Zeichen einer langen Leidenszeit noch Spuren eines Kampfes. Das Gesicht war leblos, ein Gesicht ohne Ausstrahlung, ohne Elektrizität. Der Körper erinnerte mich an eine große Puppe, er hatte etwas Schematisches, aber vielleicht war das bereits mein Blick, meine Perspektive gewesen, die diesen Eindruck erzeugte? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konnte das bald gut, diesen Mann, diesen Körper betrachten. Ich war ganz entspannt dabei. Ich wusste auch, dass sich dieser Körper sehr rasch verändern würde in der Folge meiner Arbeit. Ich war der festen Überzeugung, dass wir dem Toten keinen Namen geben sollten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wusste, wie sein Name lautete, als er noch lebte. Ich habe, kurzum, versucht, diesen Körper auf dem Tisch als ein Präparat zu betrachten, als eine für uns kostbare Hülle, als ein Vermächtnis. Meine Kommilitonen haben ihm einen Namen gegeben, aber wir haben uns deshalb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz einfach nicht beteiligt. - stop
* Name geändert
regentaucher
sierra : 18.55 — Ich habe Geräusche entdeckt, Töne, die viele Jahre zurück einmal in meinem Leben existierten. Ich lag damals oft auf dem Rücken in einem Wagen, der schaukelte. Groß war ich zu jener Zeit noch nicht gewesen, ich war nicht länger als 50 cm. Meistens trug ich keine Schuhe. Ich erinnere mich, dass die Wolken und der Himmel über mir schaukelten, und da war ein hölzernes Röhrchen, von dem weitere hölzerne Röhrchen baumelten, die klimperten, helle Geräusche, während sich der Wagen und ich bewegten, oder auch dann helle Geräusche, wenn der Wagen angehalten war, weil ich sofort mit meinen kleinen Händen nach den Röhrchen langte. Jetzt, da ich jene entfernten Geräusche erinnerte und ihre Entstehung, kann ich sie beliebig zur Aufführung bringen, obwohl sie so unmöglich in der Wirklichkeit sind, wie Geräusch des Regens für einen Tiefseetaucher unerreichbar. — stop
kokons
echo : 22.58 — Im botanischen Garten das leise, das Nichtdenken geübt. Ich legte mein Ohr auf einen hölzernen Tisch und dachte nichts. Aber da war etwas merkwürdig: Mein Ohr auf dem Tisch hörte sich selbst. Und das andere, zum Himmel gerichtete Ohr, erlebte den Besuch einer Ameise. Also dachte ich doch an die Ameise, wie sie meine Ohrmuschel untersuchte. Wie gut, an Ameisen und an nichts Weiteres denken zu müssen. Dann schlief ich ein. Als ich erwachte, dachte ich sofort weiter an nichts. Die Ameise war verschwunden, aber ich hörte mein Ohr auf dem Tisch, und ich hörte den Gesang einer Nachtigall, die zunächst geschwiegen, dann aber meinen Besuch vielleicht vergessen hatte, weil ich reglos zu einer Pflanze unter anderen Pflanzen geworden war. Ich fragte mich, denke ich, indem ich der Stimme eines Vogels lausche? Ist das Denken nur dann gedacht, wenn ich meiner denkenden Stimme zuhöre, mich und meine denkende Stimme also wahrnehme? Immer wieder bemerkt, dass ich Sekunden zuvor noch an etwas oder über etwas gedacht habe, obwohl ich mir nicht zugehört hatte. Eine Gedankenerinnerung. Manchmal verhalten sich Gedanken wie Räume, Kokons, die verwickelte Gedankenpakete enthalten. Schallplattengedanken. Ich könnte demnach Schallplatten verzeichnen, die angenehme Stimmen und Stimmungen wiederholen, frohe Begegnungen und gelungene Gespräche. — stop
PRÄPARIERSAAL : ein helles herz
bamako : 2.58 – Beobachtete im Präpariersaal kurz vor acht Uhr morgens eine Assistentin, indem sie sich mittels eines Skalpells und einer Pinzette in die Tiefe eines Lungenflügels vorarbeitete. Feine, zupfende Handbewegungen einer Uhrmacherin. Ein metallener Ton, sobald die Assistentin etwas Gewebe am Rand einer Schale von ihren Werkzeugen streifte. Wortlos stand die junge Frau am Tisch, scheinbar ohne sich an meiner Gegenwart zu stören. Nach einigen Minuten dann schob sie das Lungenpräparat zur Seite und wendete sich einem Herzen zu, das in unmittelbarer Nähe eines weiteren Lungenflügels auf einem Blech schaukelte, als sei es noch von eigener Kraft in Bewegung. Das war ein kräftiges Herz gewesen, ich erinnere mich noch gut, über das Gewicht in meinen Händen gestaunt zu haben. Ich hatte das Präparat vom Tisch gehoben und hielt es in der Schale meiner Hände fest, um die Arbeit der Assistentin zu erleichtern. Das Herz ist schwer, sagte ich. Ein mächtiger Muskel, antwortete die Frau, ja, ein mächtiges Herz, fest und dunkel, das Herz eines Läufers. Oder ein Künstlerherz vielleicht. Schweigen jetzt. Sie trommelte mit ihren Werkzeugen auf den hölzernen Rand des Tisches. Meines wird wohl etwas kleiner sein, setzte ich vorsichtig hinzu, ein helles Herz, das Herz eines Vogels, sagen wir. Du kannst also fliegen, bemerkte die junge Frau und lachte, das ist eine gute Geschichte! — Wie sie für den Bruchteil einer Sekunde ihr Gehirn mit einem Lid bedeckte. Fin. – stop