tango : 5.12 — In der vergangenen Nacht hörte ich eine Tonaufnahme, die vor einigen Jahren während eines Spazierganges an der Isar in München aufgezeichnet wurde. Ein herbstlicher Tag. Das Rauschen des Flusses, bisweilen tosende Geräusche, wie ein weiteres Gespräch im Hintergrund. Und Hunde, und Gitarrenmusik immer wieder, und Schritte, nicht die Schritte der zwei Gehenden vor dem Mikrofon, sondernd Schritte entgegenkommender Passanten. Wir unterhalten uns über Arme und Beine, Muskeln, Sehnen, Nervenstränge. Einmal beginnt es zu regnen, aufschlagende Tropfen sind auf Schirmen deutlich zu hören. Aber wir verlieren kein Wort über den Regen. Die junge Frau, die an meiner Seite wandert, spricht sehr langsam, macht lange Pausen, manchmal scheint sie nicht mir, sondern dem Wasser zuzuhören. Immer wieder erkundigt sie sich, ob das gut so sei, was sie sage, ob ich eine Geschichte daraus machen könne. Sie will nicht, dass ich ihren Namen wiedergebe: Nenn mich ‘junge Frau’ oder nenn mich ‘Studentin’. Manchmal sei sie müde, sagt sie, weil sie bis spät in der Nacht als Platzanweiserin in einem Kino arbeite. Sie sei so müde, dass sie einmal im Präpariersaal am Tisch beinahe eingeschlafen wäre. Das Skalpell sei ihr aus der Hand gerutscht und zu Boden gefallen, da sei sie gerade noch rechtzeitig wieder ganz wach geworden. Der Job wäre aber sehr praktisch, weil sie in den Zeiten der laufenden Filme, manchmal lernen könne, sie führe ihren Taschenatlas immer in ihrer Handtasche mit sich, Notizen und das Skript. Als Kind habe sie ihren Eltern gesagt, dass ihr Herz nicht dort schlagen würde, wo es bei den anderen Kindern üblich wäre. Sie fühlte ihr Herz immer auf der rechten Seite schlagen. Niemand habe sie ernst genommen. Nicht einmal ihr erster liebster Freund habe ihr zugehört, und auch nicht ihr zweiter Freund, der immer an der falschen Stelle sein Ohr an ihre Brust gelegt habe. Der dritte Freund war ein Mediziner gewesen, ein Student, der habe endlich nicht nach ihr, sondern auch nach ihrem Herzen an der richtigen Stelle gesucht. Er habe gesagt: Ein Situs inversus, eine Normabweichung. In dieser Sekunde habe sie beschlossen, Ärztin zu werden. — stop
Aus der Wörtersammlung: handtasche
moskau
bamako : 6.55 — Vor einem Schalter am Centralbahnhof stand eine alte Dame mit einem Koffer, den sie hinter sich herziehen konnte. Sie trug ein blaues Hütchen auf dem Kopf, und sie war grell geschminkt und lachte. Auf den ersten Blick schien sie fröhlich zu warten wie ihr kleiner Koffer, auf den zweiten Blick allerdings war zu sehen, dass sie nicht nur wartete, sondern bewacht wurde von einer weiteren, sehr viel jüngeren Frau und einem Mann, der die Uniform der Bahngesellschaft trug. Wie Säulen standen sie links und rechts der alten Dame, die junge Frau hatte überdies die Handtasche der Bewachten an sich genommen, um sie zu durchsuchen. Eine ihrer Hände wühlte so heftig in der Tasche herum, dass ein Rascheln weithin zu vernehmen war. Sie forschte ein oder zwei Minuten in dieser wilden Art und Weise. Weil sich aber in der Börse der alten Dame kein Dokument zur Identifizierung aufspüren ließ, schüttelte sie den Kopf, beugte sich noch einmal herab, sprach leise zu der alten Dame hin, um sich kurz darauf an einen Schalter zu wenden. Dort saß hinter spiegelndem Glas ein Schatten, der ein Mikrofon an seinen Mund führte, kurz darauf war eine warme, melodische Stimme zu hören, die durch die Bahnhofshalle schallte, sie sagte: Achtung! Wir bitten um ihre Aufmerksamkeit, vor dem Informationsschalter Gleis 24 wartet ein Personenfundstück. Bitte melden sie sich! — Diese Geschichte ereignete sich gestern am frühen Abend, kurz bevor der Fernzug aus Moskau via Warschau den Bahnhof erreichte. Auf dem Bahnsteig warteten viele Menschen. Manche hielten Blumen in ihren Händen. Andere fotografierten. — stop
zwergherzrose
~ : malcolm
to : louis
subject : ZWERGHERZROSE
date : jun 3 14 4.28 p.m.
Es ist vier Uhr nachmittags, ein heißer Tag in New York. Wir sitzen auf dem Promenadendeck, fahren in Richtung Staten Island. Die Flut kommt, der Schiffskörper unter uns zittert. Eichhörnchen Frankie kauert auf einer Bank, als wäre er ein Mensch. Kinder füttern ihn mit Nüssen. Er hält sein Gesicht in den Wind, achtet auf Möwen, die ihn mehrfach attackierten. In seiner Nähe seit zwei Wochen immer wieder anzutreffen, eine junge Frau, auch in diesem Moment ist sie anwesend. Sie kommt am frühen Morgen auf das Schiff, setzt sich an eines der Fenster und beginnt zu lesen. An den Terminals geht sie je von Bord, nimmt irgendeine andere Fähre, um nach zwei oder drei Fahrten wieder auf der John F. Kennedy zurück zu sein. Frankie mag an ihr Gefallen gefunden zu haben. Er sitzt jedenfalls immer in ihrer Nähe, ohne einen Grund, den wir erkennen könnten, sie hat ihn bisher noch nie gefüttert. Auch beachtet sie ihn kaum, weil sie liest. Einmal durchstöberte Frankie ihre Handtasche, jagte mit einem Bleistift davon. Die junge Frau hatte ihn beobachtet, sie lächelte und folgte ihm mit ihrem Blick. Eine reizende Person. Elegant gekleidet, heute mit einem roten Strohhut auf dem Kopf. Allison hatte sie am dritten Tag ihres Erscheinens einige Stunden lang beschattet. Am Abend folgte sie ihr nach Brooklyn, sie scheint nicht verdächtig zu sein, eine Person, die über Zeit verfügt, die vielleicht Schifffahrten mag. Wir notieren sorgfältig ihre Lektüre, gestern noch Carson McCullers Roman Clock Without Hands. Auch kennen wir bereits ihren Namen, wissen, dass ihre Eltern noch leben, welche Schule sie besuchte, sie scheint noch nie in ihrem Leben angestellt gewesen zu sein. Ja, es ist vier Uhr nachmittags an einem heißen Tag in New York. Es ist kaum später geworden. Ein blauer Ball rollt hin und her, als suchte er einen Ausweg. Gestern war ein Mann von Bord gesprungen und wurde gerettet. — Ihr Malcolm / codewort : zwergherzrose
empfangen am
4.06.2014
1948 zeichen
MELDUNGEN : MALCOLM TO LOUIS / ENDE
tarasa shevchenko boulevard
alpha : 3.12 — Auf Nachtbänken schlafen Menschen, ärmlich gekleidete Personen. Sie liegen mit ihrem Kopf auf Taschen, in welchen sich Ausweise und Geld befinden. Sobald Menschen schlafen erscheinen sie in meinen Augen wie Kinder, sie wirken zerbrechlich, auch wenn sie bärenstarke Männer sind, die vor Wochen noch in Rumänien oder Bulgarien lebten. Staubig sind sie geworden, ein strenger Geruch geht von ihren Körpern aus. Wenn sie wach werden am Morgen, wenn sie im goldenen Licht der Flughafentransferräume sitzen, die Luft duftet nach frischem Gebäck und Kaffee, schauen sie mit todmüden, geröteten Augen in den Strom der Passagiere, feine, edle Gestalten dort, viele scheinen fröhlich zu sein, sie führen flache Computer mit sich und Bordzeitungen, sind in graue oder blaue Anzüge gehüllt, in Begleitung schwebender oder rollender Koffer. Es ist kurz nach sechs Uhr. Langstreckenflugzeuge sind gelandet, New York, Los Angeles, Peking, Mumbai, Buenos Aires, Ottawa. Vor einer Rolltreppe warten zwei Frauen. Die eine der Frauen erzählt eine Geschichte in deutscher Sprache mit russischem Akzent. Ich bleibe stehen, ich höre zu. Es ist eine Geschichte, die von der Stadt Kyjiw handelt. Sie sei, sagt die Frau, im Juli des Jahres 1986 nach Kyjiw gekommen, um dort zu singen, das heißt, ein Konzert zu geben. Sie erinnere sich an bleigraue Rohre, die allerorten entlang der Häuserwände in den Straßen verlegt worden seien. Wasser strömte aus diesen Rohren über Gehsteige, es war darum so gewesen, um radioaktiven Staub, der von der Luft herangetragen wurde, fort zu waschen. Für einen Moment der Eindruck, die Frau habe bemerkt, dass ich ihrer Geschichte folge und dass sie nichts dagegen einzuwenden hat. Sie entnimmt ihrer Handtasche sieben Ausweise in weinroter Farbe, Reisepässe, ungültig gewordene Dokumente, in einem dieser Ausweise befindet sich ein Stempel, jener Stempel, der die Reise nach Kyjiw dokumentiert. Es ist eine Frage von Sekunden, bis die Frau mit ihrem rechten Zeigefinger das Papier, auf dem der Stempel seit Jahren festgehalten ist, berühren wird. — stop
prada
tango : 5.16 — Die Handtasche, der ich mich in der vergangenen Nacht eingehend widmete, ist rot und weiß und von feinstem Leder. Zwei Fächer sind in ihrem schmalen Bauch zu finden, die man mit Druckknöpfen verschließen kann. In diesem Moment steht die Tasche auf vier metallenen Füßchen vor mir auf dem Schreibtisch, Schulterriemen, Tragehenkel, Außenfächer, ein wirklich ansehnliches Exemplar, das glänzt und leicht ist. Die Tasche wiegt in nicht befülltem Zustand gerade einmal 400 Gramm, so leicht ist diese Tasche, ganz erstaunlich. Nun habe ich Folgendes unternommen, ich habe zunächst in sorgfältigster Weise einen prächtigen Hautballon gefaltet und in das linke Seitenfach der Leichthandtasche abgelegt. Es handelt sich um ein filigranes, flugfähiges Naturprodukt, welches aus der Schwimmblase eines Mondfisches gefertigt wurde. Ein feiner Schlauch, nicht sichtbar auf den ersten Blick, führt vom Hals des Ballons wiederum zu einem Siphon, in dem sich Helium befindet. Ich habe ihn, nach längerer Überlegung, auf der gegenüberliegenden Seite, im zweiten Außenfach der Tasche untergebracht. Er verfügt über ein Ventil, welches unkontrolliertes Ausströmen des Gases verhindert, über einen Verschluss also, der mit einer sanften Fingerbewegung jederzeit geöffnet werden könnte, so dass das Gas im Bruchteil einer Sekunde in den Ballon schießen, das Futteral des Ballons öffnen und die Handtasche mit Auftrieb ergreifen würde. Sollte ich zu diesem Zeitpunkt das Ventil der Tasche öffnen, endete ihr Flug an der Decke meines Zimmers. — Kurz vor fünf Uhr am Morgen. Schon zu spät, um inmitten der Stadt heimlich einen Freiluftversuch unternehmen zu können. Noch etwas schlafen darum, dann eine Spindel mit äußerst feinem, aber zugfestem Faden in der Länge von 100 Metern an der Tasche befestigen, dann wieder Nacht. — stop
handtasche rot
sierra : 6.35 — Im Haus, in dem ich manchmal wohne, existierte vor langer Zeit eine alte Frau. Sie war so alt geworden, dass sie von Nächten erzählen konnte, die sie im Keller des selben Hauses verbracht hatte, weil Bomben vom Himmel fielen. Damals, als der Krieg endete, muss sie eine junge Frau gewesen sein, sie heiratete, gebar fünf Kinder, wurde geschieden. Ihr Mann und ihre Kinder waren längst gestorben bis auf einen Sohn, der in ihrem Leben zuletzt kaum noch eine Rolle spielte, ihr einziger Enkel hatte sie ausgeraubt, sie war eine wirkliche einsame Person. Jedes Jahr zu Silvester stellte sie kleine Marmorkuchen vor die Wohnungstüren ihrer Nachbarn wie zur Erinnerung, dass sie noch lebte. Ich erinnere mich gut, der Kuchen schmeckte nach Nelken. Wenige Monate vor ihrem Tod kaufte sie noch drei Katzen und verursachte einen Wasserschaden. Von diesem Zeitpunkt an wurde offen über ihren Geisteszustand gesprochen, man fürchtete mit der alten Frau in die Luft zu fliegen, weil sie mit Gas kochte und mit Kohlen heizte. Noch heute scheint der Keller nach der alten Frau zu riechen, nach Öl und nach Eierbriketts. Gestern nun habe ich mich wieder einmal an die alte Frau erinnert. Ich war bei einem jungen Mann eingeladen, in dessen Wohnzimmer auf einem Gestell von Holz eine schwere Stahltür ruhte. Diese Tür hatte sich bis vor kurzem noch im Keller aufgehalten. Es war die Tür zum Luftschutzbunker. In der Mitte der Tür befand sich ein Spion von gepanzertem Glas, ein winziges Auge, durch das die Frau, von der ich erzählte, als Mädchen noch gesehen haben könnte. Immer wieder an diesem Abend betrachtete ich jenes seltsame Auge in der Tür, das gegen die Zimmerdecke schaute. – Samstag, kurz nach 3 Uhr. Es regnet, die Luft ist hell vom Wasser. Gerade eben habe ich nach einem Text gesucht, den ich notierte an dem Tag als die alte Frau gestorben war. Der Text ging so: Die alte Frau mit der roten Handtasche ist tot. Während des Tages irgendwann muss sie im Hospital gestorben sein. Jetzt, es ist ohne sie wieder Abend geworden, verlässt ihr Fernsehgerät das Haus. Ein Hin und Her auf der Straße, noch nie gesehene, tief fliegende Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampfgeräusche, auch zartes Gezeter, Verwünschungen, Empfehlungen, heisere Stimmen. Der Sohn ist da und der Sohn des Sohnes, betrunken steht der blutjunge Geier auf der Straße herum und regelt den Verkehr. Wohnungsauflösung. Nun, zu vorgerückter Stunde, hat sich mir das Wort erschlossen. Ein Prozess der Entropie, der Verwertung, des Verschwindens. Ich sehe die Verschwundene, eine 89 jährige Frau in bunter Kleidung, Stehlampe in der Hand, das Haus verlassen. Unlängst noch war sie unterwegs gewesen. Sie hatte bereits den Gang der Hochseematrosen. Manchmal rastete sie im Schatten der Bäume. Sie ging spazieren, als melde sie sich an, Tag für Tag, und zurück. Niemand weiß genau wie lange sie in der Gegend, diesem Haus, dieser Wohnung lebte, sie war schon da als Bomben fielen, und noch immer, bis gestern, stolz und einsam und zu langsam für die rasende Stadt. Jawohl, sie war stolz gewesen, ließ sich nicht helfen, niemand durfte ihr Milch oder den Sand für ihre Tiere durch das Treppenhaus in die Wohnung tragen. Manchmal heulte das Fernsehgerät durch die Wand. Jetzt ist es vorbei, jetzt werden Monteure und Maler kommen. Es ist vorbei, auch für die Katzen. — stop
josephine besucht chelsea
ulysses : 15.07 — Ich erinnere mich an einen Tag im Mai des Jahres 2010, als Josephine und ich durch den Central Park spazierten. Es war ein warmer Tag gewesen, ein Tag, an dem Waschbären ihre Verstecke im Unterholz flüchteten, um den Sommer zu begrüßen. Nie zuvor hatte ich persönlich Waschbären gesehen, und auch an diesem Tag hatte ich kaum Zeit, sie zu beobachten, weil die betagte Dame an meiner Seite südwärts drängte. Gut gelaunt schien sie ihr Alter nicht im mindesten zu spüren, und so folgten wir der 8th Avenue Richtung South Ferry, passierten die Port Authority Busstation, das zentrale Postamt und die Penn Station, um nahe des Joyce-Theaters in die 18th Straße einzubiegen. Beinahe zwei Stunden waren wir bis dorthin unterwegs gewesen, es dämmerte bereits. Vor dem Haus 264 West blieb Josephine stehen. Sie holte ihr Telefon aus der Handtasche und meldete mit lauter Stimme, dass sie bereits unten vor dem Haus stehen würde und abgeholt zu werden wünsche! Ein Herr, in etwa demselben Alter, in dem sich Josephine befand, öffnete uns kurz darauf die Tür. Er war mit einem Hausmantel bekleidet, der in einem tiefen Blau leuchtete, hatte keinerlei Haar auf dem Kopf und trug Turnschuhe. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte über seine sehr großen Füße, denn der Mann, den mir Josephine mit dem Namen Valentin vorstellte, war eher zierlich, wenn nicht klein geraten. Während wir eine enge Treppe in den sechsten Stock hinaufstiegen, dachte ich an diese Schuhe und auch daran, ob ich selbst in ihnen überhaupt laufen könnte. Bald traten wir durch eine schmale Tür, hinter der sich ein Raum von unerwarteter Größe befand, ein Saal vielmehr, mit einer hohen Decke und einem gut gepflegten Boden von Holz, der nach Orangen duftete. Linker Hand öffnete sich ein Fenster, das die gesamte Breite des Raumes füllte, mit einem großartigen Ausblick auf Chelsea, auf Dachgärten, Antennen und Satellitenwälder, ich glaubte, vor einer Stadt ohne Straßen zu stehen. Und da war nun dieser alte Mann in seinem blauen Hausmantel, der uns bat auf einem Sofa Platz zu nehmen, welches das einzige Möbelstück gewesen war, das ich in dem Raum entdecken konnte. Ein paar Wasserflaschen reihten sich an einer der Wände, die von Backstein waren, von hellem Rot, und an diesen Wänden waren nun Papiere, Fotokopien von Buchseiten genauer, akkurat aneinander gereiht, so dass sie die Wände des Saales bedeckten. Josephine schien sehr berührt zu sein von diesem Anblick. Sie saß mit durchgedrücktem Rücken auf dem Sofa und bewunderte das Werk ihres Freundes, der uns zu diesem Zeitpunkt bereits vergessen zu haben schien. Er stand vor einer der Buchseiten und las. Es handelte sich um ein Papier des 1. Band der Entdeckungsreisen nach Tahiti und in die Südsee von Georg Forster in englischer Übersetzung. Und wie wir den alten Mann beobachteten, erzählte mir Josephine, dass er das mit jedem der Bücher machen würde, die er lesen wolle, er würde sie entfalten, ihre Zeichenlinie sichtbar machen, er lese immer im Stehen, er sei ein Wanderer. — stop
rom : taschen
marimba : 22.05 — Man wird vielleicht nicht sofort bemerken, dass man sich in einem Jagdgeschehen befindet. Nein, von Jägern ist auf der Piazza Navona zunächst nichts zu sehen und nichts zu hören. Ein zauberhafter Platz, länglich in der Form, drei Brunnen, eine Kirche, und Cafes, eines nach dem anderen, kleinere Läden, in welchen wir Pasta in allen möglichen Formen und Farben entdecken, Weine, Schinken, Käse. Am Abend fliegen beleuchtete Propeller durch die Luft. Maler, welche entsetzliche Bilder produzieren, erwarten amerikanische Kunden, sie sitzen auf Klappstühlen im Licht ihrer Glühlampen, die sie mittels Batterien mit Strom versorgen. Straßenmusikanten sind da noch mit ihren Bandoneons, Geigen, Kontrabässen, und Angestellte der Müllentsorgung, Frauen, jüngere Frauen in weinroten Overalls, ihre Hände sind gepflegt, ihre Fingernägel rot lackiert. Aber jetzt, wenn man in Richtung jener schwarzhäutigen jungen Männer blickt, die vor einem der Brunnen den Versuch unternehmen, ihre Arbeit zu verrichten, wird es ernst. Sie haben Handtaschen in allen möglichen Formen auf den Boden vor sich abgestellt, je zwei Reihen, Behälter von Prada, Picard, Chanel, Griffe derart ausgerichtet, dass man sie mit je einer Handbewegung allesamt sofort ergreifen und flüchten kann. Eine durchaus typische Geste, sind doch jene armselig wirkenden Händler der Luxustaschen mehr oder weniger flüchtende Wesen. Kaum haben sie ihre Anordnung im Flanierbezirk möglicher Kunden sorgfältigst aufgebaut, raffen sie ihre Ware wieder zusammen und rasen in eine der Seitenstraßen davon, um nach wenigen Minuten wieder hervorzukommen, wie in einem Spiel, wie aufgezogen. Am ersten Abend meiner Beobachtungen auf der Piazza Navona, waren nur Flüchtende zu sehen, nicht aber die Jäger, eine eigenartige Situation, aber schon am zweiten Abend war eine jagende Gestalt vor meinen Augen in Erscheinung getreten. Es handelte sich um einen Hauptmann der Carabinieri, um einen Herrn präzise mit äußerst aufrechtem Gang. Er trug weiße Streifen an seinen Hosen, und eine Uniformjacke, tadellos, und eine Mütze, sehr amtlich, er war eine wirkliche Zierde, ein Staatsmann, wie er so über den Platz schritt, hinter den flüchtenden afrikanischen Männer her, ausdauernd, lauernd, ein Ansitzjäger, möchte ich sagen, einer, der an Straßenecken wartet, um die Wiederkehr der schwarzen Händler zu unterbinden oder um einen von ihnen einzufangen und an Ort und Stelle unverzüglich zu verspeisen. Stop. Freitagabend. stop. Eine Biene überquert zur Unzeit den Platz in südliche Richtung, als wär sie ein Zugvogel. — stop
helle augen
echo : 17.12 — Eine alte Frau, zarte, gebeugte Erscheinung, die sich in der Nähe eines Geldautomaten in deutscher Sprache bei mir meldet. Sie will wissen, wie es mir geht, erzählt, dass ihr das Gehen schwer falle, dass sie ihr Leben lang eine Handtasche mit sich getragen habe. Nun aber der Stock, dieser verdammte Stock. Dann kommt sie zur Sache. Merkwürdig helle Augen. Sie fragt in englischer Sprache, ob ich vielleicht etwas Geld für sie in meiner Manteltasche finde könne. Ja, sie spricht diesen einen Satz in englischer Sprache, als würde nicht sie, sondern eine ganz andere Frau um etwas Unterstützung zum Weiterleben bitten. — stop
zigarillo
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : ZIGARILLO
Mein lieber Jonathan, Depesche westwärts. Habe an diesem endenden Tag viele Stunden lang Herzen betrachtet und über Zeppelinfluchthandtaschen nachgedacht. Bald noch ein wunderbarer Film, Blue in the face, ein Film, der mir so vertraut geworden ist, dass ich ihn in meinem Kopf abspielen könnte wie einen Traum. Ich müsste dann Folgendes träumen in der zweiten Minute der Zeit, einen Tabakwarenladen träumen, das Jahr 1995 nahe Prospect Park in Brooklyn, Lou Reed, wie er hinter der Theke des Ladens steht. Er raucht ein Zigarillo, nimmt einen tiefen Zug, beginnt zu sprechen, ruhig, entspannt. Er sagt: Ich denke einer der Gründe weswegen ich in New York lebe ist, weil, ich kenn mich aus ihn New York. In Paris kenn ich mich nicht aus. Ich kenne mich nicht aus in Denver. Ich kenn mich nicht aus auf Maui, und ich kenn mich nicht aus in Toronto. Und so weiter und so fort. Ich tu’s also fast aus Bequemlichkeit. Na ja, ich kenne kaum jemanden, der in New York wohnt und nicht gleichzeitig sagt: Ich geh weg! Also ich denke auch schon lang übers Weggehen nach, ungefähr seit 35 Jahren. – Ja. — Ich bin jetzt fast so weit. – Schlafen sie wohl, mein lieber Kekkola, wo auch immer Sie sind! Ihr Louis
gesendet am
21.01.2010
23.32 MEZ
1518 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »