india : 0.14 — Kurz nach Mitternacht. Folgendes: Eine Drohne in der Gestalt eines Kolibris stationiert seit wenigen Minuten in einem Abstand von 1,5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beobachten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in meinem Zimmer herumgeflogen, hatte meinen Kakteentisch untersucht, meine Bücher, das Laternensignallicht, welches ich vom Großvater erbte, auch meine Papiere, Fotografien, Schreibwerkzeuge. Ruckartig verlagerte das Lufttier seine Position von Gegenstand zu Gegenstand. Ich glaube, in den Momenten des Stillstandes wurden Aufnahmen gefertigt, genau in der Art und Weise wie in diesem Moment eine Aufnahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeitssofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich versucht bin, tatsächlich für einen Kolibrivogel zu halten, war zunächst nichts zu hören gewesen, keinerlei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minuten, meine ich einen leise pfeifenden Luftzug zu vernehmen, der von den nicht sichtbaren Flügeln des Luftwesens auszugehen scheint. Diese Flügel bewegen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahrzunehmen sind. Ein weiteres, ein helles feines Geräusch ist zu hören, ein Wispern. Dieses Wispern scheint von dem Schnabel des Kolibris herzukommen. Ich habe diesen Schnabel zunächst für eine Attrappe gehalten, jetzt aber halte ich für möglich, dass der Drohnenvogel doch mit diesem Schnabel spricht, also vielleicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natürlich nicht sagen, was er mitteilen möchte. Es ist denkbar, dass vielleicht eine entfernte Stimme aus dem Schnabel zu mir spricht, ja, das ist denkbar. Nun warten wir einmal ab, ob der kleine sprechende Vogel sich mir nähern und vielleicht in eines meiner Ohren sprechen wird. — stop
Aus der Wörtersammlung: werkzeuge
sieben punkte
himalaya : 5.06 — Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung war zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein sehr kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
von der freiheit der maria
victor : 6.28 — Jeden Samstag kam Maria ins Café Gazette. Wenn Mittwoch war, konnte man sie im Hemingways besuchen, einem heruntergekommenen Laden in der Nähe des Hauptbahnhofes. Montags saß sie in der Bar-Celona. An Dienstagen und Freitagen war sie mal da und mal dort, und am Donnerstag ging sie ins Kino. Es war immer dasselbe, die kleine Frau, deren Alter niemand zu bestimmen wusste, kam herein, setzte sich an einen freien Tisch, oder wartete so lange im Stehen, bis ein Tisch freigeworden war, um sofort mit ihrer Arbeit zu beginnen. Sie bedeckte den Tisch, an dem sie Platz genommen hatte, mit weißen Papieren in unterschiedlichen Größen, holte aus einem Kofferwagen, der ihr ständiger Begleiter war, kräftige Filzstifte und begann zu malen. Wer sie einmal genau beobachtet hatte, wird vielleicht bemerkt haben, dass sie bei Eintritt in das Café oder die Bar, mit einem scheuen Blick alle anwesenden Menschen wahrgenommen oder in sich aufgenommen hatte, um sie nun zu porträtieren, einen Menschen nach dem anderen Menschen, auch dann, wenn sie den Ort längst verlassen hatten. Maria malte langsam, sie malte wie ein Kind, manchmal biss sie sich auf die Zunge. Sie war eine sehr stille, eine stumme Frau, und ihr Gesicht vom Leben ohne Obdach gezeichnet. Sie hatte einen Buckel, der mit den Jahren zu wachsen schien und sie immer weiter gegen den Boden drängte. Viele Menschen kannten sie. Vielleicht kann man sagen, dass es sich bei Maria um eine Ikone der Stadt handelte, sie lachte niemals, aber alle Menschen auf ihren Bildern lachten. Alle sahen sie aus wie Maria, ihre Gesichter genau genommen, Augen, Nase, Mund, aber die Haare waren andere Haare, auch die Farben der Hemden, Pullover, Krawatten, Blusen, waren genau jener Sekundenwirklichkeit entnommen, da Maria von der Straße hereingekommen war. Ja, sie malte langsam, und wenn es einmal sehr still war, konnte man die Geräusche ihrer Werkzeuge deutlich hören. Sobald Maria alle Menschen porträtiert hatte, erhob sie sich und ging von Tisch zu Tisch, um ihre kleinen, wertvollen Malereien zu verkaufen. Sie verlangte nie mehr als 1 Deutsche Mark. Im Laufe der Jahre kaufte ich immer wieder einmal eines ihrer Bilder, also Maria und mich, mal mit kurzen, mal mit längeren Haaren. Da war der Sommer der weißen Hemden und dort der Sommer der blauen Hemden. Einmal, es war Winter gewesen, trugen wir einen Hut. – stop
ameisengeschichte
india : 6.15 — Die müde Stimme eines Freundes gestern Abend auf dem Anrufbeantworter. Ich hatte um einen Rückruf gebeten, der Rückruf kam bald. Er meldete, er sei gerade auf dem Land in seinem Haus und kämpfe mit Ameisen. In den darauffolgenden Minuten hatten wir mehrfach kürzere Verbindungen, die je nur Sekundenzeit dauerten. Das waren Verbindungen einer Art gewesen, die man vielleicht von früher her kennt, Störgeräusche, Wortfetzen, Stimmen von sehr weit her, geheimnisvoll. Nach einigen Minuten war dann endlich eine stabile Verbindung erreicht. Ich hörte einen Bericht jener Vorgänge, die sich fern, im Rheingau, in einem kleinen Haus, das sich in der Nähe eines Waldes befindet, abspielten. Möbel wurden verrückt, in Mauerspalten geleuchtet, Dielen angehoben, um das Nest der Ameisentiere, die wieder einmal in das Haus eingewandert waren, aufzuspüren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch immer die Vorstellung eines Kampfes, der mit den Werkzeugen der Uhrmacher gefochten wurde, Lupen, Pinzetten, dazu feinste Netze, Nadeln, Honigtropfen. Rasch wurde deutlich, dass ich mich in Dimensionen der Vorstellung bewegte, die mit der Wirklichkeit meines Freundes nichts zu tun hatten, mein Freund kämpfte mit Schaufeln, mit Besen, mit Giften, mit Feuer, mit Wasser. Er sagte, er habe einzelne Tiere bereits vor Wochen wahrgenommen, sie aber zunächst nicht ernst genommen. Ich stellte mir vor, wie sie nun überall sind, ein Haus, das von Ameisen geflutet wird, ein Haus, das eine Haut von Ameisenkörpern trägt. Sie sollen als Staatswesen ohne besondere Intelligenz sein. Sie bemerken nicht, dass man sie bekämpft, sie werden weniger, aber sie hören nicht auf, sie flüchten nicht, gerade deshalb sind sie vielleicht nicht zu bezwingen. Und wieder die Frage, nehmen wir einmal an, ein Volk von Wanderameisen näherte sich, was würde ich hören? Vielleicht ein gut sichtbares Geräusch? — stop
nummer 6
tango : 3.56 — An einem Sommertag gehe ich mit Tom spazieren. Er ist ein ziemlich großer, junger Mann, schlaksig, der, während er von seinen Erlebnissen im Präpariersaal erzählt, immer wieder einmal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu werfen. Da ist nämlich ein Fluss, Tom wollte am Fluss spazieren, ich ahne weshalb. Er scheint, indem er Steine wirft, genauer denken zu können. Hin und wieder läuft er in den Wald, der unseren Weg begleitet und bleibt für einige Minuten verschwunden. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum folgen, er will mir deshalb noch einige Gedanken notieren, damit ich sie ausdrucken kann. Wenige Tage nach unserem Spaziergang kommt tatsächlich eine E‑Mail, eine sehr präzise Form der Beobachtung. Tom: > Ich versuche jetzt näher heranzugehen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Präparation des Körpers begonnen. Wir haben die Körper auf den Tischen inspiziert, wir haben ein Leichenprotokoll angefertigt, Hautschnitte gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unsere Arbeitstische beugen. Vier von uns befinden sich auf der einen, vier auf der anderen Seite des Tisches. Jedem von uns wurde eine Position am Präparat zugeordnet. Ich habe die Nummer 6. Also arbeite ich zu diesem Zeitpunkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katharina. Von den Leichen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spüren bekommt. Unsere Augen sind gerötet. Das ist eine Situation, an die wir uns zunächst noch zu gewöhnen haben. Skalpelle, Pinzetten, Hände sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Wir könnten uns verletzen, deshalb halten wir unsere Werkzeuge, als würden wir Bleistifte führen. Wir zeichnen auf sehr engen Bahnen. Wir beginnen in der regio praesternalis. Dort haben die Hautschnitte des Assistenten Zugang erzeugt, dort können wir die Haut mit unseren Pinzetten aufnehmen und etwas vom Körper heben. Eine erste unsichere Bewegung. Wir spannen die Haut. Wir schneiden von der subcutis in Richtung der gespannten Haut, arbeiten von innen nach außen, arbeiten von medial nach lateral. Haben wir gesprochen? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich sehe, dass ich meine Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spüre die Erschütterungen, die durch die Bewegungen meiner Freunde in dem Körper hervorgerufen werden. Wenn ich mich aufrichte, um meinen Rücken zu entspannen, erkenne ich die Fortschritte meiner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Körper gelöst, dass ich es zurückklappen kann. Woran habe ich gedacht, in dieser ersten Stunde der Arbeit? Habe ich daran gedacht, dass ich begonnen habe, einen Leichnam zu zergliedern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skalpell zu führen, als würde man damit schreiben. Ich kann Ihnen versichern, man geht nicht in die Tiefe, wenn man Haut präpariert. Man packt einen Körper aus. Eine wahre Geduldsprobe. Zentimeter um Zentimeter arbeitet man sich über die Oberfläche des Körpers voran. Erstaunlich, wie nah wir dem Leichnam nach zwei Stunden bereits gekommen sind. — stop
lamelleniris
foxtrott : 15.07 — Die Suchmaschine, von der ich gestern noch träumte am helllichten Tag, war so groß wie eine Streichholzschachtel. Sie hockte auf meinem Sofa und rührte sich nicht. Indem ich sie betrachtete, wirkte sie zunächst so, als wäre sie vollkommen unbeweglich, denn es waren an dem Suchmaschinenwesen keine Beine zu erkennen, dafür an jeder Seitenfläche ein kleines Auge, mit dem es sogar zwinkern konnte. Seine Haut ähnelte der Haut eines jungen Elefanten, es hatte jedoch keine Ohren und auch keine Arme oder Hände, tatsächlich wirkte das Wesen in diesem Moment als könnte es sich nicht von der Stelle bewegen. Welch ein Irrtum! Das Wesen konnte ganz anders, es konnte sich zum Beispiel von meinem Sofa erheben und durch die Luft fahren wie ein Ballon. Dazu holte es tief Luft, wurde größer und immer größer, bis es in etwa doppelt so groß geworden war wie zuvor. In dieser neuen Gestalt flog die kleine Suchmaschine in Richtung meines Bücherregals davon. Es war nun in diesem Flug kein Geräusch zu hören, vollkommen lautlos schwebte sie durch mein Zimmer, wurde von einem Luftzug kurz aus der Bahn geworfen, fing sich wieder und ich rief ihr noch zu: Lamelleniris! Es war erstaunlich, ein kleines Wunder. Das Wort schien sie zu beschleunigen, sie erreichte rasch mein Regal und flog von links nach rechts die Reihe der Buchrücken entlang, hielt vor jedem der Bücher einmal kurz an, und sie erweckte den Eindruck, als ob sie sich in jedem dieser Momente tatsächlich mit dem Buch selbst beschäftigte, in das Buch hineinsah oder von seinem Duft kostete, wie auch immer. Nach einigen Flügen auf und ab, hielt sie vor einem der Bücher an, es handelte es sich um eine kleine Geschichte der Fotografie, die von Peter Nadas aufgeschrieben worden war. Nun wird man nicht glauben, was dann zu sehen war. Die kleine Suchmaschine machte sich an dem Buch zu schaffen, sie schien über unsichtbare Werkzeuge zu verfügen, ein Buch in den Griff zu bekommen. Und das Buch parierte, es ließ sich aus dem Regalfach lösen und flog mit der kleinen Maschine, die sich unter das Buch begeben hatte, durch den Raum zu mir zurück, um in meiner Nähe sanft zu landen. Behutsam setzte sie sich neben das Buch, das sie für mich herbeigeholt hatte und bedeutete mir mit stillem Nachdruck: Schau her, hier ist das Buch, in dem das Wort Lamelleniris enthalten ist. Und so waren wir immerhin schon einen Schritt weiter als noch zuvor. — stop
nachtgecko
alpha : 2.28 — Das Museum der Nachthäuser befindet sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, die den New Yorker Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Ich weiß nicht, ob das Museum noch immer existiert, es war oder ist ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Fluss so nah, dass man ihn riechen konnte. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung öffnen würde, ein Museum für Nachtmenschen eben, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann endlich öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher gewesen, führte mich ein junger Mann persönlich herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz berichten, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung von Gecko und Spinne erinnerte. Das verrostete Ding war von der Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handelte, aus einer Zeit, da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter ein und demselben Hausdach wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine in einer Haltung, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre erbarmungslos harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen haben mochten. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich Tagmenschen sicher fühlten vor Nachtmenschen, die unter ihnen lebten, die mit Schritten Zimmerdecken ihrer Wohnung niemals erreichten. Aus und fini! - stop
georges perec
tango : 22.01 — Folgendes. Immer gegen 8 Uhr in der Früh brechen wir auf, Georges und ich. Wir gehen ein paar Schritte über die Rue de Javel, nehmen die 6er-Metro durch den Süden, steigen dann um in Richtung Porte Dauphin, fahren mal unter, mal über der Erde im Kreis herum, bis es Abend oder noch später geworden ist. So kann man gut sitzen, zufrieden, durchgeschüttelt, Seite an Seite für viele Stunden, und Menschen betrachten, wie sie hereinkommen, Fahrgäste, wie sie im Waggon Platz nehmen, wie sie beschaffen sind, davon legen wir Verzeichnisse an, Georges ein Verzeichnis, und ich ein Verzeichnis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Verzeichnis aller Erscheinungen eines Raumes anzulegen, der nicht gerade erfunden wird, eines Raumes, der sich fortbewegt, der betreten und verlassen wird von Menschen im Minutentakt, das Verzeichnis eines Raumes, dessen Fenster sich von Sekunde zu Sekunde neu bespielen, weil es also unmöglich ist, das Verzeichnis eines wirklichen Raumes anzulegen, machen wir das so: in der ersten Stunde des Reisetages notieren wir ein Verzeichnis der zugestiegenen Krawatten, in der zweiten ein Verzeichnis der Schuhe und der Strümpfe, ein Verzeichnis, sagen wir, der Gehwerkzeuge und ihrer Bekleidung, dann ein Verzeichnis der Haartrachten, der Taschen, der Methoden sich im fahrenden Zug einen sicheren Stand zu verschaffen, der Gesprächsgegenstände, der Art und Weise sich zu küssen, zu streiten, oder aber ein Verzeichnis abseitiger Gestalten, ein Verzeichnis der Diebe, der Bettler, der Posaunisten, der Verwirrten ohne Ziel, je ein Verzeichnis der Sprachen und kleiner Geschichten, die wir aus der allgemeinen Bewegung zu isolieren vermögen. Von Zeit zu Zeit, während wir so fahren und notieren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Georges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel verschluckt, als lache er nur deshalb, weil er Mademoiselle Moreau wieder freilassen wolle. Dann weiß ich, Georges hat etwas gefunden, das er mir abends in irgendeinem Café, wenn wir fertig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser beider Köpfe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen aufbewahren lässt, vortragen wird, – „Auf Krawatte gelb, zehnzwei, lebende Ameise, argentinisch, kreuz und quer. Der Codename Servals war Louviers“, sagt Georges und hebt sein Glas. Fünf Gläser Pastis, fünf Gläser Wasser, – dann sind wir wieder leicht geworden, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, nehmen wir den letzten Überlandzug nach Norden oder den 11er nach Süden, dorthin, wo die Feuernelken blühn, und wenn es endlich Morgen geworden ist, steigen wir um, öffnen die Fenster und fahren nach Westen in unserer Windmaschine spazieren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewitter aufsteigen und Schwefel vom Himmel kommen und weißes Licht, das die Landschaft entzündet. So haben wir schon sehr schöne Gedanken über das Feuer gefangen und über das Schlagzeug in diesem gewaltigen Raum, der über uns hängt, einem Raum, dessen zentrales Verzeichnis von nicht menschlichen Maßen ist, sodass wir bald nur schweigen und auf entfernte Menschen schauen, auf Szenen im rasenden Vorüberkommen, auf Filme, die in unseren Hin und Her hastenden Augen derart kurze Filme sind, dass sie einer Fotografie sehr nahe kommen, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbewegt. Es ist ganz so, als würden wir an einer gewaltigen Aufnahme der Zeit vorüber kommen, an einer Fotografie, deren Gegenwart wir nicht berühren, weil wir nicht aussteigen können, ohne das Leben zu verlieren, weil wir zu schnell, weil wir in einer anderen Zeit sind. — stop / koffertext
schneefliegen
nordpol : 1.15 — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden sind, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren, ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Erwärmung menschlicher Existenz. — stop
eine elektrische wiese
tango : 6.45 — Nehmen wir einmal an, irgendwo auf dieser Welt würde eine Wiese existieren, die nicht eine wirkliche Wiese ist, sondern eine Wiese künstlicher Gräser, künstlicher Blumen, künstlicher Tiere, eine Hightechwiese, in welcher nicht ein einziges Gramm organischen Materials aufzuspüren wäre. Diese Wiese verhielte sich natürlichen Wiesen gleich, sie würde wachsen und summen und knistern unter der Bewegung künstlicher Winde. Alles ist täuschend ähnlich dargestellt, die Grashüpfer der Wiese, reinste feinmechanische Wunderwerke, wie auch ihre Regenwürmer, Ameisen, Bienen, Farne, Moose, Blütenkelche, die sich öffnen, wenn der Morgen graut, die sich schließen, wenn es Nacht werden soll. Ja, die Nacht über einer Wiese, wie ich sie gerade erfinde, die Tiere der Dunkelheit, die sich in ihren Geräuschen bemerkbar machen, das Zirpen der Grillen, das sonore Brummen der Nachtschmetterlinge. Gerade eben stelle ich mir die Existenz eines Herrn vor, der zu dieser Wiese gehören wird. Tief sitzt er stundenlang über einen Tisch gebeugt, ein Feinmechaniker, der für Reparaturarbeiten an der Wiese in jeder Hinsicht verantwortlich zeichnet. Wie er sich mit Werkzeugen der Uhrmacher vorarbeitet. Seine besondere Brille, die auch kleinste Gegenstände sichtbar werden lässt. Gerade eben öffnet er vorsichtig ein Glühwürmchen, weil es nur noch fliegen, aber nicht mehr leuchten will. All diese kleinen Schrauben, Gewinde, Scharniere. — stop