Aus der Wörtersammlung: wand

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lichtbild 1–12

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echo : 6.08 — Wie Schnee, ein gutes Dut­zend Men­schen­fo­to­gra­fien. Von K., die vor zehn Jah­ren im August John­sons Jah­res­ta­ge kauf­te, ein Jahr ent­lang woll­te sie jeden Tag einen der Jah­res­ta­ge lesen. Von N., deren Schwes­ter ver­mut­lich in Kobanê kämpft. Sie soll N. ähn­lich sein, aber nie­mand weiß das so genau, weil sie vor 15 Jah­ren in den Unter­grund ver­schwand, weil sie in den Ber­gen kämpf­te, weil der Krieg mit Men­schen­ge­sich­tern macht, was er will. Von L., der nie wie­der ver­su­chen wird, die Stadt Man­hat­tan von einer Nacht­fäh­re aus zu foto­gra­fie­ren. Von W., die seit Jah­ren, ver­geb­lich, ein Inter­view mit einem Mann zu füh­ren ver­sucht, der in sei­ner Jugend­zeit Bil­der aus Film­rol­len trenn­te, um sie zu einem Film für sich zu mon­tie­ren. Die Zeit reich­te nicht, sei­ne und auch die ande­re Zeit reich­te nicht. Von M., die viel­leicht gera­de in die­sem Moment, da ich notie­re, lächelnd mit einer Schau­fel in der Hand vor einer Schnee­land­schaft steht und war­tet. Von B., die bald mit dem Schiff nach Bue­nos Aires rei­sen wird, um den Tan­go zu erler­nen. Vor­ges­tern ist sie 94 Jah­re alt gewor­den. Von I., der sich Tag für Tag dar­über freut, wie er sich an das Wort Kühl­schrank zu erin­nern ver­mag. Von Y., die sich im Monat April auf den Weg machen wird, im Kar­wen­del einen Zwerg­ken­taur zu fan­gen. Vom klei­nen J., der seit den letz­ten Nacht­stun­den weiß, dass er ein­mal zum Mars flie­gen wird. Von der klei­nen U. aus Alep­po, die sich wun­dert, dass sie noch immer lebt. Und von W., der viel­leicht nie­mals erfah­ren wird, wie sehr ich sei­ne Geschich­ten lie­be, die alle mit dem Wort Ein­mal begin­nen. — stop
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von ameisenuhren

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nord­pol : 5.06 — Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Nach einer Ver­fol­gungs­jagd über Bahn­stei­ge des Zen­tral­bahn­hofs, gewährt mir ein Jun­ge von viel­leicht acht Jah­ren einen Blick in eine sei­ner Man­tel­ta­schen. Er will jetzt nicht mehr weg­lau­fen, er will nur ganz still neben mir auf der Trep­pe sit­zen und zuse­hen, wie ich Uhren betrach­te, die sich in eben sei­ner Man­tel­ta­sche befin­den. Noch nie in mei­nem Leben habe ich so vie­le grö­ße­re und klei­ne­re Arm­band­uh­ren auf einem sehr engen Raum beob­ach­tet. Wie ich mich der Uhren­ta­sche nähe­re, und zwar mit einem Ohr, sieht mir der klei­ne Jun­ge, der nicht mehr weg­lau­fen will, zu. Ver­mut­lich wird er bemer­ken, dass ich mei­ne Augen schlie­ße, um das Geräusch der Uhr­wer­ke in sei­ner auf­re­gen­den Schön­heit wahr­neh­men zu kön­nen, ein sehr lei­ses Brau­sen, sagen wir, wie von Tie­ren gemacht, als wür­de ein Volk der Wan­der­amei­sen näher­kom­men. Wie ich mich auf­rich­te, habe ich die Uhr mei­nes Vaters wie­der­ge­fun­den, und der Jun­ge beob­ach­tet, wie ich sie nun um mein Hand­ge­lenk lege und sehr fest zie­he, was der Jun­ge sei­ner­seits mit einem Lächeln quit­tiert. Die­se Uhr, sagt er, gehö­re jetzt wie­der mir, er macht sehr gro­ße Augen. — stop

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vom anemonentext

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alpha : 6.55 — Neh­men wir ein­mal an, dem ursprüng­li­chen Code einer See­ane­mo­ne wür­de ein wei­te­rer Code hin­zu­ge­fügt, eine sehr kur­ze Stre­cke nur, sagen wir Jack Kerou­acs Roman The Town and The City mit­tels Nukleo­ba­sen­paa­ren notiert. Was wür­de gesche­hen? Inwie­fern wür­de Jack Kerou­acs Text Wesen oder Gestalt einer See­ane­mo­ne berüh­ren? Wür­de der Text von See­ane­mo­ne zu See­ane­mo­ne wei­ter­ge­reicht, wür­de der Jack Kerou­acs Text sich nach und nach ver­än­dern, wür­de er viel­leicht ent­lang der Küs­ten­li­ni­en wan­dern? Seit ges­tern, ich habe geträumt, sind mensch­li­che Per­so­nen denk­bar, die nur zu dem einem Zweck exis­tie­ren, näm­lich Ohren, ein gutes Dut­zend wahl­wei­se auf ihren Armen oder Schul­tern zu tra­gen, um sie gut durch­blu­tet, solan­ge zu kon­ser­vie­ren, bis man sie von ihnen abneh­men wird, um sie auf eine wei­te­re Per­son zu ver­pflan­zen, die eine gewis­se Zeit oder schon immer ohne Ohren gewe­sen ist. Unheim­li­che Sache. — stop

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auf dem nachtschiff

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ulys­ses : 5.12 — Ein­mal war­te­te ich auf mei­nem Sofa, plötz­lich schlin­ger­te der Boden. Such­te nach mei­ner Bril­le und war­te­te wei­ter. Alles still, mit­ten in der Nacht. Da schau­kel­te das Sofa wie­der, der Boden beweg­te sich tat­säch­lich, auch eine Steh­lam­pe in mei­ner Nähe mach­te merk­wür­di­ge Geräu­sche. Vom Fens­ter im 5. Stock mei­nes Hau­ses aus war nicht zu erken­nen, ob jemand bemerk­te, was ich beob­ach­te­te, Vögel flo­gen her­um, obwohl es dun­kel war. Kaum zurück auf dem Sofa, beb­te das Möbel­stück zum drit­ten Mal, ein Schwin­gen, sanft, ein Schlin­gern, zwei Spin­nen has­te­ten über die Wand, ich ver­fass­te einen Bericht für die Erd­be­ben­war­te. Ich schrieb: Sehr geehr­te Damen und Her­ren, Vögel und Spin­nen. Es war um kurz nach drei Uhr. — stop

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ein pferd

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hima­la­ya : 6.08 — Im Traum auf einer Hoch­ebe­ne begeg­net mir ein Pferd. Als das Pferd näher kommt, ent­de­cke ich Hun­dert­tau­sen­de Amei­sen, die auf ihm wan­dern. Ein Rau­schen ist zu ver­neh­men, die Luft schmeckt bit­ter, aber das habe ich mir wohl aus­ge­dacht. Wenn sich das Pferd schüt­telt oder mit einem Mus­kel zuckt, flie­gen Amei­sen­kör­per durch die Luft. Dann war­tet das Pferd gedul­dig, bis alles wie­der an Bord gekom­men ist. — stop

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raumzeit

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hima­la­ya : 0.15 — Kürz­lich habe ich etwas Lus­ti­ges mit mir selbst erlebt. Ich saß in der Nähe mei­nes Schreib­ti­sches auf einem Stuhl und stell­te mir vor, wie ich gleich auf­ste­hen und zum Fens­ter gehen wer­de. Was wäre zu sehen, frag­te ich mich, wenn ich in die­ser Pas­sa­ge durch mein Zim­mer von einer Kame­ra auf­ge­nom­men wer­den wür­de, die in der Lage ist, 1 Mil­li­on Bil­der pro Sekun­de ein­zu­fan­gen. Das Auge die­ser Kame­ra wür­de mir nun also fol­gen und in die­ser Zeit der Wan­de­rung 8 Mil­lio­nen Bil­der mei­ner Gestalt im Raum erzeu­gen. Wie lan­ge Zeit, über­leg­te ich wei­ter­hin, wür­de ich in der Betrach­tung mei­ner Per­son ver­brin­gen, wenn ich den kurz zuvor auf­ge­nom­me­nen Film mit der übli­chen Rate von 24 Bil­dern pro Sekun­de betrach­ten könn­te. Ich rech­ne­te auf einem Stück Papier ein oder zwei Minu­ten hin und her, um schließ­lich mit Gewiss­heit eine Beob­ach­tungs­zeit von 3 Tagen und wei­te­ren 20 Stun­den her­aus­zu­fin­den. Zu die­sem Zeit­punkt saß ich noch auf mei­nem Stuhl. Kurz dar­auf stand ich auf und ver­such­te, mich in der Wirk­lich­keit mei­nes Kör­pers der­art lang­sam zu bewe­gen, dass ich in der errech­ne­ten Betrach­tungs­zeit als tat­säch­li­che, nicht als auf­ge­zeich­ne­te Per­son, jene vor­ge­nom­me­ne Stre­cke über­win­den wür­de. Ich stel­le fest: Das äußerst lang­sa­me Ver­hal­ten eines mensch­li­chen Kör­pers in Raum und Zeit bedarf einer­seits inten­si­ver logis­ti­scher, ander­seits sport­li­cher Vor­be­rei­tung. – stop / kof­fer­text

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ein junge

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india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flug­ha­fen­ter­mi­nal beob­ach­te­te ich einen Mann, der sich äußerst spar­sam, lan­ge Zeit über­haupt nicht beweg­te. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zei­tung, neben der Zei­tung Fol­gen­des: eine Tas­se Kaf­fee, ein Glas Was­ser, Zucker­wür­fel, Notiz­block und Blei­stift. Eine hal­be Stun­de ver­ging in die­ser Wei­se, die Hän­de des Man­nes ruh­ten in sei­nem Schoß. Ein­mal rück­te der Mann sei­nen Kof­fer, der hin­ter ihm an der Wand park­te, ein klei­nes Stück zur Sei­te, ein ander­mal hob er sei­ne Kaf­fee­tas­se in die Luft, um sie in einem Zug aus­zu­trin­ken. Dann wie­der kei­ner­lei Bewe­gung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagier­te weder auf Laut­spre­cher­durch­sa­gen noch küm­mer­te er sich um Men­schen, die das Café auf Lauf­bän­dern pas­sier­ten, es waren vie­le chi­ne­si­sche Rei­sen­de dar­un­ter, die gera­de erst aus Shang­hai und Peking in gro­ßen Flug­zü­gen ein­ge­trof­fen waren. Der Mann starr­te auf eine Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie, die auf der Titel­sei­te einer Zei­tung abge­druckt wor­den war. Ein Jun­ge lag dort unbe­klei­det auf einer Bast­mat­te mit­ten auf einer schmut­zi­gen, feuch­ten Stra­ße. In eini­ger Ent­fer­nung, im Hin­ter­grund, war­te­ten Men­schen, die den Jun­gen beob­ach­te­ten. Der Jun­ge schwit­ze, sei­ne schwar­ze Haut war von Flie­gen bedeckt, er sah mit halb geschlos­se­nen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutz­an­zug steck­te. Anstatt eines Kop­fes war auf den Schul­tern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zer­knit­ter­te Hau­be, genau­er, die unter Luft­druck zu ste­hen schien. Das Wesen hat­te sei­ne rech­te Kunst­stoff­hand nach dem Jun­gen, der ein­sam auf dem Boden lie­gend ver­harr­te, aus­ge­streckt, es woll­te ihn viel­leicht ermu­ti­gen, auf­zu­ste­hen und zu ihm an den Rand der Stra­ße zu kom­men. Obwohl sich die Hand nicht beweg­te, ver­mit­tel­te sie den Ein­druck, dass sie sich bewegt haben muss­te und wei­ter­hin bewe­gen wür­de, weil die Stel­lung ihrer Fin­ger nur in die­ser ver­mu­te­ten Bewe­gung einen Sinn ergab. Ja, die­se Hand muss­te in der Zeit des Bil­des eine win­ken­de Hand gewe­sen sein, aber es war deut­lich zu sehen, dass der Jun­ge ver­mut­lich nicht län­ger die Kraft hat­te, auf­zu­ste­hen oder zu krie­chen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüs­tern, oder die Flie­gen auf sei­nem Kör­per zu ver­trei­ben. Es war still, voll­kom­men still, nichts zu hören. — stop

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bonsaimenschen

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MELDUNG. Bon­sai­men­schen, 28 Per­so­nen jün­ge­ren Alters a 51 cm, nahe Cala­ma [ Chi­le ] zur Hit­ze­pro­be ein­ge­trof­fen. Wüs­ten­wan­de­rung [ 324 Mei­len / Val­le de la Luna] : Sams­tag, 25. Okto­ber 2014. Ab 14 Uhr Orts­zeit. Call : 00386 / 5476823 — stop

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