echo : 6.12 — Ich habe eine E‑Mail bekommen. Lesen Sie selbst: Verehrter Louis, wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie sind wohlbehalten zurückgekehrt von Ihrer Reise. Leider konnten wir uns nicht treffen, so wie noch im Januar geplant. Es ist schwieriger geworden, das Haus zu verlassen. Ich fühle mich nicht länger sicher auf der Straße. Aber auch unter meinem eigenen Dach habe ich immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich nehme an, es existieren längst Ideen über mich, vielleicht wird man sagen: Er könnte nun doch verrückt geworden sein. Aber natürlich weiß ich, was ich tue und wovor ich mich fürchte. Im April war ich noch lange Stunden am Strand unterwegs gewesen, besuchte meine Freundin Ludmilla, die abends vor dem Boardwalk mit ihren Freuden im kalten Seewind sitzt. Ihr gehört jetzt ein Rollstuhl, den sie von eigener Hand bewegen kann, weil sie zäh und leicht ist, Sie würden staunen. Irgendwann muss ich das Haus wieder verlassen, das ist mir Herzenswunsch, ich kann Ludmilla doch nicht verlieren, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Im Dezember wird sie 92 Jahre alt, da kann man an das Ende schon einmal denken, nicht wahr! Nun, ich will nicht klagen, bin sehr vorsichtig geworden. Wenn ich zum Einkaufen gehe einmal in der Woche, dann niemals allein, sondern immer in der Begleitung eines alten Freundes. Sie werden verstehen, dass ich seinen Namen nicht erwähne. Er ist zuverlässig, hilft mir beim Tragen der Flaschen. Was ich sonst noch benötige, lasse ich mir kommen. Ich erinnere mich, jetzt, da ich hier sitze und schreibe, dass ich als Kind einmal überlegte, eine Sprache zu erfinden, die nur ich verstehen kann. Ich hatte mir vorgenommen, alle Wörter, die ich kannte, in meine neue Sprache zu übersetzen. Ich wollte lernen, mittels dieser Wörter zu denken. Seit wenigen Tagen arbeite ich nun daran, mir genau diesen uralten Wunsch zu erfüllen. Ist das nicht wunderbar! Vielleicht werde ich mich bald wieder sicher fühlen. Seemöwen sitzen auf dem Balkon, ihre Augen wirken beizeiten so, als wären sie Objektive, die man füttern kann. Genug! Es ist Sonntag. Morgen werde ich Ihnen einen Brief von Papier übermitteln, in welchem ich eine Liste von Wörtern vermerkte, die Sie in Zukunft bitte nicht weiter verwenden, wenn Sie mir eine E‑Mail schreiben. Sie wissen, wo der Brief zu finden ist. Bis bald, mein lieber Louis. Ihr Michael – stop
Aus der Wörtersammlung: wunderbar
mr. charles brown
sierra : 6.28 — Mitten in der Nacht entdecke ich, dass Charles Brown tatsächlich existierte. Er war Engländer gewesen, sammelte Uhren und trug diese Uhren am eigenen Körper. Nicht etwa eine Uhr nach der anderen Uhr, wie man meinen möchte, vielmehr einige Uhren oder sehr viele Uhren zur gleichen Zeit. Ich bin natürlich äußerst begeistert, öffne zunächst das Fenster, lass frische Luft in die Wohnung, kehre vor den Bildschirm zurück, er ist immer doch da, Mr. Charles Brown oder ein Mann, der vorgab, Mr. Charles Brown gewesen zu sein, ein Mann, der Uhren sammelte, der Uhren beobachtete. Er soll Uhren an seinen Fingern getragen haben, Uhren am Revers, Uhren in der Gestalt von Manschettenknöpfen. Ich stelle mir vor, dass ein feines Zeitrauschen von ihm ausgegangen sein muss. Ist es nicht wunderbar, stundenlang an ein Geräusch wie dieses Rauschen der Zeit zu denken? — 3 Uhr und 10 Minuten. Ich habe heute nichts weiter zu tun, als wach zu bleiben, bis es hell werden wird. — stop / ps. Bemerkt zunächst bei Peter Glaser
elisabeth
himalaya : 6.10 — Im Winter des vergangenen Jahres, an einem windig kalten Tag, besuchte ich in Brooklyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszweska und seine Frau Elisabeth. Sie wohnen nahe der Clark Street in einem sechsstöckigen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hatte den alten Mann während einer Fahrt auf einem Fährschiff zufällig kennengelernt. Er beobachtete, wie ich Fahrgäste fotografierte, die ihre Namen heimlich in die hölzernen Sitzbänke des Schiffes ritzten. Er sprach mich freundlich an, wollte mir einen Schriftzug zeigen, den er selbst drei Jahrzehnte zuvor an Ort und Stelle in der gleichen Weise wie die beobachteten Passagiere eingetragen hatte. Stolz war der alte Mann gewesen. Wir führten ein kurzes Gespräch über die New Yorker Hafenbehörde, Eisenbahnen und Flugzeuge, weiß der Himmel, wie darauf gekommen waren. Als wir das Schiff verließen, lud Mr. Tomaszweska mich ein, einmal zu ihm zu kommen, darum stieg ich nur wenige Tage später in den sechsten Stock des schmalen Hauses auf den Höhen Brooklyns. Die Tür zur Wohnung stand offen, warme Luft kam mir entgegen, die nach süßem Teig duftete, nach Zimt und Früchten. Die Räume hinter der Tür waren verdunkelt. Ich hatte sogleich den Eindruck, dass ich vielleicht träumte oder verrückt geworden sein könnte, weil in diesem Halbdunkel an den Wänden, auch auf dem Boden, Lampen, Diodenlichter, glühten. Modelleisenbahnzüge fuhren auf schmalen Geleisen herum. Ich höre noch jetzt das leise Pfeifen einer Dampflokomotive, das meinen Besuch begleitete. Es war eine rasende Zeit, Stunden des Staunens, da in der Wohnung des alten Herrn eine sehr besondere Modellanlage gastierte, ja, ich sollte sagen, dass die Wohnung selbst zur Anlage gehörte, wie der Himmel zur wirklichen Welt. Alle Züge fuhren automatisch von einem Computer gesteuert, die Luft über den Geleisen roch scharf nach Zinn. Wir sprachen indessen nicht viel, Mr. Tomaszweska und ich, sondern schauten dem Leben auf dem Boden in aller Stille zu. An einem Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Elisabeth. Sie beachtete mich nicht, starrte vielmehr lächelnd auf eine kleine Klappe, die in die Wand des Hauses eingelassen war. Manchmal öffnete sich die Klappe und ich konnte für Momente das Meer erkennen, das an diesem Tag von grüngrauer Farbe gewesen war, wunderbare Augenblicke, denn immer dann, wenn das Meer in dem kleinen Fenster erschien, lachte die alte Frau mit glockenheller Stimme auf, um kurz darauf wieder zu erstarren. Einmal setzte sich Mr. Tomaszweska neben seine Frau und fütterte sie mit warmem Orangenkuchen, den er selbst gebacken hatte. Und wie wir uns wieder auf den Boden setzten, um ein Modell des Orientexpress durch die Zimmer der Wohnung kreisen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemeinsam hier oben sehr glücklich seien. Er könne mit seiner Frau zwar nicht mehr sprechen, er könne sie nur noch streicheln, was sie irgendwie verstehen würde oder sich erinnern an die Sprache seiner Hände. Verstehst Du, sagte er, sie vergisst immer sofort, alles vergisst sie, auch wer ich bin, aber sie vergisst niemals nach den kleinen Engeln zu sehen, die uns besuchen, sie kommen dort durch die Klappe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wunder, sagte der alte Mann, wie schön sie lacht, mein junges Mädchen, nicht wahr, mein junges Mädchen. — stop
zwergseerosen
sierra : 6.38 — Vor Kurzem noch habe ich nicht gewusst, dass Lampenmedusen bevorzugt Zwergseerosen zu sich nehmen. Eigentlich müsste ich sagen, dass Lampenmedusen ihrer Aufgabe der Lichterzeugung nur dann nachzukommen in der Lage sind, wenn sie einige Gramm einer bestimmten Zwergseerosengattung aufgenommen haben. Diese Zwergseerosen nun sind wunderbare Wesen, die man mit bloßem menschlichem Auge nicht wahrzunehmen vermag. Sobald sie aber häufig sind, also gehäuft, sagen wir zehntausend Zwergseerosen in nächster Nähe zueinander, sehen wir eine rötliche Wolke, die sich in der Form einer flachen Linse sehr wohlzufühlen scheint. Unter einem Mikroskop betrachtet sind an jeder Zwergseerose wundervolle Blüten von roter Farbe zu erkennen, die sich langsam um die eigene Achse drehen, weswegen Zwergseerosen durch das Wasser wandernde Geschöpfe sind, schwebende, oder genauer, tauchende Blumen. Sie sollen zart nach Hummerfleisch schmecken, jedoch nicht genießbar sein, weil auch dann, wenn Menschen sie verkosten, eben jene Menschen in der Art der Lampenmedusen zu leuchten beginnen, ihre Haut und ihre Haare, dann fallen sie um und hören auf zu atmen. Einer, der das nicht glauben wollte, wurde gestern auf hoher See bestattet. Ein seltsamer Anblick, wie man berichtet, ein blaues Leuchten mit Armen, Beinen und einem Kopf, das langsam in der Tiefe verschwand. — Es ist schon weit nach Mitternacht, also Nachmittag geworden. Ich spaziere leise durch meine Wohnung, weil ich niemanden wecken möchte. Unter mir schlafen Menschen. Das ist immer wieder eine seltsame Vorstellung, dass sie sehr nah sind, nur durch etwas Holz und Bast und Stein von mir getrennt. Man kann in dieser Weise Jahre wohnen, ohne zu wissen, wen genau man atmen oder spazieren hört. Einer der Menschen unter mir, scheint im Schlaf zu sprechen. Wenn er zu sprechen beginnt, höre ich das Geräusch einer Tür, dann hört er auf zu sprechen. Für eine Weile ist es still. Es gibt viel zu erzählen im Schlaf. — stop
nachtameise
~ : sam
to : Mr. louis
subject : WANDERAMEISE
Mein lieber Freund Louis, es gibt Neues zu berichten. Ich bin nämlich umgezogen, von einer Wohnung in eine andere Wohnung, beide befinden sich in demselben Haus. Jahrelang, wie Du weißt, lebte ich im 3. Stock, jetzt schaue ich vom 25. Stockwerk auf die Straße hinunter. Die Menschen sind noch kleiner geworden, ihre Stimmen nicht länger zu hören. Ich wohne unter dem Dach. Manchmal liege ich rücklings auf dem Boden und denke, dass es hier ganz wunderbar ist, weil ich nie wieder von Schritten geweckt werde, wenn ich schlafe. Natürlich ist der Aufstieg beschwerlich, kein Lift nach wie vor, aber die Luft scheint hell zu sein, auch nachts, weil sie so gut riecht, nach Seeluft, ja, nach Seeluft. Vor wenigen Stunden öffnete ich das Fenster nach Süden hin und fütterte Möwen mit Brot, seither umkreisen sie lauernd das Haus. Die Wohnung nebenan scheint leer zu stehen, von unten ist leise Klaviermusik zu hören, nichts weiter. Es ist überhaupt sehr still hier oben. Während ich nachts, eine Wanderameise, meine Bücher und Papiere nach oben schleppte, war ich keiner Menschenseele begegnet. Aber ich hörte Stimmen, nicht von den Türen, von irgendwo her, als wären Menschen in den Stufen, dem Holz des Treppengeländers, den Wänden des alten Hauses gefangen. In den höheren Stockwerken befinden sich Briefkästen mit schweren, eisernen Deckeln, in welche man Botschaften abwerfen kann. Natürlich bin ich nicht sicher, ob sie noch funktionieren. Ich habe zur Probe eine Nachricht folgenden Inhaltes an mich selbst abgeschickt: Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlummerte ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Dein Sam. Guten Morgen! — stop
gesendet am
17.03.2013
8.15 pm
2253 zeichen
flugbriefe
delta : 0.01 — Nach einer harten Schicht im Postamt von Breles, an welcher nicht weniger als zweihundert Beamte beteiligt gewesen sein sollen, starteten in den frühen Morgenstunden 5778 Luftpostbriefe von eigener Kraft, jeder also für sich und zur gleichen Zeit, ihren Flug von der französischen Küste über den Atlantik nach John Island, South Carolina. Man fliegt im Schwarm nun schon die 16. Stunde, eine äußerst günstige Linie entlang, weil man in der Lage ist, sich an den Sternen zu orientieren. Es soll ein wunderbares Schauspiel gewesen sein, wie sich die Wolke der Luftpostbriefe unter dem Beifall des geladenen Publikums vom Boden erhob, um sich auf den Weg zu machen, das unendlich weite Westmeer zu überqueren. Ein Augenzeuge berichtete von einem Geräusch, das er nie zuvor wahrgenommenen habe, als ob sich ihm tausende Bienen näherten. Ein weiterer Beobachter schwärmte von wunderbar schimmernder Erscheinung genau in dem Moment, da die Briefwolke den Horizont erreichte. Er sagte, dass man noch eine lange Zeit ein Brummen vernommen habe. Einer der fliegenden Briefe sei vor seinen Füßen ins Gras gestürzt. Er habe den Brief mit sich nach Hause genommen, wo er ihn untersuchte. Ein Liebesbrief von Madame Juliett L. an sich selbst sei im Umschlag enthalten gewesen. An der oberen Briefkante, je an einer Ecke links und rechts, befänden sich Rotoren, die im Zustand der Ruhe, in der Art geschlossener Regenschirme nach unten gefalteten seien. Der Flugbrief ist leicht, sagte der Mann zum Schluss, ein kleines Wunder mit einer Briefmarke, die über Lichtsensoren zu verfügen scheint. — stop
erzählende physik eines fallendes radios
sierra : 6.32 — Von der Berechnung des Luftwiderstandes, dem ein Körper begegnet, wenn er sich im freien Fall befindet, wusste ich bis kurz nach Mitternacht nichts. Auch die Berechnung der wachsenden Geschwindigkeit, mit der sich ein stürzender Körper dem Erdmittelpunkt nähert, war mir bisher nicht möglich, weil ich noch nie gut gewesen bin in der Mathematik der Physik. Ich habe also nachgelesen und bin in dieser Lektüre auf einen wunderbaren Text gestoßen, den der Philosoph Lukrez bereits im Jahr 55 vor Christus notiert haben soll. Er schreibt: Wer nun etwa vermeint, die schwereren Körper, die senkrecht rascher im Leeren versinken, vermöchten von oben zu fallen auf die leichteren Körper und dadurch die Stöße bewirken, die zu erregen vermögen die schöpferisch tätigen Kräfte: Der entfernt sich gar weit von dem richtigen Wege der Wahrheit. Denn was immer im Wasser herabfällt oder im Luftreich, muss, je schwerer es ist, umso mehr sein Fallen beeilen, deshalb, weil die Natur des Gewässers und leichteren Luftreichs nicht in der nämlichen Weise den Fall zu verzögern imstand ist, sondern im Kampfe besiegt vor dem Schwereren schneller zurückweicht: Dahingegen vermöchte das Leere sich niemals und nirgends wider irgendein Ding als Halt entgegenzustellen, sondern es weicht ihm beständig, wie seine Natur es erfordert. Deshalb müssen die Körper mit gleicher Geschwindigkeit alle trotz ungleichem Gewicht durch das ruhende Leere sich stürzen. — Eine weitere Stunde später hatte ich eine recht präzise Vorstellung von der Beschleunigung, die ein Transistorradio erfährt, wenn es aus 1,60 Meter Höhe von einem Bartisch aus zu Boden fällt. Das ist eine wichtige Erfahrung, um eine Geschichte erzählen zu können, die sich dem Verhalten eines fallenden Radios gemäß entwickeln könnte. Weil sich das Radio zunächst langsam, dann schneller werdend durch die Luft bewegt, würden sich auch die Wörter der Geschichte zunächst langsamer ereignen, eine geringe Menge Wörter für ein erzähltes Particle der Geschichte, wohingegen zuletzt, kurz vor dem Aufprall des Radios sich sehr viele Wörter ereignen werden, um ein erzähltes Particle zu erzeugen. Eine interessante Vorstellung, die ich paradoxerweise in meinem Gehirn herumzudrehen vermag. Weil sich das Radio zunächst langsam bewegt, ist viel Zeit, um viele Wörter zu notieren. Stetig werden die Wörter weniger, weil sich die Zeit ihrer Aufführung verkürzt. Alles das ist für eine extreme Zeitlupe ausgedacht. Und jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. Guten Morgen. — stop
tiefe
tango : 3.22 — In Peter Bichsel’s Buch der Kindergeschichten, einen wunderbaren ersten Satz der Erzählung Die Erde ist rund gelesen. Der Satz geht so: Ein Mann, der weiter nichts zu tun hatte, nicht mehr verheiratet war, keine Kinder mehr hatte und keine Arbeit mehr, verbrachte seine Zeit damit, dass er sich alles, was er wusste, noch einmal überlegte. — stop — Weit nach Mitternacht. Leichter Schneefall, leichter Wind. Immer wieder der Wunsch, Gegenstände, auch erfundene Dinge und Wesen, unverzüglich zu öffnen, um nachzusehen, was in ihrem Inneren zu vermerken ist. stop. Vorwärts erfinden in die Tiefe. stop. Vorwärts bis hin zur letzten einsamen Haut, die jedes verbleibende Geheimnis umwickelt. – stop
von den eisbriefen
kilimandscharo : 6.28 — Für ein oder zwei Minuten war ich wild entschlossen gewesen, ein Gründer zu werden, und zwar gestern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Briefkasten gelaufen, der nicht weit entfernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befestigt ist. Ein Eichhörnchen, natürlich, begleitete mich. Es war sehr kalt, und plötzlich habe ich wahrgenommen, dass ich, wenn es mir möglich wäre, gern Briefe von Eis verschicken würde, hauchdünne Blätter gefrorenen Wassers, die man in kühlende Kuverts stecken und in alle Welt verschicken könnte. Eine wunderbare Vorstellung nachgerade, wie ein Mensch, dem ich einen Eisbrief gesendet habe, in der Küche vor seinem Eisschrank sitzt und meinen Brief für Sekunden studiert, um ihn dann rasch wieder in die Kälte zurückzulegen, damit er nicht verschwindet in der warmen Luft. Ich sollte also bald einmal jene besonderen Eispapiere, ihre Fabriken und Läden erfinden, und Kuverts, und Briefkästen, die wie Kühlschränke funktionieren. Wo man die Briefe sortiert, in einem Postamt, würde man in tiefgekühlten Räumen arbeiten, und alle diese Automobile, nicht wahr, die vereiste Briefware über das Land befördern. Ein Unternehmen dieser Art, wäre eine wirkliche Herausforderung, eine gute und sehr verrückte Sache, so dachte ich am gestrigen Abend. Kaum war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, war aus der Gründerzeit bereits eine Erfinderzeit geworden. Und wie ich in diesem Augenblick voller Freude im polaren Zimmer vor meinem Schreibtisch sitze, dampfender Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hörbaren Pfeifen Zeichen in schimmernde Eispapierbögen fräst. Ich schreibe: Mein lieber Theodor, ich wollte Dir schon lange einmal einen Eisbrief notieren. Hier nun, wie versprochen, ist er endlich bei Dir angekommen. Ich hoffe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir aufgeschrieben habe, dass ich nämlich den Wunsch habe, bald einmal zwei oder drei Tage zu schweigen, um den Kopfstimmen stummer Menschen nachzuspüren. Ich könnte mich kurz vor Beginn meiner Stille verabschieden von Freunden: Bin telefonisch nicht erreichbar! Oder einen Notizblock besorgen, um Fragen für den Alltag zu verzeichnen, sagen wir so: Führen sie in ihrem Sortiment Hörgeräte für Engelwesen fingergroß? Eine Kärtchensammlung zu erwartender Wiederholungssätze weiterhin: Habe vorübergehend mein Tonvermögen verloren! – Es ist eine angenehme Nacht, lieber Theodor. Ich erinnerte einen Satz René Chars, den er in seiner Gedichtsammlung »Lob einer Verdächtigen” notierte. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangsarten mit dem Leben: entweder man träume es oder man erfülle es. In beiden Fällen sei man richtungslos unter dem Sturz des Tages, und grob behandelt, Seidenherz mit Herz ohne Sturmglocke. Dein Louis, ganz herzlich! — stop
josephine auf der mary murray
tango : 6.34 — Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung, wie sich Josephine an einem warmen Samstagvormittag auf den Weg macht nach New Jersey, um das Wrack der MS Mary Murray zu besichtigen? Wie sie ein Taxi ordert. Wie der Fahrer erzählt, dass er noch nie eine so weite Fahrt unternommen habe im Auftrag. Eigentlich dürfe er mit seinem Wagen die Stadt nicht verlassen. Also steigen sie in Josephines Auto um, einen uralten Buick, der seit über einem Jahrzehnt nicht aus der Garage bewegt worden war. Sie nehmen die Verrazano-Narrows Bridge südwärts. Josephine raucht schon lange nicht mehr, aber heute macht sie eine Ausnahme, eine. Ihr dünnes weißes Haar, das im Wind flattert, fängt sie mit wendigen Fingern wieder ein. Sie trägt Turnschuhe und ein orangefarbenes, sommerliches Kleid. Die Haut ihrer Beine, Arme, Schultern sind hell wie ihr Haar. Eine Stunde rauschen sie wortlos auf dem New Jersey Turnpike dahin. Nahe Freeholf halten sie an. Gleich neben dem Highway bewegt sich ein Fluss, dunkles, müdes Wasser, langsam. Am Ufer wartet ein junger, bärtiger Mann in einem Paddelboot von leuchtend roter Farbe. Wie Josephine sich in diesem Augenblick wünscht, fotografiert zu werden, wie sie sich in das Boot setzt, wie sie ihren Strohhut mit beiden Händen zurechtrückt, dann fahren sie los, unter mächtigen Brücken hindurch in Richtung des Raritanflusses. Möwen stehen im brackigen Wasser. Es ist fast still, nur das Geräusch des Paddels, ein paar Fliegen brummen durch die Luft. Einmal nähert sich ein Hubschrauber der Küstenwache, dreht wieder ab. Und plötzlich ist sie zu sehen, eine Fata Morgana in der Landschaft, das ausrangierte gewaltige Fährschiff der Staten Island Flotte, die MS Mary Murray. Schlagseite steuerbords ruht sie in einem Bett von Schilf, Libellen schießen hin und her, blaue und grüne riesige Tiere. Wie sich Josephine und der junge Mann dem Schiffswrack vorsichtig nähern. Wie der junge Mann eine Leiter am Rumpf des Schiffes befestigt. Wir sehen der alten Dame zu, wie sie vorsichtig Sprosse um Sprosse erklimmt. Ihr behutsamer Gang über das Deck, das sich neigt. Jetzt, da die Farben vom Schiffskörper fallen, von Stürmen und Regen gepeitscht, von der Sonne gebrannt, kann man das hölzerne Herz der alten Flottendame erkennen, Käfer und Ameisen spazieren über die Sitzbänke der Promenade. Josephine muss nicht lange suchen, im Schatten einer Ulme, die sich über das Schiff zu beugen scheint, eine Sitzbank, hier genau, ja, hier genau muss die Schrift ihrer Schwester Geraldine zu entdecken sein, ein Satz nur, den das kleine Mädchen im Jahr 1952 an einem Sommernachmittag auf dem Weg von Manhattan nach Staten Island in das Holz der Bank geritzt hatte, während ihre Zwillingsschwester Charlotte sie vor Entdeckung schützte. Wie Josephines zitternde Finger in diesem Augenblick über die Vertiefung der Zeichen fahren. — stop