whiskey : 8.28 — Auf der Suche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop
Aus der Wörtersammlung: island
vor montauk
raymond carver goes to hasbrouck heights / 2
zoulou : 3.55 — Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von engen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
josephine begegnet louis armstrong
nordpol : 5.02 — Im September des Jahres 2010 fahren Josephine und ich auf der Staten Island Fähre John F. Kennedy spazieren. Ein schwülwarmer Tag. Gewitterwolken, vom Meer her gekommen, hängen tief über der Upper Bay. Die Luft knistert. Möwen umkreisen das Schiff, wie irr stürzen sie immer wieder herab, schnappen nach Passagieren, die auf der Promenade fotografieren, als ob jede einzelne von ihnen bereits von einem Blitz getroffen worden sei. Wir sitzen, unteres Deck, auf einer der Holzbänke der mittleren Reihen. Ich erinnere mich noch gut an die Stimme der alten Dame, wie sie aufgeregt erzählt. An einem ähnlichen Tag im Jahr 1966, sie war noch eine junge Frau gewesen, habe sie an Bord der John F. Kennedy Louis Armstrong beobachtet. Dort, genau dort saß er, sagt sie, und deutet auf eine Bank in der Nähe der Fenster, die an diesem Tag vollkommen leer ist. Ein Fotograf und zwei weitere Männer seien damals um die bedeutende Person herumgelaufen, man habe ihn fotografiert. Ein schöner Mann, sagt Josephine, ein wirklich schöner Mann, und so berühmt. Sie lacht jetzt und macht eine kurze Pause, schaut ostwärts nach Brooklyn hin. Ich war ein junges Mädchen, erzählt sie weiter, und plötzlich saß dort Louis Armstrong, ganz unglaublich, ich war starr vor Schreck gewesen. Er sah müde aus, und er hatte große Füße und war sehr schwarz für meine Verhältnisse, ein wirklich schwarzer Mann, der vornehm gekleidet war und ich glaube, wenn ich mich erinnere, dass sie auf etwas gewartet haben, immerzu sahen sich die Männer um, sie wirkten ein wenig gehetzt, nur Louis Armstrong nicht. Ich glaube, er hat mich damals gesehen, wie ich ihn anstarrte. Ich war erst 26 Jahre alt, und ich war glücklich, diesem Mann persönlich zu begegnen. Seither habe ich immer, wenn ich die John F. Kennedy gesehen habe, an Louis Armstrong gedacht, jedes einzelne Mal. Die alte Dame Josephine erhebt sich, schlendert zu einer der Türen, die auf die Promenade führen. Ich muss ihr schnell folgen, sie kann die schweren Türen mit ihren eigenen Händen nicht öffnen. Draußen Sturm, das Meer schäumt. Riesige Seemöwen, gelbe Augen, sitzen auf der Reling in unserer Nähe. — Ende der Geschichte. — stop
josef
echo : 5.01 — Ich weiß nicht, wie oft ich schon die Treppen in Josefs kleine Wohnung gestiegen bin. Vielleicht einhundertmal in den siebten Stock unters Dach, seit er mich mit der Aufsicht seiner Blumen beauftragte. Als ich gestern am späten Abend die Tür hinter mir schloss, entdeckte ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter seines Telefons. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Nachricht vielleicht abhören sollte, ich dachte, eine wichtige Nachricht könnte hinterlegt worden sein. Also drückte ich einen Kopf und die Maschine begann alle bisher nicht gehörten Nachrichten abzuspielen, die auf ihr verzeichnet und von mir bis dahin nicht bemerkt worden waren. Rosie erkundigte sich nach Josefs Verbleib, sie waren verabredet, Josef nicht gekommen. Dr. Tauber ließ ausrichten, dass eine Untersuchung für Oktober geplant werden müsse, reine Routine, es war inzwischen Juni geworden. Im Dezember lud Emilie Josef zum Weihnachtssingen in die Schillerschule ein, es ging um ihren Enkel, der in den Chor berufen worden war. Im Januar wurden zwei Botschaften hinterlassen, je ohne eigentliche Nachricht, einmal waren Menschenstimmen zu hören, die Sirene einer Ambulanz, dann eine Stimme, die in englischer Sprache verkündete, dass der nächste einfahrende Zug in Richtung Coney Island fahren würde. Im März wieder Rosies einerseits ärgerliche, andererseits besorgte Frage: Josef, wie geht es Dir? Anfang Mai eine weitere Botschaft, die nur aus Geräuschen bestand, ich glaube, ich hörte das Dröhnen eines Schiffsmotors. Ende des Monats war ein Onkel Josefs gestorben, man bat ihn zu kommen, er sollte sprechen, weswegen man sich drei Tage später noch einmal erkundigte. Im Juni wieder Stadtgeräusche, ein Gewitter im Hintergrund, Stimmen in einer Sprache, die ich nicht kannte. Die letzte Aufnahme, die ich hörte, war von einer ganz besonderen Art gewesen, Glocken waren zu hören, Glocken, wie sie unter den Hälsen von Kühen baumeln. Es war eine sehr lange Aufnahme, kurz bevor sie endete, Josefs Stimme: Kohleralm, Sandwespengesang. — stop
zwergherzrose
~ : malcolm
to : louis
subject : ZWERGHERZROSE
date : jun 3 14 4.28 p.m.
Es ist vier Uhr nachmittags, ein heißer Tag in New York. Wir sitzen auf dem Promenadendeck, fahren in Richtung Staten Island. Die Flut kommt, der Schiffskörper unter uns zittert. Eichhörnchen Frankie kauert auf einer Bank, als wäre er ein Mensch. Kinder füttern ihn mit Nüssen. Er hält sein Gesicht in den Wind, achtet auf Möwen, die ihn mehrfach attackierten. In seiner Nähe seit zwei Wochen immer wieder anzutreffen, eine junge Frau, auch in diesem Moment ist sie anwesend. Sie kommt am frühen Morgen auf das Schiff, setzt sich an eines der Fenster und beginnt zu lesen. An den Terminals geht sie je von Bord, nimmt ieine andere Fähre, um nach zwei oder drei Fahrten wieder auf der John F. Kennedy zurück zu sein. Frankie mag an ihr Gefallen gefunden zu haben. Er sitzt jedenfalls immer in ihrer Nähe, ohne einen Grund, den wir erkennen könnten, sie hat ihn bisher noch nie gefüttert. Auch beachtet sie ihn kaum, weil sie liest. Einmal durchstöberte Frankie ihre Handtasche, jagte mit einem Bleistift davon. Die junge Frau hatte ihn beobachtet, sie lächelte und folgte ihm mit ihrem Blick. Eine reizende Person. Elegant gekleidet, heute mit einem roten Strohhut auf dem Kopf. Allison hatte sie am dritten Tag ihres Erscheinens einige Stunden lang beschattet. Am Abend folgte sie ihr nach Brooklyn, sie scheint nicht verdächtig zu sein, eine Person, die über Zeit verfügt, die vielleicht Schiffsfahrten mag. Wir notieren sorgfältig ihre Lektüre, gestern noch Carson McCullers Roman Clock Without Hands. Auch kennen wir bereits ihren Namen, wissen, dass ihre Eltern noch leben, welche Schule sie besuchte, sie scheint noch nie in ihrem Leben angestellt gewesen zu sein. Ja, es ist vier Uhr nachmittags an einem heißen Tag in New York. Es ist kaum später geworden. Ein blauer Ball rollt hin und her, als suchte er einen Ausweg. Gestern war ein Mann von Bord gesprungen und wurde gerettet. — Ihr Malcolm / codewort : zwergherzrose
empfangen am
4.06.2014
1948 zeichen
MELDUNGEN : MALCOLM TO LOUIS / ENDE
stonington island
whiskey : 2.32 — Das Labor der Eisbücher, mit dem ich vor wenigen Minuten telefonierte, befindet sich seit zwölf Wochen auf Stonington Island, einer felsigen Gegend am nördlichen Rand des antarktischen Kontinents. Ich habe einen Text transferiert, der in diesen Minuten möglicherweise von feinsten Fräsen in Eisblätter eingetragen wird. Ich stelle mir vor, ein helles Geräusch ist zu vernehmen, in dem ein Roboter äußerst behutsam zu schreiben beginnt. Es geht darum, das Eisblatt nicht zu zerbrechen, das so dünn ist, dass man mit einer Taschenlampe hinter die Zeichen meines Textes leuchten könnte. Es ist kalt, der Wind pfeift um hölzerne Baracken, in welchen hunderte Schreibmaschinen bewegungslos warten, bis man sie anruft. Folgende Geschichte habe ich ins Telefon gesprochen: Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung waren zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
emilia nabokov no2
himalaya : 5.15 — Vor längerer Zeit hatte ich von einem Freund erzählt, der den fotografischen Schatten einer Künstlerin via Internet verfolgte. Er arbeitet selbst seit vielen Jahren in digitalen Räumen, beinahe könnte ich sagen, dass er seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr – Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E‑Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Eine halbe Stunde, nachdem die E‑Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorn, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. stop. Es ist jetzt April 2014 geworden. Nach Erscheinen der Fotografie, die den roten Gummistiefel zeigt, wurden von der Künstlerin Emilia Nabokov No 2 weitere 2756 Fotografien gesendet, im Oktober des vergangenen Jahres dann die letzte Aufnahme, seither Stille. — stop
vom nachthausmuseum
sierra : 20.14 — Mein lieber Freund, als ich Deinen nächtlichen Brief las von den Geräuschen im Haus, in dem Du wohnst, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor zwei Jahren notierte. Ich stelle mir vor, diese Geschichte könnte Dich interessieren. Wenn Du Fragen haben solltest, wie man als Nachtmensch unter Tagmenschen sinnvoll existieren kann, melde Dich bitte unverzüglich. Dein Louis. ps. > Hier meine Geschichte: Das Museum der Nachthäuser befindet sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor gehört hatte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit, da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man aller freundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
Viktoria og Marit Ansethmoen
sierra : 6.50 — Ich beobachtete einen älteren Mann, der auf einer Fahrt von Manhattan nach Staten Island Schriftzeichen in die hölzerne Sitzbank einer Fähre gravierte. Ein kalter Wintertag, der Mann war sportlich gekleidet, rote Windjacke, Lapplandmütze, Wanderschuhe, dazu Fäustlinge, die seine kräftigen Hände schützten. Er war überhaupt von mächtiger Statur gewesen. Ich hatte die Vorstellung, dass es sich um einen Norweger oder Finnen gehandelt haben könnte. Als der Mann das Schiff betrat, folgte ich ihm, setzte mich in seiner Nähe nieder. Leichter Seegang, die Scheiben des unteren Decks waren von der Salzgischt geblendet, draußen bedeckte eine Eiskruste die Promenade der Fähre. Während der Überfahrt, da ich den alten Mann beobachtete, spielten ein paar schwarzhäutige Jungs wunderbar scheppernden Blues auf Metallgitarren. Eine Handvoll Schulkinder tollten herum. Das Horn des Schiffes grüßte in die Luft der Upper New York Bay wie immer. Da begann der alte Mann vor meinen Augen mit einem Klappmesser seine Arbeit. Er verfügte über eine schöne Schrift. Während er arbeitete, schien er keinen Blick für seine Umgebung zu haben, er machte das so wie einer, der meint, er sei nicht sichtbar, solange er fest an seine Unsichtbarkeit glaubt. Eine gute Viertelstunde schnitzte er vor sich hin. Dann packte er sein Messer in seinen Rucksack und verließ das Schiff mit allen anderen Passagieren. Kaum waren wir an Land, stellte ich mich in die Warteschlange Richtung Manhattan, um sofort wieder zurück auf dasselbe Schiff zu gelangen, mit dem ich zur Insel hin gefahren war. Nur wenige Minuten später nahm ich genau an der Stelle Platz, an der der Mann gearbeitet hatte. Auf dem Boden des Schiffes lag ein Häufchen dunkler Späne, in den Sitz eingraviert ein Name: Viktoria og Marit Ansethmoen. Dem Namen folgte eine Ziffer: No 7563. Diese Ziffer, und den dazugehörigen Namen, entdeckte ich gestern in einem Notizbuch wieder, das ich damals geführt hatte während winterlicher Fahrten auf Staten Island Fähren. Noch immer weiß ich nicht, was diese Zahl bedeuten könnte, und warum der alte Mann den Namen einer Frau in die Sitzbank des Schiffes eingetragen hatte. Heute Nacht die Vorstellung, ich könnte meinen Text in die norwegische Sprache übersetzen lassen, um ihn der digitalen Sphäre zu übergeben: Alter Manhattanmann, melden Sie sich bitte. Code: Viktoria og Marit Ansethmoen / No 7563 — stop