himalaya : 6.46 — Seit einigen Stunden sind heftige Arbeitsgeräusche, – Hämmern, Bohren, Sägen -, aus dem kleinen Raum zu vernehmen, der sich neben meinem Arbeitszimmer befindet, und Männerstimmen, die scherzen und pfeifen. Ich will das schnell erzählen, es handelt sich um einen Vorgang der Montage, weil zwei Handwerker damit beschäftigt sind, einen Eisenbahn-Reisewagon, genauer, die Abteilscheibe eines Zuges, zu verschrauben, die mir gestern Nachmittag bei äußerst schlechtem Wetter in Einzelteilen angeliefert worden waren. Ich habe keinen wirklichen Ausblick auf das, was dort im Einzelnen geschieht, aber ich kann das feine Leder der Sitze des alten Pullmanwagens bereits riechen, den ich mir wünschte, um darin jederzeit fahren und arbeiten zu können. Ein großartiges Erlebnis soll das sein, Stunde um Stunde im historischen Waggon zu sitzen und zu schauen und zu schreiben oder zu schlafen, das rhythmische Geräusch der Schwellen, sommerliche Rheinlandschaften, die auf Bildschirmfenstern vorüberziehen. Die Stimme eines Schaffners, der sich nach Fahrkarten erkundigt, sie kommt näher, der Mann grüßt durch das Fenster der Tür in meine Richtung, immer wieder wird er kommen, ohne je das Abteil zu betreten, in dem ich sitze. Kinder tollen auf den Fluren herum, jemand schreit, dass endlich Ruhe sein soll, Tanzmusik vom Nachbarabteil, Reisende vertreten sich die Beine, zeigen auf Dampferschiffe draußen auf dem Fluss, auch sie sind Bildschirmwesen, Dreißigerjahre, hervorragend gemacht. Ein Kombüsenwägelchen scheppert vorüber, ein Bahnhof, eine Uhr, es wird dunkel und plötzlich tief stehende Sonne über den wilden zornigen Bäumen, die geduckt in einer Schneelandschaft stehen, bald, in wenigen Minuten, werden wir Oslos Zentralstation erreichen. — stop
Aus der Wörtersammlung: endlich
funkstille
~ : malcolm
to : louis
subject : FUNKSTILLE
date : oct 17 12 8.15 p.m.
Ja, warum antworten Sie denn nicht, verdammt, wenn wir ihnen schreiben? Rom. Das ist doch kein Grund, sich nicht zu melden. Kaum auszudenken, wenn wir das so machen würden wie Sie. Frankie haben wir jedenfalls wiedergefunden. Fünf Tage war er nicht zu finden gewesen, kein Signal, kein Frankie im Central Park, wie vom Erdboden verschluckt. Man stelle sich das einmal vor, wir würden Frankie’s Spur verloren haben, wenn es einmal wirklich ernst geworden ist. Wir dachten, die Brennstoffzellen seines Senders könnten ausgefallen sein. Es war an einem Samstag, da war Frankie plötzlich fort, Höhe 76. Straße. Gerade noch kauerte er neben einer Eiche. Wir waren müde, glaube ich, es war Abend, wir saßen in Sichtweite auf einer Bank, vielleicht sind wir kurz eingeschlafen. Natürlich haben wir sofort die Suche nach Frankie aufgenommen. Haben jede Unterführung geprüft und jedes der Abflussrohre, die Frankie zum Verhängnis geworden sein könnten. Grauenvolle Tage, wir irrten ziellos herum. Jedes Eichhörnchen, dem wir uns näherten, konnte Frankie gewesen sein. Das war ein Albtraum, eine ungeheure Sache, wie ähnlich sie sich doch sind. Matt wurde mehrfach in die Hand gebissen, wir tragen jetzt Lederhandschuhe. Und dann kam Frankie zurück. Es war wieder Abend geworden und Frankie tauchte genau dort, wo wir ihn verloren hatten, wieder auf. Langsam kam er auf uns zu, sein Schwanz zitterte, sein fester Körper bebte, er machte den Eindruck, als wollte er uns begrüßen. So nah kam er heran, dass wir ihn berühren konnten. Ich habe mir gedacht, dass Frankie verdammt genau den Eindruck machte, als hätte er nach uns gesucht wie wir nach ihm, und dass er froh gewesen war, uns endlich gefunden zu haben. Das ist schon eine seltsame Geschichte. Gerade sitzt Frankie auf einer Bank neben uns. Er knackt Erdnüsse, die wir im schenkten. Eine Art Bestechung vielleicht. Der Sender piepst. Alles scheint wieder in Ordnung zu sein. Ihr Malcolm – stop / codewort : lilienthal
empfangen am
18.10.2012
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PRÄPARIERSAAL : schlafgänger
charlie : 6.54 — Otto Lilienthal soll als junger Mann ein Schlafgänger gewesen sein wie mein Vater. Ich erinnere mich, dass er einmal erzählte, er habe während früher Forschungszeit sein Bett mit einem „leichten Mädchen“ geteilt. Nachts schlief er auf ihrem Lager, tags sie auf dem Lager meines Vaters. Eine merkwürdige Vorstellung. Sie sind sich, wenn ich mich nicht irre, persönlich nie begegnet sein, aber ihren Gerüchen, Wärme, einem Körperabdruck, Haar. — Kurz vor Sonnenaufgang. Gerade eben lese ich einen E‑Mailbrief June’s, 22. Sie schildert in lakonischer Weise ihre Erfahrung eines Präpariersaales: > Der Tag des ersten Testates: Nervosität, Übelkeit, bestanden! Glücksgefühle, ab nach Hause, schlafen! Jetzt alles tun, außer lernen. Oh, es ist schon spät, verdammt, was muss ich morgen eigentlich machen? Das werde ich in der S‑Bahn schon noch herausfinden. Dann der erste Tag des neuen Abschnitts: Arm oder doch der Kopf? Was muss ich eigentlich tun? Ich hätte mir das gestern doch noch ansehen sollen, meine Assistentin wird mir schon helfen, erst mal das Fett abtragen, da kann ich nicht viel falsch machen. Was muss ich eigentlich finden? Ach, das finde ich morgen auch noch! Endlich nach Hause! – Der 2. Tag: Was habe ich heute zu unternehmen? Verdammt, warum meint mein Assistent, dass es nicht gut ist, dass ich diesen kleinen Hautnerv noch nicht gefunden habe. Feierabend! — Der 3. Tag: Nachtarbeit, müde! — Der 4. Tag. Ich bin schon wieder nicht vorbereitet, ich hatte so viel nachzuholen, bald ist erneut Testat und ich kann noch nicht einmal mein eigenes anatomisches Gebiet erklären. – 5. Tag, zwei Tage vor dem zweiten Testat: Panik! Ich habe überhaupt keine Ahnung. Ich muss noch so viel lernen, dass das alles niemals in meinen Kopf gehen wird. Ich habe zwar schon sehr viel gelernt, aber ich habe alles, was ich lernte, wieder vergessen. — 6. Tag, letzter Tag vor dem Testat: Ich glaube, mein Präpariergebiet kann ich jetzt inwendig und auswendig, aber ich weiß nichts vom Bein! Wenn ich über das Bein gefragt werde, dann falle ich durch! Ich muss noch dringend das Bein lernen! Nein, das lern ich jetzt nicht mehr. Mut zur Lücke. Nacht! — stop
glück
india : 6.00 — Am Flughafen arbeitet ein zierlicher Mann. Er kommt aus Indien, aus Kalkutta genauer, lebt aber schon lange Zeit hier im Exil. Europa ist gut, sagt er, nicht so anstrengend wie meine Heimat. Er heißt Singh, so muss das sein, und steht hinter dem Tresen einer schicken Bar, Terminal 2. Mr. Singh arbeitet seit zehn Jahren immer nur nachts, jede Nacht, Jahr ein Jahr aus, weil ihm der kleine Laden zur Pacht gehört. Hier kann man Rauchwaren kaufen und Zeitungen in allen möglichen Sprachen und Bourbon trinken, leise Jazzmusik im Hintergrund kommt aus Lautsprechern, manche Menschen schlafen an den Tischen ein und werden niemals geweckt, der kleine Mann ist gern ein Wächter der Schlafenden, der Gestrandeten. Wenn er die englische Sprache spricht, dann hört sich das an, als würde seine Zunge auf Stelzen gehen. Deutsch kann er nicht sehr gut, muss er auch nicht, weil er am Flughafen arbeitet, weil hier internationaler Luftraum ist, auch nachts, wenn nichts fliegt, außer im Sommer ein paar Falter, die sich in die Hallen verirrten. Menschen wie ich, sagt Mr. Singh, die nachts arbeiten und am Tag schlafen, fallen die Augen aus dem Kopf. Glauben Sie mir, junger Mann, das ist schon mein fünftes oder sechstes Paar Augen, das Sie hier vor sich sehen. Mit diesen Augen, die frisch und jugendlich zu sein scheinen, schaut er mir seit geraumer Zeit zu, wie ich meine Schreibmaschine bearbeite. Er scheint sehr aufmerksam und tatsächlich interessiert zu sein. Ich erzähle ihm vom Erfinden. Dass das ein wenig wie Fliegen sei. Sobald man einmal losgeflogen ist, kann man nicht einfach wieder aufhören, das wäre eine Katastrophe. Also, sage ich, dass ich mich sehr frei fühle, indem ich notiere. Und ich denke: Diese schönen Augen, wie sie mich sanft betrachten. Und ich erzähle weiter davon, dass ich einen Mann erfunden habe, der Bienen beobachtet. Der Mann führe ein Funkgerät mit sich, er melde an ein Wettbüro, das sich im Seebad Brighton an der englischen Küste befindet, welche Strecken die Bienen fliegen, darauf könne man sein Glück setzen, große Beträge, kleine Beträge. Welche Blume wird die nächste sein, die Blüte einer Mohnblume oder die Blüte eines Löwenzahns? Feuernelken und Bergleberblümchen sind selten, mit Feuernelken und Bergleberblümchen kann man wohlhabend werden. Und wieder diese schönen Augen, wie sie mich betrachten, dunkelgoldene, große Augen, Augen in einem zierlichen Männergesicht, Augen, die Augen einer Frau sein könnten. Augenäpfel. — stop
doppellunge
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : DOPPELLUNGE
Heute, liebe Daisy, liebe Violet, als ich im Park spazierte, hab ich an Euch gedacht. Das war nämlich so gewesen, dass ich wieder einmal übte, im Wandern die Luft anzuhalten. Ich versuchte 100 Meter weit zu kommen, langsam, sehr langsam, dann etwas schneller gehend. Es ist möglich, heute endlich ist es möglich geworden. Plötzlich fragte ich mich, welche Wirkungen die Übung des Luftanhaltens bei Euch früher einmal gezeitigt haben könnte. Ich überlegte, ob ihr Euch über das Luftanhalten verständigt haben würdet. Es ist immerhin denkbar, dass das Anhalten der Luft in Euerem Falle, bei der einen wie der anderen eine gewisse Kurzatmigkeit hervorgerufen haben müsste. Vielleicht werdet Ihr Euch erinnern? Wenn ja, dann gebt mir recht bald Bescheid. Ich arbeite zurzeit sehr hart in diesen Dingen. Vor einigen Tagen habe ich mir eine Passage der Kleinen Erinnerungen José Saramago’s laut vorgelesen, und zwar in der Art und Weise langsamen Ausatmens. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Ich fasste das erste Wort der ersten Zeile des kleinen Textes ins Auge, schöpfte Luft so tief ich konnte und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manchmal frage ich mich, ob bestimmte Erinnerungen wirklich meine eigenen sind oder vielleicht eher fremde, in denen ich unbewusst mitgespielt habe. Ich las so lange ich konnte, ich las, ohne zu atmen, ich las, bis ich alle Luft verloren hatte. Im ersten Versuch kam ich 11 Zeilen weit. Das war natürlich nicht befriedigend. Also setzte ich noch einmal von vorn an, ich hatte eine entspannte Position des Sitzens eingenommen und füllte meine Brust mit Luft und begann zu sprechen. Dieses Mal las ich mit leiser Stimme, wie geflüstert. Ich kam exakt 1 Zeile, also 55 Zeichen weiter. Kurz darauf war zu beobachten gewesen, wie ich mich rücklings auf mein Sofa legte und denselben Text noch einmal hauchte. Das liegende atemlose Lesen ermöglichte nun eine weitere Zeile a 55 Zeichen. Ich machte also kleine Fortschritte in dieser Kunst des Lesens, ich vermochte bald die Zeile 14 des kleinen Textes zu erreichen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mitdenken konnte. Nach einer Stunde des Übens hörte ich für diese Nacht auf, um in der kommenden Nachtzeit fortzufahren. — Herzlichst grüßt Euch Euer Louis. Ahoi! – stop
gesendet am
10.07.2012
22.01 MESZ
2252 zeichen
eiszimmer
sierra : 6.52 — Vor einigen Tagen habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollte ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen, man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. — stop
frankie
~ : malcolm
to : louis
subject : FRANKIE
date : june 9 12 0.05 a.m.
Samstag. Nacht. Gute Nachrichten sind zu übermitteln. Endlich haben wir ein Eichhörnchen gefangen, Central Park, Höhe 76. Straße, ein großes, graues Tier. Wir haben ihm den Namen Frankie verpasst. In diesem Moment schläft Frankie tief und fest. Es ist kaum zu glauben, dass wir seinen kleinen runden Bauch, der sich vor unseren Augen hebt und senkt, in wenigen Stunden öffnen werden. Arme und Beine sind bereits am Tisch befestigt, ein Anblick, der nicht gut zu ertragen ist. Frankie wirkt hilflos, erbärmlich, wie er hingestreckt vor unseren Augen ruht. Als wir ihn badeten, wachte er vom Wasser auf, das er vielleicht nicht gewohnt ist, und zeigte seine kräftigen Zähne. Ich nehme an, er wird in diesem Moment weder hören noch sehen, nur träumen oder auch nicht. Da wir nun alles auf das Sorgfältigste vorbereitet haben, Satellitensender wie USB-Datenträger liegen bereit, bitten wir um präzise anatomische Anweisung, in welche Tiefe wir das Material in Frankies Körper zu versenken haben. Wie lange Zeit sollten wir Frankie nach Operation narkotisieren? Wann könnten wir ihn wieder in die Freiheit entlassen? Antworten Sie bitte rasch! Ihr Malcolm / codewort : hibiskusblüte
empfangen am
9.06.2012
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wolfgang herrndorf : arbeit und struktur
himalaya : 6.52 — Ich weiß nicht wie viel ich zitieren darf. Aber ich will das zitieren, aufbewahren, festhalten, verweisen. Wolfgang Herrndorf zählt in seinem Blog Arbeit und Struktur Monate. Im April notiert er von Essaouira aus: 26.4. 11:46 Drei oder vier asynchrone Muezzins. Auf der Hoteldachterrasse in praller Sonne sitzend und arbeitend, überrascht mich die Meldung vom Tod einer Brieffreundin aus Freiburg. Ihre Erstdiagnose war im Dezember 2010, nach jeder von drei Operationen wuchs das Glioblastom sofort weiter. Im Gegensatz zu mir machte sie sich große Hoffnungen, klammerte sich an neue Mittel und suchte in Studien reinzukommen. Vor zwei Monaten mailte sie: Tamoxifen scheint zu wirken, neuer Herd löst sich auf, alte, bestrahlte Stelle unverändert. Vor fünf Tagen starb sie. / Eine Freundin von ihr schreibt, sie sei zuletzt rund um die Uhr betreut worden, selbst zum Tippen zu schwach. Der Versuch, sie mit den Mitteln der Palliativmedizin in einen stabilen Zustand zu bringen, hatte wenig Erfolg. Auch im Hospiz kam sie nicht zur Ruhe und schrie die Nacht durch vor Angst. Die offensichtliche Kraft, die zum Schreien vorhanden war, habe, so die Freundin weiter, im krassen Gegensatz zum geschwächten Gesamtzustand gestanden. Die Ärzte konnten sie nur beruhigen, indem sie sie komplett sedierten. Sie hat die durchschnittliche Lebenserwartung von siebzehn Monaten knapp verfehlt, in der ungünstigen MGMT–Gruppe gehörte sie noch zu den glücklicheren 15 Prozent. / Unten in der Hotellobby finde ich Per und Lars, an denen ich mich festhalten kann zum Glück. / 26.4. 18:46 Hinter den anderen her durch die Medina auf der Suche nach dem nördlichen Strand und der Fabrik, in der Per seine Schatullen herstellen läßt. Das Gewimmel der vor sich hin krepelnden Menschen, die aus Müll und Abwasser gemachten Straßen, der Gestank, das Geschrei, der Schmutz alles Lebendigen lassen mich umkehren. Sofort verlaufe ich mich. Zweimal renne ich die verstopfte Hauptstraße hoch und runter, bis ich endlich die mit einem Stadttor markierte Abzweigung zum Hotel gefunden habe. / Dann Badehose, dann Spaziergang zum leer und befreiend vorgestellten, aber vermüllten und von Quads zerfetzen südlichen Strand, der vor zwei Jahren noch schön gewesen war. Ich gehe so weit ich kann und über den Fluß und zurück, um wenigstens erschöpft zu sein für den Abend. Ich versuche, mir eine Vorstellung davon zu machen, was es bedeutet, eine Nacht durchzuschreien vor Angst. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es Empathie ist oder Selbstmitleid. Ich denke nicht nach. / Auf dem Weg zum Italiener verliere ich erneut die Orientierung und bin froh, als ich endlich im Bett liege und der Muezzin zum hundertsten Gebet des Tages ruft. Ein großer, mächtiger, tödlicher Gott, der so anhaltend bebetet werden muß. [tbc] > Impressum
subnautilus aquarius
himalaya : 0.05 — Nach vielstündiger, konzentrierter Arbeit ist die Erfindung einer weiteren Gattung schaukelnder Perlboote endlich denkbar geworden. Subnautilus aquarius, Geschöpf reinen Wunsches. Wesentliche Merkmale kurz notiert: Perlboote der Gattung Subnautilus aquarius leben ausschließlich in Süßwasserumgebung, vornehmlich in flachen Gewässern, das heißt, in Gewässern bis fünf Meter Tiefe. Temperaturen jenseits 30° Celsius (doch unter 40° Celsius) sind Voraussetzung, um höheres Alter erreichen zu können. Größe in Reife: 150 mm. Gassteuerung sowohl auf als auch abwärts. Äußere Hülle: Aragonit. Innere Hülle: Perlmutt. Fangarme: 120. Perlboote der Gattung Subnautilus aquarius gebieten weiterhin über die Fähigkeit, Licht zu erzeugen in vielfältigen Farben. Algen (5 bis 8 Gramm pro Tag), aber auch Schuppen menschlicher Haut, werden bevorzugt aus dem Wasser genommen. Man kann hören. — stop
trockenzungen
delta : 6.22 — Ich träumte einmal von einem Schlafsaal, in dem einhundert arme Dichter wohnten. Sie liefen sehr langsam, sagen wir, vorsichtig herum, weil sie nicht wach waren, sondern schliefen. Eines Abends wurden sie in dem Auftrag geweckt, feine Formulierungen für einen besonderen Regen zu finden, einen Regen, der eine große Stadt unter Wasser setzen sollte. Ihre Freude, ihre Begeisterung, vielleicht endlich wieder gehört zu werden. Wie sie durcheinander spazierten. Und das Rascheln der Papiere, das Knirschen der Stifte, das Geräusch ihrer suchenden Trockenzungen. — stop