MELDUNG. Zu Washington im Opernhaus, 2700 F Street, werden am Mittwochabend, 17. Mai 2017, zwei goldgelbe Baumsteigerfrösche, letzte ihrer Art, öffentlich auf der zentralen Bühne zur Sprengung gebracht. Zündung des männlichen Tieres um 22 Uhr Ortszeit, Zündung des weiblichen Tieres um 22 Uhr 30. Die Vorstellung ist ausverkauft. – stop
Aus der Wörtersammlung: ton
chicago
india : 16.28 UTC — Einmal, ich habe vor zwei Jahren bereits davon erzählt, arbeitete ich im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie loswerden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclair’s Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gerne zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiere in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
von der stille
himalaya : 20.12 UTC — Einmal spazierte ich durch New York an einem warmen Tag im April. Ich ging einige Stunden lang ohne ein Ziel nur so herum, manchmal blieb ich stehen und beobachtete dies oder das. Ich dachte, New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, um zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehen, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nachtmensch oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann von Zeit zu Zeit ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und für einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, was Menschen, die mir begegneten, erzählten. So ging ich damals dahin, ich glaube, ich spazierte im Kreis herum, berührte da und dort die Küste eines Flusses, und als es Abend wurde, besuchte ich Marina Abramović, die seit Monaten bereits in einem Saal des Museums für moderne Kunst auf einem Stuhl saß. Wie sie Menschen erwartete, um mit ihnen gemeinsam zu schweigen, berührende Stunden, und ich dachte und notierte, wie ich heute wieder notiere, es geht darum, in der Begegnung mit Menschen Zeit zu teilen, es geht darum, die Zeit zu synchronisieren, in meinem Falle geht es darum, langsamer zu werden, um Menschen in der Wirklichkeit nahekommen zu können, es geht darum in dieser rasenden Welt von Stillstand, so langsam zu werden, und wenn es nur für wenige Stunden ist, dass ein Gespräch, eine Berührung, überhaupt möglich sein kann. Daran wieder erinnern, Tag für Tag. — Heute bin ich nicht in New York. Wo ich bin, schwebt ein dunkler, schlafender Zeppelin am Horizont, der möglicherweise bald aufwachen und blitzen wird. Ein schöner, nachdenklicher Tag, weitere schöne Tage werden folgen. Ich werde langsam lesen und langsam sprechen, und denken werde ich so langsam wie nie zuvor. Ich werde die Empfindung der Zeit zur Geschmeidigkeit überreden, ja, das ist vorstellbar, weiche, warme Stunden. — stop
eine telefongeschichte
himalaya : 17.50 UTC — Gestern klingelte mein Telefon, nein, wirklich, mein Telefon meldete nicht nur einen Anruf, es klingelte tatsächlich, weil ich einen Signalton eingestellt hatte, der einem Klingelton der Telefone meiner Kindheit sehr ähnlich ist. Mein Telefon vermag gleichwohl zu zwitschern oder zu summen oder zu trompeten, wie Elefanten sprechen, aber wenn mein Telefon klingelt in der Weise meiner Kindheit, mag ich das am liebsten, oder wenn es Benny Goodman spielt, aber dann gehe ich nicht dran, dann hebe ich nicht ab, dann höre ich zu und tanze ein wenig in der Wohnung herum bis die Vögel an mein Fenster klopfen: Louis komm, die Arbeit wartet! — Gestern also klingelte mein Telefon. B. mein Patenkind, war in der Leitung, und ich freute mich sehr, weil ich ein halbes Jahr nichts von ihr gehört hatte. Kannst du dich erinnern an unsere Affengeschichte? Oh, ja, sagte B., da habe ich mich gefürchtet, da war ich noch klein. Es ist interessant, fuhr sie fort, ich fürchte mich vor der Geschichte noch immer, obwohl ich schon erwachsen geworden bin. B. erzählte noch ein wenig von Berlin und von New York, und als sie aufgelegt hatte, suchte ich nach einer Notiz der Affengeschichte, die schon so lange Zeit in der Vergangenheit liegt, dass B. bald selbst einmal von Affen erzählen wird. Die Geschichte geht so: Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. – Warum, fragte ich, will der Mann das tun? – Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. – Er ist gelähmt. – Und der Affe? – Der Affe nicht. – Was geschieht mit dem Kopf des Affen? – Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon. — stop
kaktusblüte
nordpol : 18.52 UTC — Ein Zufall führte mich in einem Moment zu Herrn K., als er gerade zum ersten Mal sein neues Bürozimmer betrat. Er führte einen Karton mit sich, nicht größer als eine Schuhschachtel. Aus diesem Behältnis hob er eine Notebookschreibmaschine, ein Mäppchen mit Bleistiften, eine farbige Fotografie sowie einen Kaktus, der blühte. Herr K. prüfte die Schubladen des Schreibtisches, der zu dem kleinen Zimmer mit Ausblick auf einen Park gehörte, sie waren leer. Seinen Kaktus stellte er auf die Fensterbank, die Fotografie neben ein Telefon, das sich bereits im Zimmer befunden hatte, ehe Herr K. eingetreten war. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte: Wissen Sie, mehr brauche ich nicht. Das sollten Sie immer bedenken, nur niemals heimisch werden, nur nicht glauben, dass Ihnen dieses Büro gehört. Im Gegenteil, Sie selbst gehören diesem Zimmer wie jeder andere, der nach Ihnen an dieser Stelle arbeiten wird. Wer in und von diesem Zimmer aus operiert, muss sich bewusst sein, dass er jederzeit ebenso plötzlich wie er gekommen ist, auch wieder gehen wird. In dieser Postion, die Sie hier oben bekleiden, haben Sie Erfolg oder sie haben keinen Erfolg. Binden Sie sich also nicht, arbeiten Sie konzentriert und genießen Sie die Aussicht, aber, um Himmels willen, fühlen Sie hier niemals zu Hause! — Diese Geschichte ereignete tatsächlich an einem Freitag im Juli des vergangenen Jahres. — stop
beckett
charlie : 6.32 UTC — In dem kleinen Café, das den Namen Sahara trägt, wird Menschen, die am Flughafen arbeiten, Rabatt gewährt. Iclal ist müde, sie kommt gerade von der Arbeit. Außerdem schneit es in einer Weise, als wäre Winter. Sie zieht ihren Mantel aus und die Handschuhe, legt sie auf den Tisch vor sich hin und sagt: Ich will über die Abstimmung in der Türkei nicht sprechen. Sprechen wir über meine nächste Reise, ich weiß nicht, wohin ich reisen soll, ich bin seit ich denken kann, immer in die Türkei gereist, dieses Mal werde ich nicht in die Türkei reisen. — Ist es zu gefährlich, frage ich. — Nein, antwortet Iclal, es ist nicht gefährlich für mich, ich will nicht. Wohin könnte ich nur reisen im Sommer? — Ich sage: Venedig ist schön, aber eher im späten Herbst, vielleicht magst Du in die Berge gehen, Du könntest auf einer Hütte im Karwendelgebirge wohnen und wandern, das ist ganz wunderbar dort. In diesem Moment entdecke ich einen Schriftzug von weißer Farbe, der Iclal’s rosafarbenes T‑Shirt bedeckt: Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better. Das sind wunderbare Worte, sage ich, Samuel Beckett hat sie geschrieben. — Ja, wirklich, antwortet Iclal, wer ist das? Sie sieht an sich herab. Ich habe nicht darauf geachtet, was da steht, das ist Englisch, ich kann kein Englisch, was steht da, das Beckett geschrieben hat? — Ich überlege, wie ich Becketts Sätze korrekt übersetzen könnte. Ich überlege lange. Das ist offensichtlich schwierig, sagt Iclal. Nein, sage ich, das ist Poesie, da muss man sehr behutsam mit den Wörtern umgehen, man muss sehr genau sein. Kurz darauf werde ich mit meiner Übersetzung fertig. Iclal hört zu. Iclal beginnt zu lachen. Bald bekommt sie kaum noch Luft wie so lacht, und ich dachte noch, wie gerne ich ihr Lachen in diesem Moment auf Tonband aufgenommen hätte — stop
anjuta
ulysses : 5.25 UTC — Es ist Montag, früher Morgen, und die Vögel pfeifen. Ich bin noch nicht ganz wach, ich habe gut geschlafen, ich hatte einen lustigen Traum: In diesem Traum war ich versucht, Anton Tschechow einen Brief zu schreiben. Tatsächlich habe ich mich im Traum an meine Schreibmaschine gesetzt und notiert: Lieber Mr. Tschechow, gestern las ich eine traurige Geschichte, die Sie einmal aufgeschrieben haben. Sie erinnern sich vielleicht an Anjuta? Sie lebte in der Pension Lissabon mit einem Studenten der Medizin in einem schmutzigen Chaos. Eigentlich wollte ich nachlesen, wie Sie vom anatomischen Studium berichten, vom Lernen oder Pauken, eine Ärztin hatte mich auf ihre Geschichte aufmerksam gemacht. Was mich dann sehr berührte, war das Mädchen Anjuta selbst, ihre Geduld oder Duldsamkeit, wie traurig, wie sie als menschlicher Gegenstand angesehen und behandelt wurde, eine gute Geschichte! Es ist noch etwas Weiteres geschehen, ich erinnerte mich im Traum einmal, vor einigen Jahren, Ihre gesammelten Erzählungen, Novellen, Theaterstücke, Essays in digitaler Spur aus dem Internet geladen zu haben, 19657 Positionen. Ich bemerkte damals, dass es tatsächlich möglich ist, für den Preis einer Pistazieneiskugel Joseph Roths Gesammelte Werke auf ein Paperwhite – Lesegerät zu holen. James Joyces Ulysses kostet soviel wie keine Eiskugel. Virginia Woolfes Mrs. Dalloway eine halbe Kugel. Ihre, Anton Pawlowitsch Tschechows Kurzgeschichten, Novellen, Dramen wiederum eine vollständige Kugel / Downloadreisezeit : 5,2 Sekunden. Sehr beunruhigend, wie ich finde. Gleich werde ich aufwachen, ich werde einen Cappuccino trinken, und dann werde ich Ihnen diesen Brief, den ich träumte, notieren an einem frühen Morgen bald, wenn Montag sein wird bei leichtem Regen, und die Vögel pfeifen. — stop
ai : HAITI
MENSCHEN IN GEFAHR: „Die Menschenrechtsverteidiger David Boniface und Juders Ysemé fürchten nach dem plötzlichen Tod ihres Kollegen Nissage Martyr um ihr Leben. Nissage Martyr starb einen Tag, nachdem die drei in den USA gegen Jean Morose Viliena, den ehemaligen Bürgermeister ihrer Heimatstadt in Haiti, Klage wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen eingereicht hatten. Die Männer berichten seit 2007 von wiederholten Morddrohungen und Angriffen durch den ehemaligen Bürgermeister. Sie müssen daher angemessenen Schutz erhalten. / Am 22. März reichten David Boniface, Juders Ysemé und Nissage Martyr Klage gegen Jean Morose Viliena, den ehemaligen Bürgermeister ihrer Heimatstadt Les Irois im Südwesten von Haiti, bei einem Bundesgericht in Boston im Nordosten der USA ein. Die Klage wurde in den USA eingereicht, weil Jean Morose Viliena Anfang 2009 in die USA geflohen war, nachdem die haitianischen Behörden wegen des Mordes an David Bonifaces Bruder im Jahr 2007 und eines Angriffs auf den Gemeinderadiosender im Jahr 2008 ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet hatten. Bei diesem Angriff verlor Nissage Martyr ein Bein und Juders Ysemé ein Auge. Die drei Männer werfen Jean Morose Viliena vor, dass er für eine Reihe von Angriffen gegen seine Kritiker_innen verantwortlich ist, darunter “Brandstiftung”, “außergerichtliche Hinrichtungen”, “versuchte außergerichtliche Hinrichtung”, “Folter” und “Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Die Verbrechen wurden auf seine Anweisung hin von einer bewaffneten Gruppe verübt, die mit seiner politischen Partei in Verbindung steht. Am 24. März 2017, einen Tag nachdem die Klage gegen Jean Morose Viliena eingereicht worden war, erkrankte Nissage Martyr plötzlich schwer und starb auf dem Weg ins Krankenhaus von Les Irois. Seine Familie gibt an, dass er zuvor ganz gesund war. Mit Hilfe ihrer Rechtsbeistände fordert die Familie eine sofortige unabhängige Autopsie und umfassende Untersuchunge seines Todes. Die örtliche Staatsanwaltschaft hat zwar die Autopsie genehmigt, doch bis jetzt keine Untersuchung aufgenommen. / David Boniface und Juders Ysemé sind Menschenrechtsverteidiger und werden als Unterstützer der Partei Organisation du Peuple en Lutte, einer Oppositionspartei in Haiti, betrachtet. Seit 2007 berichten die beiden Männer und Nissage Martyr, dass Jean Morose Viliena und seine Verbündeten ihnen Morddrohungen schicken und sie tätlich angreifen und versucht haben, sie zu töten, weil sie ihre legitime Arbeit als Menschenrechtsverteidiger ausführen. Im Zuge dessen haben sie das erste Gemeinderadio initiiert sowie die strafrechtliche Verfolgung von Jean Morose Viliena und seinen Verbündeten angestrebt, um der Gewalt in der Gemeinde ein Ende zu bereiten. 2015 gewährte die Interamerikanische Menschenrechtskommission den drei Männern und ihren Familien Schutzmaßnahmen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. David Boniface und Juders Ysemé berichteten Amnesty International, dass die haitianischen Behörden aufgrund der grassierenden Straflosigkeit im Land jedoch nichts unternommen hätten, um diesen Maßnahmen Folge zu leisten. Die beiden Männer sind nach Nissage Martyrs Tod mit ihren Familien aus Les Irois geflohen, da sie um ihre Sicherheit fürchten. Sie gaben an, dass der einzige Weg zu Gerechtigkeit ihre Aussage gegen Jean Morose Viliena sei, doch dass sie ohne angemessenen Schutz fürchten, getötet zu werden, noch ehe sie ihre Aussage machen können.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 24. Mai 2017 hinaus, unter »> ai : urgent action
bildschirmlicht
himalaya : 7.30 UTC — Erster Twitterfilm: Ein Mädchen, das in Aleppo lebt, sagt: Vielleicht ist es das letzte Mal, dass Sie mich lebend sehen! Das Mädchen scheint in einem Keller zu sitzen. Sie ist zum Zeitpunkt dieser Aufnahme vielleicht acht Jahre alt, vermutlich ist Abend. Der Angriff der syrischen Armee auf die Stadt wird für die kommende Nacht erwartet. — Ein zweiter Twitterfilm: Auf einer Bahre in einem Krankenhaus liegt eine Frau, fahle Haut, sie sieht in die Kamera und sagt: Bitte helfen Sie uns! Im Hintergrund sind Detonationen zu hören. — Ein dritter Twitterfilm: Der junge Mann, der erzählt, dass die Kämpfe in der Stadt wieder zugenommen haben, sieht sich immer wieder um. Er müsse jetzt von der Straße, hier sei es zu gefährlich. Es wird sogleich dunkel auf dem Bildschirm, indem der junge Mann die Linse seiner Kamera mit einer Hand bedeckt. — Ich denke in diesem Moment, dass das Licht der handlichen Filmmaschinen immer näher an mein Leben herankommt, jederzeit mögliches Licht, das auf Servern der Welt auf mich wartet. Ich spreche darüber mit einem Freund, dessen Aufgabe ist, Filme aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet zu analysieren. Ja, soviel mögliches Licht ist in der Welt, sagt N., dass man sich die Seele an diesem Licht schwer verbrennen kann. Er habe vor einem Jahr einen Ruhetag pro Woche definiert, da er seine Computermaschine nicht anschalte. Was machst Du an diesen Tagen, fragte ich. Ich lese, ich gehe mit meiner Lebensgefährtin spazieren, ich liege im Sommer stundenlang neben ihr in einer Wiese und schaue den Wolken zu. Dann wird Nacht und ich sitze morgens wieder vor meinen Bildschirmen und rufe Filmlicht auf, das neu hinzugekommen ist. Da sind zwei Männer, sie halten den Splitter eines Geschosses vor die Kamera ihres Mobiltelefons. Ich stoppe den Film, notiere Schriftzeichen in gelber Farbe, Rudimente, betrachte die Umgebung der Männer, versuche herauszufinden, wo sie sich vielleicht befinden, ob sie sich wirklich dort befinden, wo sie zu sein behaupten, welche Tageszeit. Ich habe Algorithmen entwickelt, der Filmbefragung. Ich werde dadurch schneller. — stop
nach darjeeling
papa : 12.15 UTC — Ich habe zur Stunde eine Frage, die zu beantworten vermutlich nicht leicht sein wird. In wenigen Minuten werde ich nämlich für einen alten Freund eine Schreibmaschine erwerben, eine mechanische Reiseschreibmaschine des Typs Olympia Splendid 66 in roter Farbe, ein wunderschönes Stück aus dem Jahr 1959, ich würde sie im Grunde gern selbst besitzen. Mein Freund wird bald verreisen, ich nehme an, nicht ohne seine neue Schreibmaschine mit sich zu nehmen, eine Reise, die ihn durch Indien mit der Eisenbahn von Mumbai nach Darjeeling führen wird. Als ich meinen Freund Ludwig zum letzten Mal sah, arbeitete er auf einem Notebook schreibend in einem Café an einer Geschichte über Algorithmen liebevoller Selbstbefragung. Sein Notebook war zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre alt, jene Orte des Gehäuses, da es Ton und Bildaufnahmen seiner nächsten Umgebung anfertigen konnte, waren mehrfach mit selbstklebendem Gewebe abgedeckt, sodass weder Ton noch Licht in die Schreibmaschine gelangen konnten, um von dort aus möglicherweise unbemerkt an einen geheimen Ort in der digitalen Sphäre gesendet zu werden. Ich will nicht sagen, dass Ludwig sich in irgendeiner Weise verfolgt fühlen würde, er erwähnte aber bei Gelegenheit, er könne schon seit langer Zeit nicht mehr dafür garantieren, dass seine elektronische Schreibmaschine, sein Notebook, sich tatsächlich loyal verhalten würde. Er wünschte sich, seine Zeichen wieder einmal unmittelbar auf Papier zu setzen, bedingungsloses Vertrauen haben zu können. Ich werde ihm seinen Wunsch erfüllen. Nun stellt sich, wie berichtet, die Frage, was hat mein Freund Ludwig auf den Papieren noch vor, wie lange Zeit bleibt ihm noch? Wie viele Farbbänder sollte ich für Ludwig in Sicherheit bringen? Sie sind rar geworden, sie werden verschwinden. — stop