kilimandscharo : 4.18 — Wie nach der Meldung eines Terroranschlages Menschen damit beginnen, ihre Umgebung abzusuchen nach Verdächtigem. M., der in Mitteleuropa lebt, erinnerte sich an L., der morgens im Zug auf dem Weg nach Hause im Koran gelesen hatte. Das war ein kleines Buch gewesen, ein Buch wie aus einer Matchbox, eine Art Minikoran oder etwas Ähnliches. L., die vor langer Zeit ihre Geburtsstadt in Sibirien verließ, befindet sich seit Wochen in einem bebenden Zustand. Sie schläft kaum noch, erzählt, dass sie sich fürchte. Ihre Mutter arbeite in einer Bibliothek der Hafenstadt Odessa. L. sagt, sie vermeide in der Öffentlichkeit laut die russische Sprache zu sprechen, auch mit der deutschen Sprache gehe sie vorsichtiger um, man höre sofort, dass sie aus dem Osten komme. Ein iranischer Freund, Z., der aus seinem Land flüchtete, um nicht in den Krieg gegen den Irak ziehen zu müssen, berichtet, er sorge sich um oder wegen der schlafenden, staubigen Männer am Flughafen, die auf ihre Flüge warteten, zurück nach Bukarest oder Sofia. — stop
Aus der Wörtersammlung: rinne
lichtschirmkoffer
remington : 6.56 — Beobachtete wieder einmal meinen Fernsehbildschirm, der so flach ist, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von einem beginnenden Krieg, von Brandbomben, prügelnden Menschen, maskierten Soldaten erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnere mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich nicht mehr sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Ich höre Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Nachtvögel oder Fledermäuse fliegen vorüber. — stop
ai : IRAN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Berichte über GefängniswärterInnen, die im Trakt 350 des Evin-Gefängnisses in Teheran, in dem viele politische Gefangene inhaftiert sind, eine Razzia durchführten, verstärken die Sorge um die Sicherheit der Gefangenen. Infolge der Unruhen haben einige Gefangene offenbar Verletzungen, darunter Rippenbrüche, erlitten. Berichten zufolge wurden mindestens 32 Personen aus Trakt 350 in Einzelhaft in Trakt 240 des Gefängnisses verlegt. / Medienberichten zufolge drangen am Morgen des 17. April MitarbeiterInnen des iranischen Nachrichtendienstes sowie etwa 100 WärterInnen in Kampfausrüstung in den Trakt 350 des Evin-Gefängnisses ein, möglicherweise um eine Durchsuchung durchzuführen. Die genauen weiteren Geschehnisse sind nicht bekannt, doch es kam offenbar zu einer Konfrontation mit Gefangenen, die die Razzia zu verhindern suchten, wobei einige Gefangene verletzt worden sein sollen. Mindestens vier der verletzten Gefangenen wurden in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses eingeliefert. Berichten zufolge wurden weitere 26 Gefangene verletzt, doch ob sie innerhalb des Gefängnisses eine medizinische Behandlung erhielten, ist nicht bekannt. Mindestens zwei Gefangene, Esmail Barzegari und Akbar Amini, sollen sich Rippenbrüche zugezogen und ein dritter einen Herzinfarkt erlitten haben. Letzterer wurde auf die Intensivstation eines Krankenhauses außerhalb des Gefängnisses gebracht. / Weitere 32 Personen wurden in Einzelhaft verlegt, darunter der Anwalt Abdolfattah Soltani, der Aktivist für die Rechte von Minderheiten Sa’id Metinpour, der selbst der aserbaidschanischen Minderheit im Iran angehört, der ehemalige Staatsanwalt Mohammad Amin Hadavi, der Arbeitsrechtsaktivist Behnam Ebrahimzadeh und die politischen Aktivisten Behzad Arabgol und Hootan Dolati. All diejenigen, die in Einzelhaft verlegt wurden, sollen während der Verlegung von WärterInnen mit Schlagstöcken geschlagen worden sein.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 29. Mai 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
habitat
ulysses : 5.08 — Ich kam ins Gespräch mit einem Mann, der vom Projekt einer Menschengestaltung erzählte. Das war inmitten der Nacht im Café gewesen. Ich erinnere mich, dass ich ihn fragte, ob er Forscher oder Designer sei, weil er anatomische Zeichnungen mittels eines iPads studierte. Eine der Zeichnungen stellte einen Unterarm dar, wie er in der Wirklichkeit von oben herzusehen sein würde. Auf diesem gezeichneten Arm waren Erhebungen zu erkennen, wabenförmige Formationen von einem Zentimeter Höhe, die mich an pockenartige Gebilde erinnerten, aber doch regelmäßig und eben künstlichen Ursprungs waren, mit Vorsatz erstellt. Ich hörte, dass es sich bei diesen Gebilden um kleine Häuser handeln soll, in welchen Tiere angesiedelt werden könnten, Zwergbienen, jedoch bevorzugt Ameisen oder sehr kleine Fliegen. Stellen Sie sich vor, sagte der Mann, was sie hier sehen an dieser Stelle, sind von Haut bewachsene Habitate, dort existierten tausende Tiere, die nur darauf warten, bei bester Gelegenheit auszuschwärmen, sagen wir so. Unverzüglich flatterte ein Nachtfalter von dunkelblauer Farbe um den Kopf des Mannes herum. Weitere kamen hinzu, bald waren es so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Sie kletterten unter dem Hemd des Mannes hervor, an den Armen und am Kragen. Ein leises Rauschen war zu vernehmen und die Luft schmeckte bitter. Ich hörte noch, wie sich der Mann erkundigte, ob ich nicht doch beeindruckt sei. Ich berichtete ihm ausführlich von meiner Begeisterung, von meinem Wunsch, selbst über Habitate dieser Art verfügen zu dürfen, es war eine nachdrückliche Art und Weise zu sprechen, und doch weiß ich nicht, ob der Mann mich zu diesem Zeitpunkt noch sehen konnte oder hören, so dicht war die Wolke flatternder Tiere geworden. Nach wenigen Minuten stand ich auf und ging davon und erwachte. Und weil noch Nacht war, schlief ich gleich wieder ein. — stop
tarasa shevchenko boulevard
alpha : 3.12 — Auf Nachtbänken schlafen Menschen, ärmlich gekleidete Personen. Sie liegen mit ihrem Kopf auf Taschen, in welchen sich Ausweise und Geld befinden. Sobald Menschen schlafen, erscheinen sie in meinen Augen wie Kinder, sie wirken zerbrechlich, auch wenn sie bärenstarke Männer sind, die vor Wochen noch in Rumänien oder Bulgarien lebten. Staubig sind sie geworden, ein strenger Geruch geht von ihren Körpern aus. Wenn sie wach werden am Morgen, wenn sie im goldenen Licht der Flughafentransferräume sitzen, die Luft duftet nach frischem Gebäck und Kaffee, schauen sie mit todmüden, geröteten Augen in den Strom der Passagiere, feine, edle Gestalten dort, viele scheinen fröhlich zu sein, sie führen flache Computer mit sich und Bordzeitungen, sind in graue oder blaue Anzüge gehüllt, in Begleitung schwebender oder rollender Koffer. Es ist kurz nach sechs Uhr. Langstreckenflugzeuge sind gelandet, New York, Los Angeles, Peking, Mumbai, Buenos Aires, Ottawa. Vor einer Rolltreppe warten zwei Frauen. Die eine der Frauen erzählt eine Geschichte in deutscher Sprache mit russischem Akzent. Ich bleibe stehen, ich höre zu. Es ist eine Geschichte, die von der Stadt Kyjiw handelt. Sie sei, sagt die Frau, im Juli des Jahres 1986 nach Kyjiw gekommen, um dort zu singen, das heißt, ein Konzert zu geben. Sie erinnere sich an bleigraue Rohre, die allerorten entlang der Häuserwände in den Straßen verlegt worden seien. Wasser strömte aus diesen Rohren über Gehsteige, es war darum so gewesen, um radioaktiven Staub, der von der Luft herangetragen wurde, fort zuwaschen. Für einen Moment der Eindruck, die Frau habe bemerkt, dass ich ihrer Geschichte folge und dass sie nichts dagegen einzuwenden hat. Sie entnimmt ihrer Handtasche sieben Ausweise in weinroter Farbe, Reisepässe, ungültig gewordene Dokumente, in einem dieser Ausweise befindet sich ein Stempel, jener Stempel, der die Reise nach Kyjiw dokumentiert. Es ist eine Frage von Sekunden, bis die Frau mit ihrem rechten Zeigefinger das Papier, auf dem der Stempel seit Jahren festgehalten ist, berühren wird. — stop
ai : MEXIKO
MENSCHEN IN GEFAHR: „2013 nahmen die Einwanderungsbehörden Mexikos 82 269 MigrantInnen fest und 75 704 wurden abgeschoben, die große Mehrheit nach Guatemala, Honduras und El Salvador. Eine größere Zahl mittelamerikanischer MigrantInnen versuchte, in die USA zu gelangen. In Mexiko erleiden viele MigrantInnen weiterhin Verstöße durch die Polizei, und andere werden Opfer gezielter Entführungen, des Menschenhandels, von Vergewaltigung und Tötungen durch kriminelle Banden, die häufig im Einvernehmen mit lokalen Behörden agieren. Reformen der Migrationsgesetzgebung, die manche Rechte von MigrantInnen, insbesondere das Recht auf Schutz und Zugang zur Justiz stärkten, wurden nicht angemessen umgesetzt. Die nationale Strategie zur Bekämpfung der Entführung von MigrantInnen zieht immer noch keine kriminellen Banden und MitarbeiterInnen von Behörden zur Verantwortung, die Menschenrechtsverletzungen an MigrantInnen begehen. 2011 berichtete die nationale Menschenrechtskommission von 10 00 Entführungen von MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus durch kriminelle Banden in einem Zeitraum von nur sechs Monaten, häufig im Einvernehmen mit BehördenvertreterInnen. Die Verantwortlichen für Verschleppungen und andere Menschenrechtsverletzungen an MigrantInnen werden nur selten zur Rechenschaft gezogen. / Die Behörden auf Bundesstaatenebene ignorieren die Misere der MigrantInnen zu großen Teilen, und die Bundesbehörden sehen Migrantenströme zunehmend als Gefahr für die nationale Sicherheit, statt die Sicherheit von MigrantInnen auf der Durchreise zu gewährleisten. Vor kurzem reisten Mütter von MigrantInnen aus Mittelamerika auf der Suche nach ihren Kindern durch Mexiko und forderten staatliche Untersuchungen. Die nationale Menschenrechtskommission veröffentlichte kürzlich einen unbefriedigenden Bericht zu der Tötung von 72 MigrantInnen in San Fernando im Bundestaat Tamaulipas im August 2010. Das Versagen der Behörden beim Schutz des Rechts auf Leben der MigrantInnen und der umfassenden Aufklärung des Massakers war nicht Inhalt des Berichts. Er beschränkte sich auf begrenzte Aspekte des Falls im Zusammenhang mit grob fehlerhaften forensischen Untersuchungen zur Identifizierung der Opfer. Die Leichname aus anderen Massakern, / von denen vielen vermutlich MigrantInnen sind, sind noch gar nicht identifiziert worden. / Amnesty International veröffentlichte 2010 einen Bericht über die Menschenrechtsverletzungen an MigrantInnen auf der Durchreise durch Mexiko mit dem Titel “Invisible Victims: Migrants on the move in Mexico”. Amnesty International hat eine Aktion ins Leben gerufen, um die Misere der MigrantInnen auf dem Weg durch Mexiko sichtbar zu machen.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 6. Mai 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
vom nachthausmuseum
sierra : 20.14 — Mein lieber Freund, als ich Deinen nächtlichen Brief las von den Geräuschen im Haus, in dem Du wohnst, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor zwei Jahren notierte. Ich stelle mir vor, diese Geschichte könnte Dich interessieren. Wenn Du Fragen haben solltest, wie man als Nachtmensch unter Tagmenschen sinnvoll existieren kann, melde Dich bitte unverzüglich. Dein Louis. ps. > Hier meine Geschichte: Das Museum der Nachthäuser befindet sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor gehört hatte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit, da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man aller freundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
nachts
delta : 0.18 — Ich bat einen Freund, eine Geschichte zu erzählen vom Glück, als er noch ein Kind gewesen war. Er musste nicht lange überlegen. Er sagte, dass er abends, sobald das Licht in seinem Zimmer ausgeschaltet wurde, heimlich in seinen Büchern gelesen habe. Zu diesem Zweck hatte er eine Taschenlampe unter seinem Kopfkissen versteckt. Er las immer im Sitzen, die Beine verschränkt, Jules Vernes zum Beispiel. Aufregend, nicht nur die Bücher, sondern das verbotene Lesen zur Nachtzeit selbst. Während mein Freund von seinem Glück berichtete, erinnerte er sich, wie sein Bruder, der in demselben Zimmer geschlafen hatte, ihm einmal erzählte, er, der Ältere der beiden, habe zur Sommerzeit wie ein leuchtender Berg ausgesehen, der sich manchmal bewegte. Hin und wieder flackerte das Licht, weil die Kraft der Batterien in der kleinen Lampe zur Neige ging. Man musste dann immer ein wenig warten, bis sich die Batterien wieder erholten. Oft war er in dieser Zeit des Wartens noch im Sitzen eingeschlafen. — stop
paul moreau
ulysses : 2.18 — Vor genau 1162 Tage folgende Beobachtung: Das bewusste Denken scheint ohne Ausnahme ein Denken mit Stimme zu sein. Ich höre meine ureigene Gedankenstimme, als würde ich über Ohren gebieten, die nach innen gerichtet sind. Sobald ich einen Gedanken mittels der Stimme Paul Newmans oder Jeanne Moreaus in meinem Kopf zur Sprache bringe, habe ich einen bereits vorliegenden Gedanken erinnert, übersetzt, erzählt. Erstaunlich der Eindruck, dass sich mein Mund öffnet, sobald sich meine Hände einer Tastatur nähern. — Weiterhin vertraut. — stop
im zimmer. mitternacht
olimambo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balanciere ich vor dem Bücherregal auf einem Stuhl. Noch ist Samstag. Ich erhoffe mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? Ein bemerkenswerter Satz. Wie ich von meinem Stuhl steige und wieder auf dem Boden stehe, halte ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch wurde im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Nun fällt mir auf, dass G. und J. gestorben sind, während P. und ich, der ich das Buch ausgeliehen habe, noch leben. Auch Daniil Charms ist tot und sein Übersetzer Peter Urban seit wenigen Wochen. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen 7 °C. Ich werde mich gleich auf die Suche nach meinen fünf Marienkäfern machen, die im Kühlschrank in einer Schachtel überwintern sollen. Zwei habe ich bereits entdeckt, das war vor drei Stunden gewesen, vermutlich ist das so, dass ich in dieser Minute alle Käfer aus den Augen verloren habe. Aber ich kann immerhin sagen, dass ich die Käfer gesehen, sie mir also gestern nicht eingebildet hatte. Käfer No 1 saß in der Diele nahe der Tür, als würde er warten. Käfer No 2 bewegte sich im Arbeitszimmer über das Fenster, hinter dem es stockdunkel gewesen war. Bevor ich mich auf die Suche mache, sollte ich vielleicht doch noch einmal einen Versuch unternehmen, meinen Daniil Charms zu finden. Gleich vorsichtig, nur nicht stürzen, den Stuhl besteigen. Bisweilen träumte ich, von einem Berg zu fallen. Langsam, ich gehe durchs Zimmer. Und während ich so gehe, erinnere ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südfriedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir gesprochen haben. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied war. — stop