delta : 20.58 UTC — Es war an einem Abend kürzlich, dass ich die wohlklingende Stimme einer Frau bemerkte, die in einem Wasserbus jeweils die kommende Haltestation der Linea 4.1 ankündigte. Je länger die Fahrt dauerte, desto dringlicher wurde der Wunsch, diese Stimme aufzunehmen, sie festzuhalten, sie für mich einzufangen. Ich fuhr nach Redentore zurück und setzte mit meiner Rundreise um die Stadt Venedig von Neuem an. Indessen verzeichnete meine Schreibmaschine jedes Geräusch der einstündigen Fahrt, Wellen, Gespräche, Kommandos des Piloten und seiner Assistentin, das knirschende Geräusch der Taue, wie sie sich um eiserne Kamelschiffshöcker winden, auch Schritte der Aussteigenden, Schritte der Zusteigenden, und eben immer wieder diese zärtliche Stimme: Prossima fermata Celestia. Next stop Celestia. Wie, wenn diese Stimme noch in Jahrhunderten hörbar wäre, diese Stimme einer dann längst vergangenen Person. Kein Grund zu entdecken in dieser Minute, weshalb je weitere Stationen der Stadt Venedig zu erfinden wären. stop
Aus der Wörtersammlung: rede
redentore
nordpol : 16.58 UTC — Von der Wasserbusstation Redentore aus ist heute das Schwesterchen Zitelle nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mittels gewöhnlicher Ohren die Luft betastet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudecca, ein leichter Wind weht von Ost. Es ist vielleicht deshalb so still, wo es doch nicht wirklich still sein kann, weil die Luft langsam westwärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stelle in die Tiefe begeben würde, ein Fisch werden, ein Fisch sein, wenn man ins Wasser tauchte, könnte man Zitelle ganz sicher weithin singen hören, ihr Pfeifen und Zetern tagein und tagaus, dass es eine wahre Freude ist, wie sie immer wieder kurz innehält, um zu lauschen, ob ihr jemand antwortet, vielleicht von Palanca her oder von den Giardini – Zwillingen, die sich immer wieder einmal melden, sobald die See stürmisch geworden ist. Es heißt, dieses Singen, Zetern, Jaulen der Wasserbusstationen sei weit ins offene Meer hinaus zuhören. Kein Wunder demzufolge, kein Wunder. – stop
afrika
echo : 0.08 — Ein Mädchen wartet vor einer Ampel an der Hand seiner Mutter. Auf der anderen Seite der Straße steht ein Mann in einem weiten, bunten Gewand. Er ist von schwarzer Hautfarbe und spricht mit lauter Stimme in ein Telefon. Das Mädchen fragt die Mutter: Warum redet der Mann so laut? Die Mutter antwortet: Der Mann telefoniert mit Afrika! Das Mädchen schaut zu dem Mann hinüber. Plötzlich sagt es: Das ist aber sehr weit entfernt. — stop
von bestien
lima : 15.42 UTC – Was für ein wunderbarer Nachmittag. Sonne scheint ins Arbeitszimmer, Magnolien blühen, und die Luft duftet nach Fröschen und Zimt. Hörte Charlie Parkers Summertime, während ich im Echokammerthread auf Position Twitter pfundweise Drehorgelsätze über Gutmenschen lese, die man gern aufhängen würde, wenn man doch endlich einmal aufräumen dürfte. Das Wort aufräumen ist ein sehr begehrtes Wort in der Kammer. Auch heute wieder geht Europa, geht Deutschland unter, und alle, die anderer Ansicht sind, lügen. Würden sie, die Andre88 heißen, Rebell77, Ausbilder Schmidt, Werwolf, Deutschrose, würden sie, die in dieser Weise heißen, tun, wovon sie reden, hätten wir viele lustvolle Bestien überall auf den Straßen, in den Parks, den Hinterhöfen. Auch Eichhörnchen, unsere lieben mitteleuropäischen Eichhörnchen, würden dann, von Menschenvorbildern geleitet, mit gefletschten Zähnen zugereiste Nutrias im Teich des botanischen Gartens bis zu ihrem bitteren Ende jagen. — stop
loop
foxtrott : 22.15 UTC – In einem Aufzug habe ich heute etwas Merkwürdiges erlebt. Ich wurde nämlich verdächtigt, mittels meines persönlichen Zeigefingerabdrucks gewisse Vorteile erzielen zu können. Der Aufzug erkennt sie, sagte eine empörte Frau, die überzeugt gewesen war, der Aufzug hätte eigentlich nach oben, wie von ihr gewünscht, nicht nach unten fahren dürfen. Die Frau hielt in diesem Augenblick ihrer Rede eine Schere in der Hand, sie war überhaupt miserabel gelaunt. Ich überlegte, ob ich ihr nicht eine Geschichte zur Beruhigung erzählen könnte, eine sehr kurze, spannende, eine überzeugende Geschichte. Ich lächelte sie an, atmete tief ein und aus, als ich bemerkte, dass mir keine Geschichte einfallen wollte, außer diese Geschichte selbst. Ich sagte also: Stellen Sie sich vor, ich habe heute in einem Aufzug etwas Merkwürdiges erlebt. — stop
von der stille
himalaya : 20.12 UTC — Einmal spazierte ich durch New York an einem warmen Tag im April. Ich ging einige Stunden lang ohne ein Ziel nur so herum, manchmal blieb ich stehen und beobachtete dies oder das. Ich dachte, New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, um zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehen, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nachtmensch oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann von Zeit zu Zeit ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und für einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, was Menschen, die mir begegneten, erzählten. So ging ich damals dahin, ich glaube, ich spazierte im Kreis herum, berührte da und dort die Küste eines Flusses, und als es Abend wurde, besuchte ich Marina Abramović, die seit Monaten bereits in einem Saal des Museums für moderne Kunst auf einem Stuhl saß. Wie sie Menschen erwartete, um mit ihnen gemeinsam zu schweigen, berührende Stunden, und ich dachte und notierte, wie ich heute wieder notiere, es geht darum, in der Begegnung mit Menschen Zeit zu teilen, es geht darum, die Zeit zu synchronisieren, in meinem Falle geht es darum, langsamer zu werden, um Menschen in der Wirklichkeit nahekommen zu können, es geht darum in dieser rasenden Welt von Stillstand, so langsam zu werden, und wenn es nur für wenige Stunden ist, dass ein Gespräch, eine Berührung, überhaupt möglich sein kann. Daran wieder erinnern, Tag für Tag. — Heute bin ich nicht in New York. Wo ich bin, schwebt ein dunkler, schlafender Zeppelin am Horizont, der möglicherweise bald aufwachen und blitzen wird. Ein schöner, nachdenklicher Tag, weitere schöne Tage werden folgen. Ich werde langsam lesen und langsam sprechen, und denken werde ich so langsam wie nie zuvor. Ich werde die Empfindung der Zeit zur Geschmeidigkeit überreden, ja, das ist vorstellbar, weiche, warme Stunden. — stop
vom drohnenvögelchen
echo : 17.18 UTC — Er fliegt nicht, sagte die kleine S. am Telefon. Es ist früher Abend, die helle Stimme am Telefon klang ängstlich. — Wer fliegt nicht, wollte ich wissen? — Na, der Vogel, den Du mir geschenkt hast, er sitzt auf dem Boden und bewegt sich nicht. S. war beunruhigt, sie sagte, der Vogel sei gerade noch durch die Küche geflogen, dann sei er vor dem Küchentisch gelandet, jetzt sitze er reglos auf dem Boden. Sind denn seine Lichter noch an, erkundigte ich mich. Nein, sagte S., auch die Lichter brennen nicht, und er sagt nichts, keinen Pieps. — Ich überlegte kurz, wechselte den Hörer meines Telefons vom linken an mein rechtes Ohr: Ich glaube, ich weiß, warum Dein Vogel gerade nicht fliegt. Hör zu, ich werde mich ein wenig umhören, dann rufe ich Dich wieder an! — Vielleicht sollte ich an dieser Stelle schnell erzählen, dass ich meiner Nichte S. im vergangenen Jahr zu Weihnachten eine fingerlange Drohne für Kinder schenkte, die wunderbar blinken kann in blauen und roten Farben. Bisweilen gibt sie Geräusche von sich, als wäre sie eine Lokomotive. Dieses Wesen, dem Vernehmen nach weltweit die einzige Lokomotivengattung, die zu fliegen vermag, lässt sich über eine handliche Funksteuerung manövrieren. Ich habe das selbst ausprobiert, das ist nicht ganz einfach für Kinder, und auch für erwachsene Personen eine Herausforderung. Ich vermutete nun, dass die Stromversorgung der Drohne möglicherweise ausgefallen sein könnte. Kurz nachdem ich herausgefunden hatte, wie man die Batterien der Lokomotive auswechseln könnte, rief ich meine Nichte wieder an. Ihre Mutter kam ans Telefon, Sekunden später S., die fröhlich erzählte, der Vogel sei wieder in der Luft, sie könne im Moment nicht reden, sie müsse aufpassen, dass der Vogel sich nicht wieder auf den Boden setzt. Ein leises Surren war zu hören, dann Schritte, dann eine helle Stimme, die bereits zum Vogel sprach: Komm, wir fliegen jetzt ins Wohnzimmer. — stop
ein präsident
alpha : 5.12 — Während einer seiner Wahlkampfreden im November des vergangenen Jahres, simulierte der 45. nordamerikanische Präsident in abwertender Weise Bewegungen eines Journalisten, der seit seiner Geburt mit einem körperlichen Handicap lebt. Der Moment, da der 45. nordamerikanische Präsident sich selbst, sein Wesen, seine Kultur, seine Würde, in authentischer Methode zur Darstellung brachte, wurde aufgezeichnet. Ich werde diese Filmsequenz niemals vergessen, ich werde diese Filmsequenz stets vor mir sehen, sobald ich den 45. nordamerikanischen Präsidenten über einen Bildschirm schreitend oder auf ein Blatt Zeitungspapier gedruckt wahrzunehmen habe. Wir werden Großartiges tun! Wir werden Amerika wieder großartig machen! — Der 9. November 2016 ist ein großartig, schrecklicher Tag. — stop
von den katzenschnecken
alpha : 4.05 — Ich will, ehe es hell werden wird, noch schnell von einer besonderen Schneckengattung erzählen, von den Katzenschnecken nämlich. Ich gestehe, ich habe kein Tier dieser Art mit eigenen Augen gesehen, aber ich habe von ihnen gehört, man erzählte, nein, man versicherte, sie würden tatsächlich bereits wirklich existieren. Das Besondere an diesen Molluskentieren soll sein, dass sie menschlicher Schöpfung sind, jemand muss eine gewöhnliche Weinbergschnecke mittels eines speziellen genetischen Codes so veredelt haben, dass sie sich sehr schnell, in etwa so schnell und hektisch wie größere Ameisen bewegen. Aber warum, fragte ich mich, sollte man Schnecken, die doch von Natur aus eher gemütliche Persönlichkeiten sind, beschleunigen? Man erklärte, man habe überlegt, dass Schnecken, wenn man sie beschleunigen würde, für die Augen der gemeinen Landkatzen sichtbar werden würden und somit zur Beute. Katzen würden fortan allerhand Probleme lösen, die sich für Gartenbesitzer im Frühling nach und nach entfalten. Ist das nicht wunderbar, rasende Schecken, ein paar Hundert von Ihnen sollen sich bereits in den Bergen auf einer streng behüteten Wiese tummeln? Von den Katzen, die man vor drei Tagen ins Schneckenfreiluftgehege warf, soll noch keine einzige zurückgekehrt sein. — stop
brighton beach ave
~ : louis
to : mrs. valentina zeiler
brooklyn translation services
23 brighton beach ave,
Brooklyn
subject : BRYANT PARK
Sehr geehrte Frau Zeiler, ich danke Ihnen herzlich für Ihre rasche Antwort. Ich will nun abschließend den Auftrag erteilen, mein unten folgendes Schreiben in die englische Sprache zu übersetzen. Ich bitte um sorgfältigste Arbeit, Sie werden erkennen, in diesem Text ist von einem Reisetunnel nach Amerika die Rede, der in meiner Vorstellung von äußerster Bedeutung ist, ein poetischer Entwurf, jedes Wort scheint mir für seine Verwirklichung von hoher Bedeutung zu sein. Mit vereinbarter Vergütung bin ich einverstanden, der Betrag von 82 Dollar wurde bereits angewiesen. Weitere Aufträge werde ich mit Ihnen in Kürze bei einem Besuch in ihrem Büro persönlich besprechen. Darf ich an dieser Stelle meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass die Übersetzung desselben Textes in die chinesische Sprache 122 Dollar kosten würde? Ich frage mich, worin die erhebliche Differenz von 40 Dollar begründet sein könnte. Mit allerbesten Grüßen – Ihr Louis
BRYANT PARK — 570 WÖRTER > GO /// Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafés, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, das ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief bitte vorlesen würde, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte so lange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Café am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Café Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich sehe gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden. /// END