echo : 2.54 — Wann war es, dass ich zum ersten Mal bemerkte, wie meine Briefe kleiner und kleiner wurden? Wesen von wirklichem Papier, Bögen in Umschlägen, mit einem Postwertzeichen, das zuletzt die Anschriftenseite meines Schreibens vollständig bedeckte. Im Postamt werde ich seither ernst genommen. Vor einigen Wochen kaufte ich sinnvollerweise ein handliches Mikroskop und einen Satz Bleistifte von äußerster Härte. Ich spitzte das Schreibwerkzeug eine Viertelstunde lang, dann legte ich einen Bogen Papier in das Licht einer Linse mittlerer Stärke. Ich näherte mich mit bebenden Fingern. Man sollte mich in diesem Moment gesehen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das kleine Blatt notierte, hielt ich die Luft an. Tatsächlich habe ich in meinen Leben noch nie zuvor in einer derart sorgfältigen Weise geschrieben. Ich brauchte drei Stunden Zeit, um das Papier, das nicht größer gewesen war als eine Briefmarke von 1,5 cm Kantenlänge, vollständig zu beschriften. Ich schrieb folgende Zeilen an einen Freund: Lieber Stanislaw, Du wirst es nicht glauben, nach 1 Uhr heute Nacht schwebte ein Zeppelinkäfer einer nicht sichtbaren, schnurgeraden Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. – Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. – Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit sechs recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. Dein Louis, herzlichst. — Es war eine wirklich harte Arbeit, all diese Zeichen zu notieren. Dann faltete ich das Blatt Papier einmal kreuz und quer. Ich arbeite mit zwei Pinzetten wiederum unter starkem Licht, steckte den Brief in ein Couvert, dessen Herstellung noch mühevoller gewesen war als das Schreiben des Briefes selbst, und machte mich auf den Weg in das nächste Postamt. Dort wurde ich unverzüglich an den Schalter für besondere Briefformate weitergeleitet, wo mein Brief, den ich mit einer Pinzette auf den Tresen befördert hatte, von einer weiteren Pinzette entgegengenommen wurde. Ich war sehr glücklich. Ich beobachtete, wie der Beamte eine Briefmarke von der Größe eines Reiskorns behutsam auf meinen Brief legte und mittels eines Stempels, der vor meinen bloßen Augen kaum noch sichtbar gewesen war, entwertete. Dann ging mein Brief auf Reisen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kurze Zeit vergessen. Nun aber, vor wenigen Stunden, wurde mir von einem Sonderboten der Post ein Brief von derart leichter Gestalt übergeben, dass ich zunächst die Anweisung erhielt, alle Fenster meiner Wohnung zu schließen. Dieser Brief, eine Depesche meines Freundes, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein kleines Kunstwerk. Auf seiner Briefmarke sollen sich zwei Paradiesvögel befinden, die ihre Schnäbel kreuzen. Ich werde das gleich überprüfen. — Es ist Freitag! Guten Morgen! — stop / fürs mariechen
Aus der Wörtersammlung: berg
ai : KOLUMBIEN
MENSCH IN GEFAHR : „Das Haus des indigenen Menschenrechtsverteidigers Pedro Manuel Loperena im Nordosten Kolumbiens wurde am 11. Mai von einer Granate getroffen. / Am 11. Mai warfen zwei unbekannte Motorradfahrer eine Granate auf das Haus von Pedro Manuel Loperena im Bezirk Don Carmelo in Valledupar, der Hauptstadt des Departamento Cesar. / Pedro Manuel Loperena ist Koordinator der Menschenrechtskommission der Indigenenvereinigung Organización Wiwa Yugumaiun Bunkuanarrua Tayrona (OWYBT), die das indigene Volk der Wiwa vertritt, welches in der Bergkette der Sierra Nevada de Santa Marta lebt. Die Menschenrechtskommission setzt sich seit einiger Zeit in mehreren Fällen für Gerechtigkeit ein, bei denen es um die Verletzung der Menschenrechte geht, wie z. B. im Fall der außergerichtlichen Hinrichtung von elf Angehörigen der Gemeinschaft der Wiwa durch Sicherheitskräfte zwischen dem 15. Februar 2005 und dem 3. August 2006 sowie in anderen Fällen, in denen auf der einen Seite Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs, auf der anderen Seite Guerillaeinheiten Menschenrechtsverstöße begangen haben. Die Menschenrechtskommission kämpft zudem gegen zahlreiche Bergbau‑, Infrastruktur- und Tourismusprojekte im Gebiet der Sierra Nevada, da das Volk der Wiwa der Ansicht ist, diese Projekte würden ihre Nahrungsmittelversorgung einschränken, ihre traditionelle Lebensweise beeinträchtigen und somit ihr Überleben gefährden. Pedro Manuel Loperena hat sich zudem öffentlich gegen das anhaltende Operieren von illegalen bewaffneten Gruppen im Lebensraum der Wiwa ausgesprochen. / Zum Zeitpunkt des Granatenanschlags auf das Haus von Pedro Manuel Loperena befanden sich zudem seine Frau, die im Büro des Menschenrechtsbeauftragten (Defensoría del Pueblo) als Vertreterin der Gemeinschaft tätig ist, sowie seine vier Kinder (sieben, zehn, 18 und 19 Jahre alt) im Haus. Niemand von ihnen kam bei der Explosion zu Schaden. / Im Februar wählte die Gemeinschaft der Wiwa neue GemeindesprecherInnen. Das kolumbianische Innenministerium hat sich bislang geweigert, die neuen SprecherInnen anzuerkennen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 27. Juni 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
echoes
sierra : 5.28 — Eine Ameise hatte trotz der großen Höhe, in der sich meine Wohnung befindet, zu mir gefunden. Sie kletterte vorsichtig gegen den Boden zu, tastete sich über warmes Holz, erreichte ein Tischbein, um kurz darauf direkt vor meinen Augen zu erscheinen. Vielleicht wird sie meinen Atem wahrgenommen haben, einen Wind, denn sie duckte sich kurz, ich hatte den Eindruck, dass sie mich betrachtete. Aber dann lief sie weiter, umrundete meine Schreibmaschine, kreuzte über den Tisch, um auf der anderen Seite wieder abzusteigen und in der Dunkelheit des Fensters zu verschwinden. Nur wenige Minuten später, ich hatte das Zimmer kurz verlassen, bewegte sich eine dunkel schimmernde Ameisenherde exakt auf dem Pfad, den zuvor das einsame Tier genommen hatte, durch den Raum. Ein doch äußerst bemerkenswerter Vorgang. Möglicherweise hatte es sich zunächst um eine Kundschafterameise gehandelt, die mich besuchte. Ihre Brüder, ihre Schwestern waren nun sehr zielstrebig in meinem Zimmer unterwegs. Ich meinte, das Geräusch hunderter Beine vernehmen zu können. Sie trugen Papiere in ihren Zangen wie Fahnen. Tatsächlich waren Zeichen oder Teile von Zeichen auf der Ameisenbeute zu erkennen, die sie gleich hinter meiner Schreibmaschine zu einem Berg schichteten, um sofort wieder zum Boden hin abzusteigen. Nach einer halben Stunde, alle Ameisen waren verschwunden, schloss ich das Fenster. Ich hätte schwören können, mir den Besuch der Ameisen nur eingebildet zu haben, wenn nicht auf dem Tisch das Papierwerk der Wanderer als Beweis zurückgeblieben wäre. Natürlich machte ich mich sofort an die Arbeit. Eine Stunde verging, dann war ich mir sicher gewesen, dass es sich bei dem Artefakt auf meinem Tisch um eine einzelne, zerteilte Buchseite handeln musste. Vier weitere Stunden später hatte ich die Seite und ihre Zeichen rekonstruiert. Folgender Text wurde sichergestellt: ZUVIEL / Die Welt ist „unzählbar“, gefüllt mit Dingen, Büchern, Büchern, die über Dinge sprechen, / die Welt trägt zusammen und die Bücher tragen zusammen, was die Welt zusammenträgt, / und auf seinem Tisch Bücher und nochmals Bücher zu sehen / und Fotobücher, Kunstbücher und Bücher, die von anderen Büchern reden, und sich nun selbst ebenfalls anschicken, die Welt auf einem Blatt Papier zu erfassen, diese verfluchte Summe von Auslassungen zu erfassen, um dem Stapel noch ein eigenes Echo hinzuzufügen … Es ist fünf Uhr geworden. Ich bin zufrieden. Ich habe den Ursprung des Textes erinnert. Er wurde von Yasmina Reza in ihrer Sonate Hammerklavier veröffentlicht und von Eugen Helmlé aus der französischen in die deutsche Sprache übertragen. Draußen wird es langsam hell, Regen fällt. — stop
bergen
MELDUNG. Zu Bergen im Opernhaus, Komediebakken No 9, werden am kommenden Sonntagabend, 5. Mai 2013, zwei junge Moorfrösche, Letzte der Gattung rana aravalis americanus, öffentlich zur Sprengung gebracht. Zündung des männlichen Tieres um 20 Uhr, Zündung des weiblichen Tieres um 20 Uhr 30. Die Vorstellung ist ausverkauft. – stop
siri
sierra : 3.55 — Wenn ich mit Siri spreche, geht alles gut, solange ich nicht flüstere. Aber nun verzeichnen wir seit einigen Stunden doch Fortschritte auch in dieser kaum noch wahrnehmbaren Weise des Diktierens, weil ich hörte, ich könne Siri trainieren, wenn ich nur oft genug mit ihr sprechen, das heißt, so leise sprechen würde, dass ich meiner Stimme selbst gerade noch mit den Gedanken folgen kann. Zur Übung habe ich einen Text über das Verzehren von Büchern gewählt. Folgendes wurde von Siri an mich zurückgegeben. 1. Versuch um 2 Uhr und 55 Minuten: Ob es wirklich ist Papierart zu erfinden, die essbar sind, nachprüft und ob verdaulich könnte sich in einen Park sitzen beispielsweise etwas keckeren beobachten Mittelauweg oder Calvino Bücher die Seite für Seite nach belgischen Waffeln schmecken. 2. Versuch um 2 Uhr 58 Minuten: Ist vielleicht wirklich ist Papiere zu erfinden die essbar sind nahrhaft gut verdaulich man könnte sich in einen Park sitzen beispielsweise und etwas Chatwin beobachten oder Lauri oder kein Jugendbücher die Seite für Seite nach Pagendarm schmeckt nach mir einen Gin Petroleum sehr feinen Hölzern. 3. Versuch um 3 Uhr und 5 Minuten: Ob es vielleicht wirklich ist Papier zu bringen. Die essbar sind nahrhaft und ob vertraulich man könnte sich in einer Tagsatzung beispielsweise etwas checken begutachten oder Lauffreude oder Calvino welcher Seite für Seite nach Bergisch schmecken, nach Bergen schön Petroleo sehr veräppelt. — Für einen Moment hatte ich die Idee, Siri könnte eine Person, könnte vielleicht betrunken sein oder müde. Ich werde das beobachten. Folgender Text wurde zur Übung geflüstert: Ob es vielleicht möglich ist, Papiere zu erfinden, die essbar sind, nahrhaft und gut verdaulich? Man könnte sich in einen Park setzen, beispielsweise und etwas Chatwin beobachten oder Lowry oder Calvino, Bücher, die Seite für Seite nach belgischen Waffeln schmeckten, nach Birnen, Gin, Petroleum oder sehr feinen Hölzern. Einen speziellen Duft schon in der Nase, wird die erste Seite eines Buches gelesen, und dann blättert man die Seite um und liest weiter bis zur letzten Zeile, und dann isst man die Seite auf, ohne zu zögern. Oder man könnte zunächst das erste Kapitel eines Buches durchkreuzen, und während man kurz noch die Geschichte dieser Abteilung rekapituliert, würde man Stürme, Personen, Orte und alle Anzeichen eines Verbrechens verspeisen, dann bereits das nächste Kapitel eröffnen, während man noch auf dem Ersten kaut. Man könnte also, eine Bibliothek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisige Wüsten durchstreifen oder ein paar sehr hohe Berge besteigen und abends unterm Gaslicht in den Zelten liegen und lesen und kauen und würde von Nacht zu Nacht leichter und leichter werden. – Vier Uhr und fünfundvierzig Minuten in Aleppo, Syria. – stop
oslo
auf der roseninsel
india : 5.15 — Ich habe etwas Lustiges geträumt. War nachts mit einem Zug nach Possenhofen gefahren. Ein harter Winter, ich schlenderte am Ufer des Starnberger Sees. Manschetten von Eis umsäumten Steine und Hölzer, die im Niedrigwasser sichtbar geworden waren. Ich erinnere mich, dass ich versuchte Wörter zu finden für Geräusche, die meine Schritte auf dem gefrorenen Boden erzeugten. Ich hatte viel Zeit, ich war auf dem Weg zur Roseninsel. Eichhörnchen flitzten durchs Unterholz, auf Bänken, welche ich passierte, saßen gefrorene Menschen, das war seltsam, weil sie alle lächelten, als wäre das Erfrieren ein angenehmer Vorgang gewesen. Außerdem konnten sie leise sprechen. Wenn ich ihnen eine Frage stellte, nämlich, ob ich auf dem richtigen Weg zur Roseninsel sei, antworteten sie, ja ja, ihre Stimmen kamen aus den Ohren der gefrorenen Gestalten heraus, sodass ich den Eindruck hatte, in den menschlichen Körpern würden weitere Körper sitzen. Auch Fische spazierten im Traum herum, auf Füssen, an welchen sie Wanderschuhe trugen. Dann war ich irgendwann angekommen und wartete am Ufer, ob mich jemand holen würde. Das Wasser an dieser Stelle leuchtete, ein Licht, das sich bewegte. Plötzlich tauchte ein kleines U‑Boot aus dem Wasser. Es hatte die Form einer Zigarre und war durchsichtig und kam sehr nah an das Ufer heran. Eine Luke öffnete sich. Robert De Niro winkte und er sagte, ich solle zu ihm ins Boot steigen. Wir tauchten dann rüber zur Insel, es war Tag als wir angekommen waren, Sommer. Auf einer Bank saß mein Vater, er las in einer Zeitung. Hier, in seiner Nähe, wachte ich auf, weil mein Wecker klingelte. Ich nahm den Wecker in die Hand, und als ich drei Stunden später wieder einmal wach geworden war, hatte ich den Wecker noch immer der Hand, so wie es sein muss, mit den Weckern, wenn man sie träumt. — stop
pseudonym No 5
india : 6.22 — Ich kenne einen Mann, der leidenschaftlich gerne Wörter erfindet. Es handelt sich bei diesen Wörtern um Wörter, die vor ihrer Entdeckung in der Wirklichkeit tatsächlich bisher nicht existierten. Und weil er sich niemals sicher sein kann, ob das Wort, das gerade erst erfunden worden ist, in der Wirklichkeit tatsächlich noch nicht existiert, verbindet er seinen Computer mit der Suchmaschine Google. Wenn das Wort, das erfunden wurde, in den Verzeichnissen der Suchmaschine nicht zu entdecken ist, kann er sich seiner Sache beinahe sicher sein. Das Wort olimambosa, zum Beispiel, wurde in der vergangenen Woche ins Leben gerufen, ein vollständig neues Wort in der digitalen Sphäre. Vielleicht deshalb, weil der Mann im Moment seiner Erfindung sehr zufrieden mit sich und ein wenig stolz gewesen war, sendete er einen E‑Mailbrief an mich, um mir seine Erfindung zu schenken. Er schrieb, er würde sich verwandt mit mir fühlen, da ich ähnlich vorgehen würde wie er selbst. Für diese Behauptung habe er eine beweiskräftige Spur in meinen Particles-Archiven entdeckt. Dort soll ich am 30. Mai des vergangenen Jahres einen Text veröffentlicht haben unter dem Titel Pseudonym No 5. Tatsächlich, ich hatte den Text beinahe vergessen, wurde Folgendes geschrieben: Gestern war das Wetter schön, ich suchte spazierend im Park nach einem Namen für mein Pseudonym No 5. Sobald ich glaubte, einen geeigneten Namen gefunden zu haben, sagte ich ihn laut vor mich hin, ich sagte zum Beispiel: Felix Mayer Kekkola. Als Nachmittag geworden war, gefiel mir dieser Name noch immer, ich hatte Lilli M. Murphy bereits verworfen, auch Kaspar Joe Weidemann und weitere Namen waren gründlich vergessen. Ich notierte den gewählten Namen Felix Mayer Kekkola in mein Notizbuch und ging nach Hause. Es ist seltsam, ich war mit meinem neuen Namen an der Seite stark unruhig bis in den Abend hinein. Ich konnte mir diese Unruhe zunächst nicht erklären, dann hatte ich die Idee, dass ich nachsehen sollte, ob der Name Felix Mayer Kekkola vielleicht im Internet schon längere Zeit existiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der diesen Namen verwendet, um sich zu verbergen und zu veröffentlichen in ein und demselben Moment. Mehrfach prüfte ich mit Suchmaschinen die Existenz einer Spur. Kein Ergebnis für „Felix Mayer Kekkola“ war zu finden. Ich könnte nun also erstens annehmen, dass ein Mensch, der diesen Namen trägt, nicht existiert, was sicher nur sehr vorsichtig formuliert werden darf. Zweitens könnte ich jenen feinen Namen nun für mich besetzen, okkupieren sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen, was in dieser Sekunde genau so geschieht, indem ich meinen Text in die digitale Sphäre sende. – stop
schwäne
sierra : 6.26 — Beobachtung in dieser Nacht, eine Wiederholung, dass sich in der Welt meiner Vorstellung, die Zeit ohne Ausnahme in eine Richtung zu bewegen scheint. Sobald ich mich an einen Ort zurückversetze oder mich mit einem Ereignis verbinde, mich also erinnere, an einen Augusttag am Starnberger See beispielsweise, bewege ich mich als kleiner, von der Sonne gebräunter Junge unverzüglich vorwärts weiter. Auch alle Schwäne bewegen sich vorwärts weiter, Fliegen, Stimmen, Wellen, Sommerfäden. Es sind in meiner erinnernden Arbeit stets nur sprunghafte Bewegungen in der Zeit möglich, als würde der Raum, der zwischen beiden vorgestellten Zeitorten liegt, nicht existieren. — stop
ein kleines tier von luft
marimba : 3.10 — Es ist richtig, ich bin begeistert. Seit zwei Tagen schwebt eine merkwürdige Gestalt durch meine Wohnung. Es handelt sich um ein Lungenballontier, nichts weiter, um eine Kreatur von kühler, sandfarbener Haut in der Größe einer Honigmelone. Wenn ich sage, dass es sich bei diesem Wesen um ein Lungenballontier handelt, dann deshalb, weil das Tier in seiner derzeitigen Erscheinung vorwiegend aus Luft zu bestehen scheint. Es war nämlich nicht sehr groß gewesen, als es mir am Samstag von einem Briefboten in einer flachen Schachtel übergeben worden war. Wie es dort lag, sah es zunächst noch aus wie ein Taschentuch, sorgfältig gebügelt und gefaltet. Genau in seiner Mitte war ein winziger Kopf zu erkennen, ein Mund und eine Nase und Augen, die geschlossen waren, als würde das Tier schlafen. Kaum aber aus seinem Reisebehälter gehoben, holte das kleine, gefaltete Tier Luft und begann langsam zu wachsen. Es war in diesem Vorgang des Wachsens nichts zu hören, als ein äußerst leises Pfeifen, dessen Ursprung ich nicht erkennen konnte. Eine Stunde verging und eine weitere Stunde, bis das Tier sich vollständig entfaltet hatte. Es war rund geworden, nach wie vor aber noch faltig, und es wuchs weiter, und es begann sich von dem Tisch zu lösen, auf dem es die ersten Stunden in Freiheit verbracht hatte. Seither bewegt es sich langsam wie ein Zeppelin durch meine Zimmer. Zunächst war es ins Bad geflogen, dann in die Küche, durch den Flur zurück ins Wohnzimmer, und von dort ins Arbeitszimmer, wo es vor dem Fenster eine Weile verharrte, obwohl draußen tiefe Nacht herrschte. Das Tier hatte inzwischen seine Augen geöffnet, kein Wunder, es schien auch an mir selbst zunehmend interessiert zu sein, wie genau in diesem Moment, da ich notiere. Gerade kommt es wieder zurück aus der Küche, es nähert sich, es ist nun ohne Falten und es schimmert, und noch immer pfeift es leise vor sich hin. — stop