echo : 5.26 — Kurz nach Mitternacht europäischer Zeit führte ich ein Gespräch mit Herrn Hiko Aoi, dessen Telefonnummer ich nicht bekannt geben darf, weil er andernfalls jede weitere Unterredung mit mir für immer vermeiden würde. Es dauerte nicht lange, bis im Haus 818, Lexington Avenue, mein Anruf entgegengenommen wurde. Eine verzerrt klingende Stimme meldete sich, es war die Stimme einer Frau, die sich erkundigte, wer ich sei und was ich von Herrn Aoi wissen wolle. Ich gab meinen Namen zu Protokoll, weiterhin, dass ich dringend eine Frage an Herrn Aoi richten müsse, deren Beantwortung für mich dringend sei, und zwar noch in dieser Nacht. Ich ahnte, dass ich zunächst lange warten würde, es handelt sich bei Herrn Aoi um einen hochbetagten Mann, der sich sehr vorsichtig durch seine Wohnung bewegt. Wie er sich dem Telefonapparat näherte, hörte ich seinen Atem, ein feuchtes, rasselndes Geräusch, um mich dann freundlich zu begrüßen. Ich stellte mir vor, dass er vielleicht lächelte. Was gibt’s, Louis? fragte er. Ich erkundigte mich zunächst nach dem Wetter: Wie ist das Wetter bei Euch drüben? Nun, lassen wir das, ich erklärte, dass ich eine Frage haben würde, eine quälende Frage, dass ich nämlich dringend in Erfahrung bringen müsse, ob er, Mr. Hiko Aoi, sich für Fliegentiere interessiere, für die Art und Weise wie sie sich durch die Luft bewegen, wie sie landen, und wie sie schlafen. Ist es denkbar, dass Sie sich vielleicht für fliegende Tiere erwärmen könnten? Herr Aoi lachte. Ich hörte ihn tatsächlich lachen, ein gleichfalls feuchtes, heulendes Geräusch. Der alte Mann bat mich um die Möglichkeit eines Rückrufes. Ich wartete drei Stunden, machte nichts in dieser Zeit als einmal einen Kopfstand. Gegen vier Uhr mitteleuropäischer Zeit klingelte das Telefon. — stop
Aus der Wörtersammlung: warten
paris
sierra : 5.25 — In der Morgendämmerung komme ich an, es ist die Stadt Paris gewesen, Gare de l’Est. Im Zug hatte eine Frau von monströsen Ausmaßen neben mir Platz genommen, presste mich gegen eine Wand des Abteils, ich konnte kaum atmen, und wie ich den Bahnhof verlasse, folgt sie mir. Ich gehe westwärts Richtung Montparnasse. Plötzlich sitze ich in einem Café, in dem alle Gegenstände von Holz sind. Der Boden, die Wände, Stühle, Tische, auch die Teller, Servietten, Tassen und die Blumen in ihren hölzernen Gefäßen, das Wasser der Vasen, der Kaffee, selbst die Frau, am Nachbartisch, die sich freundlich nach einer Zigarette erkundigt, scheint zu größeren Teilen aus Holz zu bestehen, Hals, Stirn, Wangen, Arme und Hände, eines ihrer Augen. Auf dem Tisch vor mir sitzt eine Ameise. Sie bewegt sich kaum. Ich weiß, dass sie zu mir gehört, ich habe sie gekauft. Der Mann, der mir die Ameise verkaufte, steht auf der Straße vor dem Café und spricht mit jener Frau, die mir folgt. Er trägt einen Hut, eine Melone, die Frau scheint weiterhin zu wachsen. Beide schauen in meine Richtung, sie lachen. Dann kommt der Mann zurück. Er schüttet eine Handvoll Sultaninen auf den Tisch, sagt, dass ich die Früchte in Scheiben zerlegen solle, weil Ameisen, gerade diese Ameise, die zu meinem Eigentum geworden ist, Sultaninen bevorzugt verzehren würden. Das kleine Tier ist sehr kostbar. Es ist eine Ameise, die ihr Leben heimlich mit Samuel Beckett geteilt haben soll, ich habe das schriftlich, eine Ameise mit einem wundervollen Gehirn, sie ist sehr alt, verfügt über Ohren und spricht mit den Fühlern. Ich weiß nicht, wie ich die Ameise transportieren soll, deshalb wache ich auf und wundere mich, weil ich kein Licht sehe. Aber ich spüre die Schritte einer Ameise auf meinem Bauch. Sie läuft kreuz und quer, bald sitzt sie unterhalb meines linken Auges. Das Tier scheint zu warten. — stop
fingergeschichte
india : 6.14 — Nehmen wir einmal an, irgendwann in den kommenden Jahrzehnten würde es möglich sein, einen Laden zu betreten wie man heute eine Apotheke betritt, um sich einen sechsten Finger für die rechte Hand zu bestellen. Oder ein drittes Ohr, oder ein fünftes Auge, eines, mit dem man schlafen könnte, während alle weiteren Augen das Geschehen in der nächsten Umgebung überwachen. Was darf es denn bitte sein, wird man gefragt. Man antwortet unverzüglich: Guten Abend, ich hätte gerne einen Finger, sagen Sie, wann könnte der Finger einer rechten Hand frühestens fertig ausgewachsen sein? Und schon ist man wieder auf die Straße getreten. Man ist zufrieden, ja glücklich, weil man sich schon lange Zeit einen sechsten Finger wünschte, sie sind nicht ganz billig zu haben, man muss sich einen sechsten Finger sehr wohl überlegen. Aber wenn man den Finger dann verbindlich bestellt haben wird, ist alles ganz einfach geworden. Ein oder zwei Wochen, nicht länger wird man warten, bis man den Finger in sich wachsen fühlt. Es ist ein schmerzloser Vorgang, eine lang erprobte Sache, man hat schon viel vom Wachsen der Finger gehört. Der ein oder andere Freund verfügt bereits über Füße, auf welchen man sehr viel besser stehen kann, als noch zuvor. Auch sind Menschen, die über Ohren gebieten, mit welchen man von den Schultern aus die Welt belauschen kann, längst keine Seltenheit. Irgendwo im Norden soll eine Frau existieren, die fliegen kann, ein Wunsch vielleicht, Legende, aber nehmen wir doch einmal an, es würden bald Läden existieren für fliegende Menschen, oder Läden für moderne Kiemenwesen, wenn doch das Wasser weltweit gegen die Küsten steigt. — Früher Morgen. Dieser kleine Text wurde in einer Straßenbahn notiert. Die Straßen dampfen. Ich bin sehr schön wach geworden, weil ich durchgeschüttelt worden bin. Um mich herum schlafen noch ein paar sehr müde Menschen. Es ist eine sehr alte Straßenbahn. Über uns leuchtet Glühbirnenlicht. — stop
von den eisbriefen
kilimandscharo : 6.28 — Für ein oder zwei Minuten war ich wild entschlossen gewesen, ein Gründer zu werden, und zwar gestern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Briefkasten gelaufen, der nicht weit entfernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befestigt ist. Ein Eichhörnchen, natürlich, begleitete mich. Es war sehr kalt, und plötzlich habe ich wahrgenommen, dass ich, wenn es mir möglich wäre, gern Briefe von Eis verschicken würde, hauchdünne Blätter gefrorenen Wassers, die man in kühlende Kuverts stecken und in alle Welt verschicken könnte. Eine wunderbare Vorstellung nachgerade, wie ein Mensch, dem ich einen Eisbrief gesendet habe, in der Küche vor seinem Eisschrank sitzt und meinen Brief für Sekunden studiert, um ihn dann rasch wieder in die Kälte zurückzulegen, damit er nicht verschwindet in der warmen Luft. Ich sollte also bald einmal jene besonderen Eispapiere, ihre Fabriken und Läden erfinden, und Kuverts, und Briefkästen, die wie Kühlschränke funktionieren. Wo man die Briefe sortiert, in einem Postamt, würde man in tiefgekühlten Räumen arbeiten, und alle diese Automobile, nicht wahr, die vereiste Briefware über das Land befördern. Ein Unternehmen dieser Art, wäre eine wirkliche Herausforderung, eine gute und sehr verrückte Sache, so dachte ich am gestrigen Abend. Kaum war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, war aus der Gründerzeit bereits eine Erfinderzeit geworden. Und wie ich in diesem Augenblick voller Freude im polaren Zimmer vor meinem Schreibtisch sitze, dampfender Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hörbaren Pfeifen Zeichen in schimmernde Eispapierbögen fräst. Ich schreibe: Mein lieber Theodor, ich wollte Dir schon lange einmal einen Eisbrief notieren. Hier nun, wie versprochen, ist er endlich bei Dir angekommen. Ich hoffe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir aufgeschrieben habe, dass ich nämlich den Wunsch habe, bald einmal zwei oder drei Tage zu schweigen, um den Kopfstimmen stummer Menschen nachzuspüren. Ich könnte mich kurz vor Beginn meiner Stille verabschieden von Freunden: Bin telefonisch nicht erreichbar! Oder einen Notizblock besorgen, um Fragen für den Alltag zu verzeichnen, sagen wir so: Führen sie in ihrem Sortiment Hörgeräte für Engelwesen fingergroß? Eine Kärtchensammlung zu erwartender Wiederholungssätze weiterhin: Habe vorübergehend mein Tonvermögen verloren! – Es ist eine angenehme Nacht, lieber Theodor. Ich erinnerte einen Satz René Chars, den er in seiner Gedichtsammlung »Lob einer Verdächtigen” notierte. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangsarten mit dem Leben: entweder man träume es oder man erfülle es. In beiden Fällen sei man richtungslos unter dem Sturz des Tages, und grob behandelt, Seidenherz mit Herz ohne Sturmglocke. Dein Louis, ganz herzlich! — stop
von den regenschirmtieren
india : 2.05 – Gestern ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich hatte einem Bekannten, den ich lange Zeit nicht gesehen habe, eine E‑Mail gesendet. Kaum war die kleine elektrische Botschaft auf den Weg gebracht, kam eine Antwort zurück. Ich war sehr erstaunt gewesen, ich hatte angenommen, dass sich mein Bekannter viel Zeit nehmen würde, mir zu antworten, immerhin war ich etwas nachlässig, zögerlich darin, ihm zu schreiben. Ich hatte sogar einmal das Gefühl, er könnte vielleicht längst nicht mehr am Leben sein, weiß der Teufel, warum. Die Antwort, die ich erhielt, war folgende gewesen: Guten Tag! Ich habe Deine Nachricht erhalten, bin gerade in Tasmanien, ich werde so bald wie möglich antworten. Um Dir die Zeit bis dahin zu vertreiben, schicke ich Dir eine Geschichte, die Dir vielleicht Freude bereiten wird. Es handelt sich um eine Traumgeschichte, die davon erzählt, dass ich wieder einmal von Regenschirmtieren träumte. Die Luft im Traum war hell vom Wasser, und ich wunderte mich, wie ich in dieser Weise, beide Hände frei, durch die Stadt gehen konnte, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und staunte, weil ich nie zuvor eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut von der Art der Flughaut eines Abendseglers. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es war kurz nach Mitternacht. Es regnet noch immer. — stop
amsterdam avenue
~ : malcolm
to : louis
subject : AMSTERDAM AVENUE
date : jan 18 13 0.12 a.m.
Gestern, in den frühen Morgenstunden, meldete Allison, sie habe Frankie verloren. Kein Signal, keine Bewegung. Sie war sehr aufgeregt gewesen, hatte sich auf ihr Fahrrad gesetzt und einige Runden durch den Park gedreht, ehe sie uns alarmierte. Es ist seltsam, wir haben nie daran gedacht, dass das Eichhörnchen Frankie den Central Park ohne unsere Erlaubnis je verlassen könnte. Zunächst glaubten wir, Frankie sei vielleicht von einem Waschbären oder einem streunenden Hund oder einem Luchs gefangen worden. Auch haben wir daran gedacht, dass auf ihn geschossen worden sein könnte. Aber das würde nicht erklären, weshalb Frankies Sender nicht länger funktionierten. Es war einzig denkbar, dass Frankie in das Reservoir gefallen sein könnte, vielleicht, obwohl ein hervorragender Schwimmer hatte ihn die Kälte des Wassers getötet. Aber dann meldete Henry, er habe wieder ein Signal, und zwar in der 59. Straße Ecke Amsterdam Avenue. Ich vermutete, dass irgendjemand Frankie gefangen haben könnte, was kaum vorstellbar war, so schnell sich das kleine Tier zu bewegen vermag, mit seinem Körper und auch mittels seiner Gedanken. Es ist jetzt früher Nachmittag. Ein eisiger Wind bläst von Westen her durch die Straßen. Und wenn ich nun erzähle, dass wir Frankie lebend in Freiheit entdeckten, werden Sie das vielleicht kaum glauben. Er sitzt in unserer unmittelbaren Nähe auf dem Dach eines Zeitungskiosks und nascht aus einer Tüte, ich meine, Frankie hat ein paar Nüsse erbeutet. Er wirkt gesund, der Lärm der Straße scheint ihn nicht weiter zu berühren. Ich glaube, er hat uns bemerkt, scheint vielleicht zufrieden zu sein, unsere vertrauten Erscheinungen zu sehen. Wir kommen sehr nah an ihn heran. Was sollen wir tun? Sollen wir den Versuch unternehmen, Frankie einzufangen, oder sollen wir abwarten, was geschehen wird? Allison spekuliert, Frankie könnte sich planvoll in Richtung des Hudson River Parks bewegen. Melden Sie sich bitte, melden Sie sich so bald wie möglich! — Allerbeste Grüße sendet ihn Malcolm / codewort : indianertrompete
empfangen am
18.01.2013
2035 zeichen
tod in peking 2
india : 0.28 — Es ist nicht lang her, es war im Dezember gewesen, als ich einen Text notierte, der vom Tod eines Freundes erzählte. Ich hatte damals noch keine wirkliche Erklärung, weswegen das Leben meines Freundes endete, aber eine Vermutung, eine Befürchtung. Ich notierte so: „Ich war einmal dabei, wie Teddy seine Kamera in den Park spazieren führte, an einem kalten, winterlichen Tag, es hatte geschneit. In den Händen des stattlichen runden Mannes sah der Fotoapparat, der einen Computer enthielt, klein aus, zerbrechlich. Unentwegt berichtete sein stolzer Besitzer von den Möglichkeiten der Fotografie, die diese Kamera in Zukunft für ihn eröffnen würde. Es war eine Art Liebesbeziehung, die ich damals beobachtete, Teddy und seine kleine Lichtfangmaschine, wie er mit seinem dritten Auge den Schnee betastete, wie er mir erzählte, dass man Schnee eigentlich nicht fotografieren könne. Das war vor vier oder fünf Jahren gewesen. Seither sind Teddy und seine Kamera weit herumgekommen in der Welt, vorwiegend reisten sie nach Peking, verbrachten dort mehrere Monate im Jahr, wanderten durch die große Stadt auf der Suche nach Augenblicken, die Teddy sammelte. Es war ein Fotografieren wie ein Gespräch, auch ein Selbstgespräch gegen die Verlorenheit, gegen die Angst vielleicht einmal wieder in den Alkohol zurückzufallen, jedes Bild ein Beweis für die eigene Existenz. Eine seiner Fotografien aus dem Sommer 2012 zeigt zwei Jungen, wie sie dem riesigen, runden Mann mit dem kleinen Fotoapparat begegneten. Der eine Junge scheint zu staunen, der andere will die rechte, seitwärts ausgestreckte Hand des Fotografen berühren. Es ist eine typische Fotografie, das Werk eines Künstlers, der manchmal in Europa anrief, weil er sich einsam fühlte in irgendeinem Hotel der chinesischen Provinz bei Eis und Schnee. Auch in Peking hatte er Freunde, gute, wirkliche Freunde, in seiner kleinen Wohnung dort wohnten eine junge Studentin und ihre Mutter. Vor wenigen Tagen erreichte mich nun die Nachricht seines Todes, für den es zu diesem Zeitpunkt keine Erklärung gibt. Auf Facebook notierte er noch: Bitte beachte, dass ich prinzipiell keine Nachrichten schreibe oder beantworte. Verwende bitte immer meine E‑Mail-Adresse, um mich zu erreichen. Per Mail bin ich stets zu erreichen.“ – Nun habe ich eben genau durch eine E‑Mail erfahren, woran Teddy gestorben ist. Eine chinesische Freundin Teddys schrieb: Hallo! Ich bin Li Bin. Erinnerst du dich an mich, die gute chinesische Freundin von Teddy. Es tut mir so Leid, dass Teddy am 22. November in Peking gestorben ist, weil er zu viel Alkohol getrunken hat. Als ich die Nachricht gehört habe, fand ich mich sehr überrascht. Eigentlich hatte ich mich mit Teddy verabredet, am 22. November nach Peking zu fahren und seine Fotoausstellung zu besuchen. Aber noch vor der Abfahrt haben andere Freunde mich angerufen, dass Teddy schon gestorben ist. Sofern ich das beurteilen kann, hat er nicht für lange Zeit Alkohol getrunken, aber sehr viel. Deswegen war er schon einmal im Krankenhaus in Peking. Damals war es schon sehr schlimm, trotzdem hat er nicht aufgehört, zu trinken. Andere Freunde haben erzählt, er hatte früher die Krankheit, die Abhängigkeit vom Alkohol. Aber Teddy hat mit mir das nie besprochen. So warten wir jetzt auf das Ergebnis der Polizei. — stop
nachtgecko
alpha : 2.28 — Das Museum der Nachthäuser befindet sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, die den New Yorker Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Ich weiß nicht, ob das Museum noch immer existiert, es war oder ist ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Fluss so nah, dass man ihn riechen konnte. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung öffnen würde, ein Museum für Nachtmenschen eben, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann endlich öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher gewesen, führte mich ein junger Mann persönlich herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz berichten, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung von Gecko und Spinne erinnerte. Das verrostete Ding war von der Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handelte, aus einer Zeit, da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter ein und demselben Hausdach wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine in einer Haltung, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre erbarmungslos harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen haben mochten. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich Tagmenschen sicher fühlten vor Nachtmenschen, die unter ihnen lebten, die mit Schritten Zimmerdecken ihrer Wohnung niemals erreichten. Aus und fini! - stop
erdbeben
ulysses : 6.02 — Einen Tag lang habe mit meiner Antwort an Jennifer 7 gewartet. Vor wenigen Stunden folgende kurze E‑Mail-Notiz: Liebe Jennifer, ich verstehe, dass Sie unruhig geworden sind. Bitte haben Sie etwas Geduld, ich weiß um Ihr Leid, ahne, was es bedeutet, wenn man nicht schlafen kann, weil Schritte von Menschen in nächster Nähe über die Decke spazieren. Man glaubt ihre Schatten zu sehen jenseits der Bastmatten, der Steine, der Hölzer. Wenn es einmal still ist, dann wartet man in dieser Stille auf das nächste Geräusch, das den Schlaf zerreißen wird, alles schon da todsicher in der Zukunft, all das Getöse, weil man an es denkt, weil es nicht anders sein kann, jede leise Erschütterung des Bodens eine Erschütterung der Welt, Erdbeben, Tragödie. Man möchte sich erheben, man möchte sich kämmen, Hemd und Hose sind bereits übergeworfen, so tritt man auf den Flur, um sich zur Beschwerde aufwärts zu begeben. Man klopft an eine Tür. Man sieht einen Schatten hinter dem Bullauge des Spions: BIST DU ALSO DA! Aber niemand öffnet die Tür. Auch nach Minuten des Wartens nicht. Und dann ist man doch noch eingeschlafen, meine liebe Jennifer 7, man schläft vor Erschöpfung, man schläft mit geöffneten Augen unter dem Schwanenhals. — Donnerstag. Leichter Regen. Es ist kalt geworden über Nacht. Noch immer habe ich keine Antwort auf die Frage gefunden, weshalb Kiemenmenschen, sobald sie schlafen oder sich küssen, Kopf nach unten in ihren Wasserwohnungen schweben. — stop
anton voyls fortgang
~ : oe som
to : louis
subject : ANTON VOYLS FORTGANG
date : nov 10 12 10.08 p.m.
Es ist gekommen, wie ich es erwartet habe. Noe schweigt. Wir haben ihm George Perecs Roman Anton Voyls Fortgang in die Tiefe geschickt. Es handelt sich in unserer Versuchsanordnung um das Unterwasserbuch No 282, ein Buch, in dem der Buchstabe E auf 320 Seiten nicht erscheinen wird. Kurz nachdem Noe seine Lektüre mit fester Stimme aufgenommen hatte, versuchten wir vorherzusehen, wie lange Zeit Noe lesen würde, ehe er das vollständige Fehlen eines bedeutenden Buchstabens im Text bemerkt haben würde. Er las etwa 10 Minuten, dann hörte er auf, seine Stimme wurde zunächst leiser, er dehnte die Worte, sagte, dass ihm etwas merkwürdig vorkommen würde, er könne bisher nicht sagen, was genau ihm merkwürdig erscheine, er müsse nachdenken. Wir sitzen jetzt alle vor den Lautsprechern und Bildschirmen und warten. Im Schein der Lampe, die Noe und das Buch, das er in seinen schweren Händen hält, beleuchtet, sehen wir, dass er sich langsam bewegt. Er scheint im Buch zu blättern. Er scheint überhaupt noch immer, nach 656 Tagen in einer Meerestiefe von 820 Fuß schwebend, ein guter Beobachter zu sein, obwohl es nichts zu sehen gibt als etwas Dämmerung, wenn Tag geworden ist, und ein paar Fische, die ihn von Zeit zu Zeit besuchen. Ich nehme an, Noe wird oft an uns denken. Er hört uns zu, hört, was wir sprechen, auch dann, wenn wir unter uns sind, wenn wir vergessen haben, das Mikrofon auszuschalten. An der Art und Weise wie wir atmen, vermag Noe zu unterscheiden, ob Lin, Eric, Martin, Tom, Lilly oder ich vor dem Mikrofon Platz genommen haben. Gerade eben beginnt er wieder zu lesen, er scheint an den Anfang des Buches zurückgekehrt zu sein: In Rocamadour gabs Mundraub sogar am Tag: man fand dort Thunfisch, Milch und Schokobonbons im Kilopack. Und wieder schweigt Noe. Es ist später Abend. Samstag. Ein Frachtschiff, hell beleuchtet, lungert am Horizont. Ahoi, lieber Louis. Dein OE SOM
gesendet am
10.11.2012
1856 zeichen