sierra : 18.01 UTC — Vater an einem Montag, wie er im Arbeitszimmer vor seinem Computerbildschirm sitzt. Er würde sich, wenn er noch lebte, ganz sicher mit dem Internet verbunden haben, um sehr aufmerksam einer Anhörung des U.S. Kongresses zu folgen, die sich der Frage widmete, ob der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika die Wahrheit oder wissentlich die Unwahrheit erzählte, als er den 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika über den Kurznachrichtendienst Twitter eines schweren Vergehens bezichtigte. Ich sehe wie mein Vater seinen Kopf zur Seite neigt, er lauscht, er wartet, es ist ein spannender Tag. — Ich habe meinen Vater immer wieder einmal beobachtet wie er las oder schlief oder an seinem Computer arbeitete. Manchmal dachte ich, dass er nun wirklich alt geworden sei, obwohl ich ihn immer schon als einen alten Mann wahrgenommen hatte, eben sehr viel älter als ich selbst. Ich erinnere mich an einen Sommerabend, vor fünf Jahren. Mein Vater sass auf einem Stuhl in seinem Garten. Vor ihm stand ein kleiner Tisch und auf diesem Tisch eine Flasche Wasser mit einem Drehverschluss. Ich glaubte damals, dass mein Vater mich nicht bemerkte. Er schien mit der Flasche zu sprechen. Er beugte sich vor, hielt die Flasche mit der einen Hand fest, während er mit der anderen Hand an ihrem Verschluss drehte. Aber die Flasche war nicht leicht festzuhalten gewesen, vermutlich deshalb, weil sich die Feuchte der Luft auf ihr niedergeschlagen hatte. Also lehnte sich mein Vater wieder auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich nehme an, er wird eingeschlafen sein. Als er wieder erwachte, war ich noch immer da und auch die Flasche stand noch auf dem Tisch. Mein Vater beugte sich vor, nahm die Flasche und drehte an ihrem Verschluss. Erneut schien er sich mit der Flasche zu unterhalten, ohne aber die richtigen Worte zu finden, weil die Flasche sich noch immer dagegen wehrte, geöffnet zu werden. Also lehnte sich mein Vater erneut zurück, er schüttelte den Kopf. In diesem Moment schwebte eine Libelle über den Tisch. Sie betrachtete meinen Vater, setzte sich auf den Verschluss der Flasche und faltete ihre Flügel. Ein Moment der Stille, des Friedens. Ein paar Zikaden waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wieder eingeschlafen, es wurde dunkel und die Libelle verschwand. Als er erwachte, saß ich unmittelbar vor ihm. Ich hatte die Flasche für ihn geöffnet und ein Glas mit Wasser gefüllt. Mein Vater erzählte, dass er sich gewundert habe, warum er die Flasche nicht öffnen konnte, er habe sie doch selbst zugedreht. — stop
Aus der Wörtersammlung: nachricht
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR : “Der Sprecher des tschetschenischen Parlaments hat am 6. Januar seinen Instagram-Account benutzt, um den bekannten Journalisten Grigory Shvedov zu bedrohen. Grigory Shvedov ist der Chefredakteur des Kaukasischen Knotens, einer unabhängigen Website, die über die Lage im Kaukasus berichtet. / Grigory Shvedov ist der Mitbegründer und Chefredakteur der Webseite Kaukasischer Knoten, einer der seriösesten Nachrichtenquellen zur kaukasischen Region. Das Medienunternehmen und dessen Angestellte erhalten regelmäßig Drohungen und werden im Zusammenhang mit ihrer Arbeit schikaniert und tätlich angegriffen, insbesondere weil sie über die Menschenrechtssituation im Nordkaukasus und über Tschetschenien berichten. / Am 6. Januar richtete Magomed Daudov, der Sprecher des tschetschenischen Parlaments und einer der mächtigsten tschetschenischen Beamten, eine kaum kaschierte Drohung gegen Grigory Shvedov. Magomed Daudov veröffentlichte auf seinem Instagram-Konto das Bild eines Hundes mit einem Knoten in der Zunge, das den Untertitel trug: “Kaukasischer Knoten?” In der Bildunterschrift bezeichnete er den Hund als “Shved” und sagt, dass er “statt nützliche Arbeit zu tun, an Kämpfen zwischen Hunden anderer Rassen teilnehme”, und eine “besondere Schwäche für den kaukasischen Schäferhund hat”. Er schlug vor, dass “Shveds” Zunge auf eine normale Größe zurückgeschnitten und seine Zähne gezogen werden sollen. Magomed Daudov ist ein enger Mitarbeiter des Präsidenten von Tschetschenien Ramzan Kadyrov. Der Pressesprecher der tschetschenischen Verwaltung hat abgestritten, dass der Post Drohungen beinhalte. / Journalist_innen, die über die Situation in Tschetschenien berichten, werden häufig bedroht und einige wurden bereits getötet. So wurde Natalya Estemirova, die häufig Beiträge auf der Webseite Kaukasischer Knoten veröffentlichte, im Juli 2009 in Tschetschenien entführt und ermordet. Anna Politkovskaya, die ebenfalls über Tschetschenien berichtete, wurde im Oktober 2006 vor ihrer Moskauer Wohnung erschossen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 20. Februar 2017 hinaus, unter > ai : urgent action
herzkern
sierra : 1.18 — M. erzählte, sie habe eine Nachricht erhalten, die sie mitten ins Herz getroffen habe. Sofort die Frage: Existiert eventuell ein anatomischer Ort, den man als Herzmittelpunkt bezeichnen könnte, eine Art Herzkern vielleicht. Auch das Wort Herzblut wird nach und nach zu einem Wort, dessen Verständnis in meinen Ohren nicht länger selbstverständlich ist. — stop
seltsam
ulysses : 1.18 — Wie ist es möglich, Geschichten zu erzählen, die seltsam sind, ohne sofort selbst für seltsam oder merkwürdig oder gar gefährlich gehalten zu werden, da doch diese merkwürdigen Geschichten in meinem Kopf entstehen? Ich habe L. von Esmeralda erzählt, dass Esmeralda eine Schnecke sei, die in meiner Wohnung lebe, als wäre sie eine Katze, dass ich das kleine Tiere füttern würde, dass ich meine Wohnung im Winter beheize, auch wenn ich nicht anwesend sei, damit Esmeralda nicht frieren möge. Liebe L. sagte ich, ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mir aus freien Stücken eine Schnecke zu kaufen oder aber zur Sommerzeit in einem Garten einzufangen, nein, niemals, wenn nun aber eine Schnecke als Geschenk, als kostenfreie Offerte auf postalischem Wege zu mir reiste, warum sollte ich das Geschenk zurückweisen, warum nicht einen Versuch unternehmen, ein guter oder vorzüglicher Schneckenhalter zu werden? Wir werden es versuchen, sagte ich zur Schnecke kurz nachdem sie angekommen war. Jahre sind seither vergangen, Esmeralda scheint mit ihrem Leben in meiner Wohnung einverstanden zu sein. Einmal öffnete ich die Tür zum Treppenhaus und wartete. Ein anderes Mal öffnete ich ein Fenster und wartete wiederum einige Zeit, Esmeralda blieb oder kehrte zurück. Es stellt sich nicht zum ersten Mal die Frage: Wie alt werden Schnecken? Ist Esmeralda nicht vielleicht bereits viel zu alt, um noch als gewöhnliche Schnecke betrachtet werden zu können? — stop
namen
delta : 1.05 — Vor einigen Wochen hatte ich einen Luftpostbrief an Mr. Sini Shapiro nach Manhattan geschickt. Ich notierte ihm von einem weiteren Schreiben, das ich an ihn persönlich vor einiger Zeit nach Kalkutta ( Indien ) sendete. Der Brief war zurückgekommen, er trug Hinweise auf seiner Anschriftenseite, die von mehrfachen vergeblichen Zustellversuchen zeugen, ein Kunstwerk, würde ich sagen, ein Dokument sorgfältiger Arbeit. Heute antwortete Mr. Shapiro. Er schrieb in einer E‑Mailnachricht, er habe sich gefreut, weil ich seinen Namen verwendete, um eine Briefsonde nach Kalkutta zu schicken. Ausserdem freue er sich über meine Frage hinsichtlich bevorzugter Lektüren. Er übermittelte eine Namensliste jener Persönlichkeiten, deren Bücher Mr. Shapiro bald einmal lesen, deren Leben er bevorzugt studieren würde. — Es ist merkwürdig, ich habe nicht damit gerechnet, dass Mr. Sini Shapiro über ein E‑Mailadresse verfügen könnte. Es ist nun doch wahrscheinlich, dass Mr. Shapiro ausserdem über eine Computerschreibmaschine verfügen wird, die der digitalen Sphäre verbunden ist. — stop
oft habe man tage lang gewartet
nordpol : 2.58 — Von ihrer Zeit, die sie als Flüchtlingskind auf dem Land verbrachte, erzählt Mutter immer wieder gern. Sie hatten genug zu essen, weil sie und ihre Schwestern bei einer Bauernfamilie wohnten. Wenn der Vater am Wochenende zu Besuch kam, ahnte sie nichts von Tieffliegerangriffen auf Züge, mit welchen der Vater reiste, aber an seine staubigen Anzüge, weil er sich auf den Boden werfen musste. Die brennende Stadt München, obwohl in großer Entfernung liegend, war im Schein der Feuer damals am Horizont zu erahnen gewesen, wie Abendrot inmitten der Nächte. Dann das Warten auf eine Nachricht am nächsten Morgen. Oft habe man Tage lang gewartet. Sie selbst habe zweimal einen Bombenangriff auf München erlebt, das war zu Beginn des Luftkrieges. Sie habe sich nicht gefürchtet, es sei vielmehr spannend gewesen mit ihren Nachbarn und anderen Leuten so eng in einem Keller zu sitzen. Es gab Pralinen für die Kinder und einen Geschichtenerzähler. Ein Jahr später sei ihre große Schwester nach einem Angriff lange Zeit verschüttet gewesen und deshalb für Wochen verstummt. In dieser Zeit habe sie gehört, dass die Schollwöcks abgeholt worden seien, sie könne nicht sagen, weshalb sie als Kind schon wusste, dass das Abholen etwas Schreckliches gewesen sein musste für die, die abgeholt wurden. Sie habe beobachtet, dass die Abgeholten niemals wiedergekommen seien, und dass von ihnen bald nicht mehr gesprochen wurde. Das alles habe sie als Kind schon so bemerkt, weil Kinder sehr viel mehr bemerkt haben, als die Erwachsenen vielleicht glaubten. Dass die Eltern in der Wohnung vor dem Krieg das Hitlerbild immer umgedreht haben, davon durfte sie nicht erzählen, in der Schule nicht und auch anderswo nicht. Einmal sei sie vom Land her wieder in die zerstörte Stadt zurückgekommen, es war ein nebliger Tag gewesen, sie habe zunächst gedacht, es sei der Nebel, aber das Haus, in dem sie und ihre Schwestern aufgewachsen waren, existierte nicht mehr. Damals würden sie Bisamratten gegessen haben, die schmeckten sehr gut, und der Vater sei gelb geworden im Gesicht, weil seine letzte Niere langsam versagte. In dieser Zeit habe der Vater ihr viel von der Welt erzählt, wie sie funktioniert, er sei verstört gewesen, dann sei er gestorben. — stop
über grönland
sierra : 0.25 — Plötzlich, wir flogen gerade irgendwo über Grönland dahin, wurde das Mädchen wach mitten in der Nacht während eines Fluges gegen die Zeitrichtung von Ost nach West. Als wir in New York starteten, beinahe Dunkel, oben, in großer Höhe über Boston wurde es etwas heller, Himmelsfarben von zartem Blau und orangefarbenen Tönen, die sich während des Nachtfluges kaum veränderten. Rauschende Stille unter dem Kabinendach, das sich über schlafenden Menschen wölbte, da und dort leuchtete der Bildschirm eines Computers oder eines Telefons im Dämmerlicht. Es war kühl geworden, vielleicht deshalb, weil es kühl geworden war, wachte das Mädchen auf. Das Mädchen war eine Japanerin, ungefähr sechzehn Jahre alt, zierlich, sie schien sehr routiniert im Fliegen zu sein, reckte sich, sah kurz zu mir hin, sah, dass ich eine Decke ausgebreitet hatte über meinen Beinen, fischte selbst eine Decke unter ihrem Sitz hervor, breitete sie über ihren Schoß, holte ein Handy aus ihrer Handtasche, die seltsam schillerte, als würde sie aus Flüssigkeit bestehen, und begann sofort zu schreiben. Das war eine seltsame Art und Weise zu schreiben, wie das Mädchen schrieb. Eine Hand, ihre linke Hand, hielt sie unter der Decke verborgen, in der rechten Hand ruhte das Telefon wie ein kleiner Vogel rücklings, so dass sein Telefonbauch sichtbar wurde, eine Tastatur, über welche nun ein Daumen in einer Geschwindigkeit hüpfte, dass ich meinen Blick nicht lösen konnte. Sie schrieb sehr lange Zeit, notierte WhatsApp — Nachrichten an Personen, deren Avatare ich gut, deren Zeichen ich unmöglich zu lesen vermochte, an Menschen oder Computer, die ihr unverzüglich antworteten, so dass sie von einem Dialog in einen anderen hüpfte, indessen sie ihrerseits beobachtete, wie ich meinerseits ihren Daumen beobachtete, was sie nicht weiter zu stören schien, vielleicht weil ihr gefiel, dass ich ihre Geschicklichkeit bestaunte, oder auch weil sie fand, dass sie über einen hübschen Daumen verfügte. Ihr Daumen war sehr klein, dachte ich noch, weil er einer sehr kleinen Japanerin gehörte, die in der Zeit, da sie neben mir sass, keinen Laut von sich gab. Ihren notierenden Daumen beobachtend, schlief ich schliesslich ein. Als ich erwachte, war auch das Mädchen wieder eingeschlafen. Sie lag unter der Decke, die sie bis zu ihren Schultern hoch gezogen hatte, ihre Hände waren vermutlich vor der Brust gekreuzt, genau dort bewegte sich etwas, hüpfte. Das war über Irland gewesen. Struktur eines neuen Jahrtausends. — stop
1:16:15
echo : 0.08 — Auf dem Kapitol zu Washington berichtet ein pakistanischer Bürger, Überlebender eines Drohnenangriffs, im Beisein seiner Kinder Abgeordneten des amerikanischen Kongresses: Ich mag keine blauen Himmel mehr. Graue Himmel sind mir lieber. Bei grauem Himmel fliegen die Drohnen nicht. Für kurze Zeit lassen die Angst und die Anspannung nach. Klart der Himmel auf, kehren die Drohnen zurück und mit ihnen die Angst. Wenige Minuten später sind in dem norwegischen Dokumentarfilm Drone Kinder zu sehen, die mit Steinschleudern gegen den Himmel schiessen. Auf Flachdächern eines Dorfes werden überlebensgroße Porträts von Opfern des Luftkrieges ausgelegt. Der Versuch eines Gespräches, wie mir scheint, mit in der Ferne operierenden Piloten der Drohnenmaschinen am Himmel, Klage, Bitte, Mahnung. Ist das eine Nachricht? — stop
sechs finger
sierra : 0.28 — Kurz nach Mitternacht wiederum stürzte ein Falter auf meinen Schreibtisch. Ich hatte die Fenster geöffnet, kühle und doch würzige, feuchte Luft von draußen, und eben der Falter, der plötzlich vor mir auf dem Rücken lag und sich nicht mehr rührte, als wäre er während seines Nachtfluges tief und fest eingeschlafen. Da war nun eine seltsame Frage. Wie wecke ich einen schlafenden Falter, ohne ihn in Angst und Schrecken zu versetzen? Ich könnte mit meinem Atem etwas Wind erzeugen, oder aber ich könnte nach einem feinen Pinsel suchen. Ich könnte andererseits so tun, als wäre der Falter nicht wirklich. Ich muss das nicht sofort entscheiden. Nein, ich muss das nicht sofort entscheiden. Ich notiere: Vor wenigen Stunden meldeten Nachrichtenagenturen, Rebellen hätten einen Korridor zu eingeschlossenen Menschen im Zentrum der Stadt Aleppo freigekämpft. Wer sind diese Rebellen, was denken sie, was haben sie vor? Vor wenigen Tagen noch beobachtete ich, wie die kleine M. ihre Finger zählte, es war seltsamerweise immerzu sechs Finger. Auch ich habe sechs Finger, wenn M. sie zählt. — stop