echo : 5.26 — Ich erinnere mich an einen Mann, den ich im Februar in Manhattan beobachtet hatte, wie er durch Subway Stationen wanderte. Er sah ein wenig aus wie Art Garfunkel in jüngeren Jahren, trug einen hellen Anzug, um den Hals war ein roter Schal gewickelt, außerdem hielt er einen Strauß unsichtbarer Rosen im Arm. Diese nicht sichtbaren, aber sehr wohl existierenden Rosen nun, verschenkte er an Frauen, die auf Züge warteten. Wenn er sich einer Frau genähert hatte, machte er eine leichte Verbeugung und entnahm kurz darauf mit der rechten Hand aus der Rosenwiege seines linken Armes eine Blume. Er hielt sie mit drei Fingern vorsichtig fest, um sie in einer weiteren, tieferen Verbeugung zu überreichen. Dann setzte er seinen Weg fort, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Manchmal verzog er sein Gesicht, vermutlich weil er sich an einer der Rosendornen gestochen hatte, aber bald lachte er wieder und machte eine fröhliche Miene. Für einen Beobachter wie mich war das eine aufregende Geschichte. Deshalb folgte ich dem Mann an einem sehr kalten Vormittag in einen Zug, der in südlicher Richtung fuhr. Als der Rosenkavalier nämlich das Ende des Bahnsteiges erreicht hatte, stieg er in den nächstbesten Waggon, setzte sich dort auf eine Bank und wartete darauf, an der nächsten Station wieder aussteigen zu können. Friedlich saß er unter den Fahrgästen, zupfte immer wieder einmal an seinen Rosen herum, ordnete die Wicklung seines Schales, dann stieg er aus und machte sich wiederum auf den Weg über den Bahnsteig, um dort versammelte Frauen zu begrüßen, und zwar jede Frau ohne Ausnahme, sofern sie nicht vor ihm flüchteten oder vorgaben, blind zu sein. Manche der Frauen lachten und bedankten sich, viele schienen den Mann zu kennen. Eine feine, berührende Erfahrung, insbesondere deshalb, weil ich dem Mann nahe kommen konnte, ohne dass er je auf mich reagiert hätte. — Existieren eventuell unsichtbare Vasen in Queens, Brooklyn, Harlem, der Bronx? — stop
Aus der Wörtersammlung: vorsicht
am telefon
romeo : 0.03 — Ich hatte vorgestern mit einem Amt telefoniert. Ich saß auf einem Stuhl und verzeichnete in einem Notizblock, welche Papiere das Amt benötigt, um entscheiden zu können, was nun von amtlicher Seite her zu tun ist, nachdem mein Vater nicht mehr lebt. Ich hörte die Stimme einer jungen Frau, sie sagte: Haben sie schon eine Sterbeurkunde erhalten? Wenn sie eine Sterbeurkunde erhalten haben, senden Sie uns das Dokument bitte zu, damit wir nachvollziehen können, dass ihr Vater gestorben ist. Solange wir ihre Urkunde nicht erhalten haben, verstehen sie, ist ihr Vater den Fakten nach noch am Leben. Ich schickte ein leises Lachen durchs Telefon, ein leises Lachen kehrte von der anderen Seite her zurück. Gestern telefonierte ich wiederum mit der jungen Frau vom Amt. Ich teilte ihr mit, dass ich das Dokument zu ihr hin abgeschickt haben würde. Ein sehr seltsamer Moment. Ich war, während ich telefonierte, wieder einmal in der Lage gewesen, meinen Vater zu sehen, wie er vorsichtig, Schritt um Schritt, die Treppe herunterkommt. Ich presste den Telefonapparat an mein rechtes Ohr, mit dem linken Ohr erwartete ich, dass die Stimme meines Vaters in der nächsten Sekunde hörbar werden würde. — stop
perlboote
india : 0.02 — Auf der Suche nach Behälterkonstruktionen, in welchen Perlboote der Gattung Nautilus durch eine große Stadt transportiert werden könnten, ohne dass die Meerestiere Schaden nehmen würden, auf eine Website gestoßen, die unter dem Namen Louis Benett folgende Zeichenfolge vermerkt: member since monday, 30 january 2012 20.00 / last online > never logged in / profile views : 158 – stop. Seltsame Geschichte. Die Spur eines überaus vorsichtigen Verhaltens vielleicht, ein Zögern. – Mitternacht. stop. — Benny Goodman. — stop
wörterzunge
alpha : 2.05 Hörte im Bildschirmgespräch Thomas Bernhard wieder sagen: Alles ist immer wirklich, es gibt nichts Erfundenes. Froh bin ich über diesen Satz. Nach Selbstbeobachtung scheint in meiner erzählenden Welt ein Zeitannäherungswerk zu existieren, das nach Entdeckung zunächst arbeiten muss im Kopf. Ich habe gestern unter anderem den Versuch eines Mannes notiert, eine Biene von Stein zu fabrizieren, ein soziales Wesen, das in der Lage sein sollte, sich in die Luft zu erheben. Diese Vorstellung war mir zunächst fremd gewesen, mein eigener Gedanke. Als ich dann nach zwei Stunden von einem Spaziergang an den Schreibtisch zurückkehrte, war mir der Mann und sein Unternehmen so vertraut geworden, als würde er in einer benachbarten Wohnung leben, ich würde ihn besucht haben und über die Schulter geschaut, wie er etwas Felsspat mit einem Meißelchen behutsam fächert, dass es als Flügelteilchen bald einmal durch die Luft segeln könnte. Es scheint vielleicht so zu sein, dass sich meine Wirklichkeit zunächst mittels einer Wörterzunge vorsichtig in unbekannte Räume tastet. — Vier Uhr zwei in Homs, Syria. — stop
ein ballon
echo : 6.22 — Ein Vogel, ein Sperling, sitzt auf dem Sims vor meinem Fenster. Es ist kurz nach zwei Uhr. Der Vogel scheint zu schlafen unter einem geschlossenen Augenlid, das andere Auge schaut mich an, wie ich mich vorsichtig nähere. Langsam fahre ich mit dem Kopf an die Scheibe heran. Ich glaube, ich bin einem Sperling in meinem Leben noch nie so nahe gekommen, nur Zentimeter, etwas Glas, etwas Luft trennen uns. Der Vogel scheint mich in diesem Moment sorgsam zu beobachten, beide Augen sind geöffnet, er plustert sich, jetzt macht er beide Augen wieder zu. Ich gehe zum Schreibtisch, bin schläfrig geworden, nein, ich darf mich auf keinen Fall aufs Sofa setzen, das wäre das Ende der Arbeitsnacht. Ich notiere: Auf dem Broadway, Ecke 28. Straße, steht ein Mann zwischen Autos vor einer Ampel. Er verkauft Pistolen, die Seifenblasen erzeugen. Es ist kalt und windig, weswegen dem Lauf der Pistole nur kleine Seifenblasen entkommen. Der Mann schimpft vor sich hin, er droht dem Himmel mit der Waffe. Die Geste bleibt ohne Wirkung, weshalb der Mann sich wieder auf den Lauf seines Werkzeuges konzentriert. Sobald ein kopfgroßer Seifenballon doch einmal entsteht, der Ausdruck empörter Zufriedenheit auf seinem Gesicht, aber dann platzt die Blase und er fängt wieder von vorne an, wischt sich die Nase, die ihm davonzulaufen droht, richtet sich den Lumpen, der sein Gesicht umhüllt, die Ampel springt auf Grün, Autos fahren an, weitere Autos halten. Es ist kalt heute. Ich gehe südwärts spazieren, bis ich den Union Square erreiche, sitze ein wenig in der Sonne, Eichhörnchen wälzen sich wie Katzen auf dem sandigen Boden. Nach drei Stunden kehre ich zur Kreuzung Broadway Ecke 28 Straße zurück. Ein Mann steht dort zwischen Autos vor einer Ampel. Er verkauft Pistolen, die Seifenblasen erzeugen. Es ist derselbe Mann, den ich bereits beobachtete, es scheint sich bei dieser Menschenerscheinung um einen Loop zu handeln. Es ist denkbar, dass es Hunderttausende ähnlicher Loops in der Stadt New York zu beobachten gibt, Loops, die in der Subway sich vollziehen, Loops in Bürolandschaften, Loops in Warenhäusern. Ich freue mich über diese Entdeckung. Der Vogel vor dem Fenster lungert dort immer noch herum. Es ist jetzt schon viel später geworden, ich habe sehr langsam gearbeitet. – Astor Piazolla / El Concierto De Lugano. — stop
greenwich village : verschwinden
echo : 0.12 — New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehn, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nacht,- oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann bisweilen ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, nur so zur Vorsicht, um nachzuhören, ob ich nicht vielleicht schon zu einer selbst sprechenden Maschine geworden bin. — stop
naturbeobachtung
india : 8.12 — Sagen wir so, sagen wir: Savanne. Sagen wir: Abend. Sagen wir: vorschriftliche Zeit. Dort – zwei Männer. Der eine der beiden Männer liegt auf dem Rücken. Dieser Mann, von Staub bedeckt, – ein toter Mann. Sein Bauch ist geöffnet. Vielleicht ist der Mann gestürzt, vielleicht wurde der Mann von einem Raubtier angefallen. Der zweite vorgestellte Mann kniet vor dem Toten und betrachtet die Wunde. Nun zieht dieser Mann seine Waffe und hebt einen Lappen Haut zur Seite. Er setzt das Werkzeug in der Wunde an und schneidet so lange in die Muskulatur des Bauches, bis die Bauchhöhle des Toten offen liegt. Eine Geste der Untersuchung, eine Geste des Eindringens, der Invasion, eine vorsichtige Bewegung ohne ein bestimmtes Ziel. Da ist der Wunsch, Tiefe zu gewinnen, Unsichtbares, Verdecktes, Unbekanntes sichtbar zu machen. Vielleicht wird sich dieser Mann zunächst von dem Toten entfernen, vielleicht deshalb, weil eine weitere Raubkatze sich nähert. Vielleicht wird der Mann, aus der Erinnerung heraus, den Umriss eines Mannes, der tot ist, in eine Felswand ritzen. Vielleicht wird er in diesen Umriss eines Mannes, der steht oder liegt, die Form eines Organs eintragen, – genaue Lage, exakte Größe. Die Abbildung eines Organs, für dessen Existenz zum Zeitpunkt der Entstehung weder ein Zeichen noch ein Begriff erfunden wurde. — stop
schnecken
~ : oe som
to : louis
subject : SCHNECKEN
date : sept 24 11 7.12 p.m.
Früher Abend, ruhige See. Möwen, die unser Schiff wie eine Insel bewohnen, kreisen dicht über dem Wasser. Gerade eben meldete Noe, zwei Schnecken näherten sich seinem Gesicht. Er müsse jetzt vorsichtig sein, um sie nicht zu verletzen, sollten sie in seinen Mund gelangen. Noe wohlauf. Seit zwei Wochen senden wir Jazz, wann immer Noe Jazz zu hören wünscht. Wir haben zunächst Charlie Parker geladen, das machte ihn nervös, weil er sich nicht bewegen kann im Taucheranzug, im Rhythmus, der schnell geht, ruhelos. Wir proben, forschen nach sanfteren Takes. Er könne, das sei neu, berichtet Noe, wenn er das Wort Regen lese, sich das Geräusch des Regens nicht länger in Erinnerung rufen, als würde sich das Wort Regen nach und nach entleeren. Wir haben versprochen, Regen für ihn aufzuzeichnen und in die Tiefe zu schicken. Gestern, als wir nachts alleine miteinander sprechen konnten, wünschte Noe, dass ich ihm das Schiff beschreibe, unter welchem er schwebt. Er sei glücklich, sagte Noe, aber er sehne sich nach einer Uhr. — Dein OE SOM
gesendet am
24.09.2011
1143 zeichen
trockenzungen
delta : 6.22 — Ich träumte einmal von einem Schlafsaal, in dem einhundert arme Dichter wohnten. Sie liefen sehr langsam, sagen wir, vorsichtig herum, weil sie nicht wach waren, sondern schliefen. Eines Abends wurden sie in dem Auftrag geweckt, feine Formulierungen für einen besonderen Regen zu finden, einen Regen, der eine große Stadt unter Wasser setzen sollte. Ihre Freude, ihre Begeisterung, vielleicht endlich wieder gehört zu werden. Wie sie durcheinander spazierten. Und das Rascheln der Papiere, das Knirschen der Stifte, das Geräusch ihrer suchenden Trockenzungen. — stop
PRÄPARIERSAAL — so haben wir angefangen
delta : 22.20 — Sobald ich mein Tonbandgerät betrachte, wenn ich beobachte, wie sich zierliche Rädchen hinter einer Scheibe bewegen, Lust, die kleine Maschine auseinanderzunehmen, alles zu betrachten und dann wieder zusammenzusetzen, auch wenn vielleicht Jahre vergehen, bis die Zusammenhänge der Maschine wieder fehlerlos hergestellt sein werden. An diesem Abend, da im Hintergrund eine weitere, eine digitale Tonbandmaschine Joshua Redman wiederholt, ist alles noch in Ordnung, unberührt, sagen wir. Tom erzählt: > Man geht also vorsichtig los, man kommt durch eine Klapptür in den Saal und sieht sofort, dass da sehr viele Menschen sind. Ich hatte zunächst ein paar Probleme damit, die Knöpfe meines Kittels in die Finger zu bekommen, weil ich einen Atlas unter den Arm geklemmt hatte und ein Paar Latexhandschuhe in der einen Hand und in der anderen meinen Werkzeugkasten, eine hölzerne Schachtel mit Pinzetten und Skalpellen. Ich habe mir gedacht, du musst jetzt nicht besonders souverän sein, mein Junge, sondern zunächst einmal deinen Tisch finden und deine Leute und dann wirst Du ganz einfach anfangen. Also bin ich gleich nach links gelaufen, weil ich wusste, dass ich in einer Abteilung arbeiten werde, die links liegt, wenn man das von der Tür aus betrachtet. Aber dann hatten wir natürlich keine Ahnung, wie wir anfangen sollten. Wir standen um einen Tisch herum und haben zunächst einmal abgewartet. Wir waren acht Leute. Weil wir uns noch nicht alle kannten, haben wir uns erst einmal vorgestellt. Vielleicht bekomm ich sie grad schnell zusammen. Da war, zum Beispiel, Mika, eine Norwegerin, und Michael, der mir am Tisch gleich gegenüber arbeitete, und Susan, die sich ein Tuch um ihren Kopf gebunden hatte, damit das Haar ihr nicht ins Gesicht fallen konnte. Und da waren Zue natürlich, eine Afrikanerin von der Elfenbeinküste, die uns nicht immer verstehen konnte, weil sie die englische und französische Sprache flüssiger sprechen konnte als die deutsche Sprache, und Ismene, eine Griechin, die uns sofort erzählt hatte, dass sie Chirurgin werden wolle. Ich erinnere mich, Ihre Augen waren stark gerötet, vielleicht weil ein scharfer Geruch in der Luft hing, irgendetwas, das die Augen reizte. Ich konnte diesen Geruch bereits auf der Straße wahrnehmen, und später, am Abend, zu Hause, hatte ich ihn an den Händen. Kurzum, wir haben dann also gewartet. Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir so gewartet haben. Das war eine seltsame Situation. Wir haben uns immer wieder angelächelt. Ich glaube, wir waren alle sehr verlegen und standen zu diesem Zeitpunkt unter einer großen Spannung. Der Tisch hatte die Nummer 4/12. Eine rote Plane war über diesen Tisch ausgebreitet und wir konnten eine Kontur erkennen, eine Erhebung. Wir wussten, dass da ein Körper lag und dass dieser Körper eher klein sein musste, zierlich, sagen wir. Ich hatte die Vorstellung, dass dort unter der Decke eine Frau liegen könnte. Und ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment überlegte, ob das Geschlecht des Körpers, den ich in den kommenden Wochen auseinander nehmen würde, eine Bedeutung für mich haben würde oder nicht. Und dann ging alles sehr schnell. Unser Coassistent kam zu uns an den Tisch und erkundigte sich, ob alles o. k. sei. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute jeden einzelnen von uns an und lachte sehr freundlich. Wir haben dann damit begonnen, das rote Tuch vom Tisch zu nehmen. So haben wir angefangen.