delta : 18.12 — Helena erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Seiten, in dem von einem jungen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maulbeerbaum setzte, um seinen Pulsschlag zu zählen. Wie er nun gegen seine Müdigkeit kämpft, gegen das aufreizende Gefühl der Ameisenbeine, welche unter seinen Hosenbeinen spazieren, auch gegen Durst- und Hungergefühle, wie lange Zeit kann man so sitzen und zählen, nicht lange. Es war noch nicht einmal dunkel geworden, als der junge Mann aufstand und verschwand. Da war nun also ein Maulbeerbaum gewesen, irgendwo im Süden, ein paar Vögel außerdem, Hasen, Füchse, Eidechsen, Spinnen, Käfer und eine Erzählerin, die darauf wartete, dass der junge Mann wieder kommen und seine Pulse weiterzählen würde. Wie sie in ihrem Kopf Stunden, Tage, Wochen lang den Baum beobachtete, wie sie sich indessen einmal erinnerte an einen Freund, der verrückt geworden sein soll, weil er nicht damit aufhören konnte, Zeitungspapiere mittels Scheren zu zerlegen. Er sammelte Beweise für dies und das! Berge von Zeitungen soll er in seiner Leidenschaft für Beweissicherung zerlegt haben, auch unterwegs konnte er nicht damit aufhören, ein Seltsamer, der nur deshalb in Zugabteilen sichtbar wurde, weil die Papiere, die Zeitungen selbst damals, als er lebte, noch sichtbar gewesen waren. Heutzutage darf man, sagt Helena, in unsichtbarer Weise verrückt werden, fast alle sind wir schon längst verrückt, haben auf Computern Texte gesammelt, die wir niemals lesen werden, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Beweise. In ihrer Geschichte im Übrigen will sie eine weitere Erzählung versteckt haben, jedes einzelne Wort der Geschichte, auch ganze Sätze. Um welche Erzählung es sich präzise handelt, möchte sie nicht verraten. Die Erzählung soll von einer berühmten Schriftstellerin erfunden worden sein, eine wunderbare Miniatur. Sie wartet noch immer. — stop
Aus der Wörtersammlung: beweis
ai : ÄGYPTEN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Die Menschenrechtsverteidigerin Yara Sallam, die Aktivistin Sanaa Ahmed Seif sowie 20 weitere Angeklagte wurden am 26. Oktober wegen Verstößen gegen das repressive ägyptische Demonstrationsrecht und einer Reihe weiterer Anklagen zu drei Jahren Haft verurteilt. / Das Gerichtsurteil wurde von dem zuständigen Gericht in Heliopolis verhängt, das im Tora-Polizeiinstitut zusammentrat, einem Nebengebäude des Tora-Gefängnisses. Weder Familienangehörige noch die Öffentlichkeit waren zur Gerichtsverhandlung zugelassen. Wie die Rechtsbeistände der Verurteilten Amnesty International mitteilten, werden diese jetzt vor einem höheren Gericht Rechtsmittel einlegen. / Sicherheitskräfte hatten die Aktivist_innen am 21. Juni im Kairoer Stadtteil Heliopolis festgenommen, nachdem sie eine Kundgebung in der Gegend aufgelöst hatten. / Rechtsbeistände der Aktivist_innen ließen Amnesty International wissen, dass anhand der vor Gericht vorgelegten Beweise, darunter Videoaufzeichnungen, nicht nachgewiesen werden konnte, dass Personen aus der Gruppe an den Gewalttaten beteiligt waren. Yara Sallams Rechtsbeistände hatten angeführt, dass die Menschenrechtsverteidigerin nicht an den Protesten teilgenommen hatte, sondern bei der anschließenden Razzia festgenommen wurde. / Außerdem teilten die Rechtsbeistände Amnesty International mit, dass die Angeklagten während der letzten Verhandlungen am 11. und 26. Oktober das Verfahren weder hören noch mit ihrem Rechtsteam kommunizieren konnten, da sie durch eine getönte Glasscheibe vom Rest des Gerichtssaals getrennt waren.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 8. Dezember 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
ai : INDONESIEN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 27. September verabschiedete das Parlament von Aceh das islamische Strafgesetz für die Provinz Aceh (Qanun Hukum Jinayat) auf Grundlage der Scharia. Darin sind unter anderem bis zu 100 Stockschläge für gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen und vor- sowie außereheliche sexuelle Beziehungen (“Ehebruch”) vorgesehen. Das Gesetz sieht die Prügelstrafe zudem für eine Reihe weiterer Vergehen vor, wie z. B. Alkoholkonsum, Glücksspiel, “Alleinsein mit einer oder einem Angehörigen des anderen Geschlechts, der oder die kein(e) Ehepartner_in oder Verwandte® ist” (khalwat), sexuelle Misshandlung, Vergewaltigung, außerehelicher Austausch von Zärtlichkeiten sowie Beschuldigung einer Person, Ehebruch begangen zu haben, ohne aber vier Zeugen vorweisen zu können. Es wird zudem befürchtet, dass die Vorschriften zur Beweislast in Fällen von Vergewaltigung und sexueller Misshandlung nicht den internationalen Standards entsprechen. Das islamische Strafgesetz der Provinz Aceh ist auf in der Provinz wohnhafte Muslime anwendbar. Jedoch könnten auch Nichtmuslime unter dem Gesetz verurteilt werden, wenn es um Vergehen geht, die nicht im indonesischen Strafgesetzbuch geregelt sind. /Das islamische Strafgesetz der Provinz Aceh wird nur dann der Zentralregierung zur Billigung vorgelegt, wenn der Gouverneur der Provinz es zuvor abzeichnet. Nach den gegenwärtigen Regelungen hat die Zentralregierung nach Vorlage des Gesetzes 60 Tage Zeit, eine Überarbeitung anzuordnen oder das Gesetz abzulehnen, falls es der indonesischen Verfassung oder anderen nationalen Gesetzen zuwiderläuft. / Die Prügelstrafe stellt eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafe dar, die gegen das Völkerrecht verstößt, insbesondere gegen Artikel 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und die UN-Antifolterkonvention, deren Vertragsstaat Indonesien ist.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 14. November 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
tucholsky : dos passos
echo : 5.32 — Um kurz nach vier Uhr entdecke ich das Patent eines Bürostuhls, der sich mit Strom versorgen lässt, um Schlafende durch leichte oder mittelschwere elektrische Schläge zu wecken. Kurz darauf, schon hell, ein Text Kurt Tucholskys aus dem Jahr 1928. Ich zitiere: John Dos Passos, ›Manhattan Transfer‹ Da ist ›Manhattan Transfer‹ von John Dos Passos (bei S. Fischer in Berlin). Dieser halbe Amerikaner, dessen ›Drei Soldaten‹ (im Malik-Verlag) gar nicht genug zu empfehlen sind, hat da etwas Gutes gemacht. Ich denke, dass die Mode der amerikanischen Romane, die uns die Verleger und die Snobs durch Übermaß sacht zu verekeln beginnen, nachgelassen hat – und das ist auch gut so. Nicht etwa, weil nervöse und wenig erfolgreiche Reaktionäre der Literatur, zum Beispiel in den ›Münchner Neuesten Nachrichten‹, gegen die Übersetzungen aus dem Fremdländischen poltern –, sondern weil es zwischen der Hysterie der Anbetung und der Neurasthenie der Verdammung ein vernünftiges Mittelmaß gibt. Man soll fremde Länder kennenlernen – man soll sie nicht sofort segnen und nicht gleich verfluchen. ›Manhattan Transfer‹ ist ein gutes Buch – die Amerikaner haben sich da einen neuen Naturalismus zurechtgemacht, der zu jung ist, um an den alten französischen heranzureichen, aber doch fesselnd genug. Es sind Fotografien, nein, eigentlich gute kleine Radierungen, die uns da gezeigt werden; ob sie echt sind, kann ich nicht beurteilen, die Leute, die lange genug drüben gelebt haben, sagen Ja. Es ist die Lyrik der Großstadt darin, eine männliche Lyrik. Der Einsame auf der Bank: »Fein hast du dein Leben versaut, Josef Harley. Fünfundvierzig und keine Freude und keinen Cent, um dir gütlich zu tun.« Das hat einmal so gehießen: »Qu’as tu fait de ta jeunesse?«, und das ist von Verlaine und ist schon lange her, aber doch neu wie am ersten Tag. Das Mädchen da liegt auf ihrem Zimmer in der großen Stadt, schwimmt in der Zeit und ist so allein. Sehr schön, wie ein Mann auf der Bettkante sitzt, und da ist eine Frau, seine Frau, und ein Kind, sein Kind – und plötzlich sieht er, dass er »hagere rötliche Füße hat, von Treppen und Trottoirs verkrümmt. Auf beiden kleinen Zehen saß ein Hühnerauge.« Und da hat er Mitleid mit sich und weint. Das Buch ist auch formal gut – Dos Passos ist nicht nur ein Dichter, sondern auch ein begabter Schriftsteller. Sehr hübsch ist diese Denkfigur, der man öfter bei ihm begegnet: »Auf dem Treppenabsatz befand sich ein Spiegel. Kapitän James Merivale blieb stehen, um Kapitän James Merivale zu betrachten.« Und diese, die gradezu programmatisch ist und viel tiefer als sie, leichtgefügt, wie sie ist, zu sein scheint: »Nichts hat so viel Erfolg wie der Erfolg.« Eine ähnliche Drehtür des Stils steht bei Sinclair Lewis, im ›Elmer Gantry‹, einem Buch von dem hier noch ausführlich die Rede sein soll … Ein einziger Klub, heißt es da, wird Herrn Gantry, den Prediger, vielleicht aufnehmen. »Des Ansehens wegen. Um zu beweisen, dass sie unmöglich den Gin in ihren Schränken haben können, den sie in ihren Schränken haben.« Die Übersetzung von ›Manhattan Transfer‹ durch Paul Baudisch ist sauber und anständig. Kleine Anmerkung: Man sagt im Deutschen kaum: »Das macht mich zipflig« –, sondern wohl immer: »Das macht mich kribblig«. Und was ist dies hier? »Dü Mauretania läuft öben eun; vürundzwanzig Stunden Verspötung« – Spricht eine alte gezierte Dame so? ein Oberhofprediger? Nein, das ist die Übersetzung irgendeines ›slang‹, und die Männer, die sich mit Übertragungen aus dem Englischen befassen, sollten sich das abmachen. — Der Morgen kommt. Tauben sitzen auf dem Fensterbrett. Sie haben tief geschlafen. — stop
papiere in zügen
delta : 0.08 — Ich erinnerte mich an einen Mann, dem ich vor zwei Jahren in einem New Yorker U‑Bahnzug begegnet war. Der Mann saß gleich vis-à-vis, sein Rücken lehnte an der Wand des Waggons, er hatte die Beine übereinander geschlagen, trug ramponierte, blaue Turnschuhe, und einen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd zudem, sowie eine grellbunte Krawatte, deren Knoten locker vor einem langen, schmalen Hals schaukelte. Ich hatte damals den Eindruck, dass der Mann sich freute, weil ich ihn beobachtete, indem er Zeitungen durchsuchte, die sich auf dem Sitzplatz neben ihm türmten, und zwar in einer sehr sorgfältigen Art und Weise durchsuchte, jede der Zeitungen Seite für Seite. Er schien Übung zu haben in dieser Arbeit, seine Augen bewegten sich schnell und ruckartig, wie die Augen eines Habichts, hin und her. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, sein Kopf neigte sich dann leicht nach vorn, um mit einer Schere einen Artikel oder eine Fotografie aus der Zeitung zu schneiden. Das Rascheln des Papiers. Und das helle, ziehende Geräusch der Schere, wie es die Seiten zerteilte. Ich notierte in mein Notizbuch: Ein verrückter Mann, ich werde ihm nie wieder begegnen. Diese Notiz habe ich heute bemerkt unter weiteren Notizen, die sich mit dem geduldigen Schlafen in U‑Bahnzügen beschäftigen. Ich frage mich nun, wie ich darauf gekommen sein könnte, den beobachteten Mann als verrückt zu bezeichnen. Vielleicht deshalb, weil ich mir vorgestellt hatte, wie der Mann leben könnte. Ich glaube, ich stellte mir das Leben eines Verrückten vor. In seiner Wohnung türmten sich Zeitungen, Tische, Stühle, Schränke existierten nicht, aber ein Bett, das von Papieren bedeckt war. Auch in der Wohnung, oder gerade eben dort, wurden Zeitungen durchsucht, neuere oder ältere Zeitungen, die der Mann während seiner täglichen Spazierfahrten durch die Stadt mit sich nahm. Eigentlich las der Mann die Zeitungen nicht wirklich, sondern nur Überschriften. Sobald er eine bemerkenswerte Überschrift entdeckte, wurde der dazugehörende Artikel gesichert, Artikel, die sich beispielsweise mit Blumen, Afrika, Ozeanografie, Geheimdiensten, Waffensystemen, Hungersnöten oder erzählender Literatur beschäftigten. Hunderttausende Schriftstücke waren so über viele Jahre gesammelt worden, eine faszinierende Tätigkeit, eine Arbeit, die den Mann glücklich gemacht haben könnte, ich vermute, weil er vor sich selbst verheimlichte, dass er seine gesammelten Dokumente niemals lesen wird, weil seine Lebenszeit nicht ausreichte, selbst dann nicht, wenn er das Sammeln einstellen und mit der Lektüre seiner Beweisstücke ohne Verzug beginnen würde. — stop
im zimmer. mitternacht
olimambo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balanciere ich vor dem Bücherregal auf einem Stuhl. Noch ist Samstag. Ich erhoffe mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? Ein bemerkenswerter Satz. Wie ich von meinem Stuhl steige und wieder auf dem Boden stehe, halte ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch wurde im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Nun fällt mir auf, dass G. und J. gestorben sind, während P. und ich, der ich das Buch ausgeliehen habe, noch leben. Auch Daniil Charms ist tot und sein Übersetzer Peter Urban seit wenigen Wochen. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen 7 °C. Ich werde mich gleich auf die Suche nach meinen fünf Marienkäfern machen, die im Kühlschrank in einer Schachtel überwintern sollen. Zwei habe ich bereits entdeckt, das war vor drei Stunden gewesen, vermutlich ist das so, dass ich in dieser Minute alle Käfer aus den Augen verloren habe. Aber ich kann immerhin sagen, dass ich die Käfer gesehen, sie mir also gestern nicht eingebildet hatte. Käfer No 1 saß in der Diele nahe der Tür, als würde er warten. Käfer No 2 bewegte sich im Arbeitszimmer über das Fenster, hinter dem es stockdunkel gewesen war. Bevor ich mich auf die Suche mache, sollte ich vielleicht doch noch einmal einen Versuch unternehmen, meinen Daniil Charms zu finden. Gleich vorsichtig, nur nicht stürzen, den Stuhl besteigen. Bisweilen träumte ich, von einem Berg zu fallen. Langsam, ich gehe durchs Zimmer. Und während ich so gehe, erinnere ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südfriedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir gesprochen haben. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied war. — stop
innenohrmuscheln
echo : 6.22 — Ludwig, der mich gestern Abend besuchte, hatte einen kleinen Rausch mitgebracht, an dem wollte er weiter voran arbeiten. Er hatte darum eine Flasche billigen Cognacs in eine Papiertüte gesteckt, um sie den Abend über an seinem Bauch zu wärmen. Wenn er ab und zu einen Schluck aus der Flasche nahm, machte er seine Augen zu Schlitzen, er konnte dann nicht mehr sehen, obwohl er eigentlich nichts schmecken wollte. Es war ein lustiger Abend, einmal schlief Ludwig ein im Bad, ich weckte ihn und führte ihn zurück in die Küche. Das war gegen 22 Uhr gewesen. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt keine Beweise dafür finden, dass Ludwig mir noch immer zuhörte oder mich überhaupt noch hören konnte. Aber sich selbst schien er noch wahrnehmen zu können. Wörter entgleisten, die Sätze, die seine Geschichten erzählten, waren jedoch mittels Kombination verständlich. Um kurz vor Mitternacht berichtete Ludwig von einer Frau, die er einmal liebte. Sie wohnte lange Zeit in Lissabon, was sie dort machte, wovon sie lebte, wusste Ludwig nicht zu berichten, aber dass sie über besondere Ohren verfügte. In ihren Ohrmuscheln links und rechts sollen sich weitere kleine Ohrmuscheln befinden, exakt in derselben Form angelegt, nur eben kleiner. Aber nicht genug damit, wenn man mit einer Taschenlampe in die Innenohrmuscheln der Frau leuchtete, waren ein weiteres Paar noch kleinerer Ohrmuscheln zu entdecken. Das war eine seltene anatomische Erscheinung. Als ich wissen wollte, wie sich Ludwig implizierte Muschelformationen erklärte, war der verliebte Mann bereits eingeschlafen. Er saß vor meinem Küchentisch, die Flasche war geleert, der Kopf auf seine schmale Brust gesunken, so schlief er, ohne vom Stuhl zu fallen. Als ich am frühen Morgen die Küche betrat, saß er noch immer in dieser Haltung am Tisch. Beinahe hätte ich ihn für ein Kunstwerk gehalten, für eine bekleidete Gipsfigur: Trinkender Freund. Aber Ludwig atmete. Der Atem war flach. Es war ein Atem, der gerade noch zum Leben reichte. Ich musste Ludwig wecken, ich musste ihn wecken, um nicht schuldig zu werden. – Guten Morgen. Es ist Montag. — stop
ai : SPANIEN
MENSCH IN GEFAHR : “Im Fall von Aleksandr Pavlov wurde dem Auslieferungsersuchen der kasachischen Behörden erneut stattgegeben, obwohl glaubwürdige Beweise vorliegen, dass ihm nach seiner Rückkehr nach Kasachstan Folter droht. Die endgültige Entscheidung über die Auslieferung von Aleksandr Pavlov liegt nun bei der spanischen Regierung. / Der 37-jährige Aleksandr Pavlov ist kasachischer Staatsbürger und hat in Spanien einen Antrag auf Asyl gestellt. Er befindet sich derzeit in der spanischen Hauptstadt Madrid in Haft. Am 8. November prüfte und bewilligte das zentrale Gericht zur Verfolgung schwerer Straftaten (Audiencia Nacional) den Auslieferungsantrag der kasachischen Behörden und bestätigte damit die Entscheidung der Zweiten Strafkammer des Gerichts vom 23. Juli. Die endgültige Entscheidung über das Auslieferungsersuchen wird vom spanischen Ministerrat getroffen. Dieser könnte die Entscheidung des zentralen Gerichts aufheben. Auf nationaler Ebene sind in Aleksandr Pavlovs Fall alle Rechtsmittel erschöpft. Sollte er nach Kasachstan zurückgeführt werden, drohen ihm Folter und andere Misshandlungen sowie ein unfaires Gerichtsverfahren. / Amnesty International ist der Ansicht, dass das Auslieferungsersuchen der kasachischen Behörden mit Aleksandr Pavlovs Verbindungen zu dem Oppositionsführer Mukhtar Ablyazov zusammenhängt. Mukhtar Ablyazov war 2009 aus Kasachstan geflohen und wurde 2011 in Großbritannien als Flüchtling anerkannt. Aleksandr Pavlov war zuvor einige Jahre lang als Sicherheitschef von Mukhtar Ablyazov tätig gewesen. Es hat in Kasachstan einige Fälle gegeben, in denen strafrechtliche Verfahren gegen politisch oder zivilgesellschaftlich aktive Personen mit deren Verbindungen zu Mukhtar Ablyazov und seinen regierungskritischen Ansichten in Zusammenhang gebracht worden sind. Trotz der Zusicherung der Regierung, das Problem der Folter und Misshandlung von Inhaftierten in Kasachstan erfolgreich angegangen zu sein, wird nach wie vor über derartige Fälle berichtet. / Gemäß dem Völkerrecht ist Spanien verpflichtet, niemanden in ein Land zurückzuführen, in dem ihm oder ihr Verfolgung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen bzw. ‑verstöße drohen. Die spanischen Behörden dürfen Aleksandr Pavlov daher nicht an Kasachstan ausliefern oder ihn auf andere Weise dorthin überstellen, da sie damit gegen ihre internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen verstoßen würden. Er darf den kasachischen Behörden auch dann nicht übergeben werden, wenn diese diplomatische Zusicherungen machen, ihn nicht zu foltern, in anderer Weise zu misshandeln oder in einem unfairen Verfahren zu verurteilen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 20. Dezember 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
stille
tango : 22.15 — Am 21. Dezember des vergangenen Jahres notiert Wolfgang Herrndorf auf Position Arbeit und Struktur : Agota Kristofs Trilogie zum dritten Mal nacheinander in Folge gelesen, das Personal verirrt sich schon in meine Träume. Einer der eineiigen Zwillinge, Klaus, Schriftsteller wie im Buch, steht von Gaffern und Polizisten umringt auf dem Nürnberger Hauptmarkt und hält ein Manuskript mit dem Titel Die glückliche Stadt hoch, dessen sofortige Publikation er verlangt. Es handle von Ungeheuerem, Skandalösem, Verborgenem. Doch niemand, scheint ihm, nimmt ihn ernst; man behandele ihn wie einen Wahnsinnigen. Ein Polizist sagt: Warum bringen Sie es nicht zur Zeitung, um es dort veröffentlichen zu lassen? / Klaus betritt ein Gebäude, dessen Flure und Räume an einen vor Jahrzehnten stillgelegten Bürokomplex der Deutschen Post erinnern, und gibt sein Manuskript zusammen mit einem kleinen Zettel an der zuständigen Stelle ab. Beim Verlassen der Redaktion bemerkt er, dass alle ihm mitleidig nachschauen. Er kehrt um. Ein junger Mann erklärt: Sie kommen jedes Jahr einmal mit Ihren Dokumenten hierher und geben sie zusammen mit einem Zettel ab, auf dem steht: “Bitte nehmen Sie mein Manuskript entgegen, tun Sie so, als ob Sie es drucken, und lassen Sie mich niemals wissen, was auf diesem Zettel steht.” / Das große Heft. / Der Beweis. / Die dritte Lüge. / Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Nussschale, die die Dimensionen eines Riesentankers hat, ungeheuer, wahnsinnig, maximal kaputt. — Stille. - stop
ai : USA
MENSCH IN GEFAHR : “Warren Hill soll am 15. Juli im US-Bundesstaat Georgia hingerichtet werden. Die sieben ExpertInnen, die ihn untersucht haben, sagen inzwischen alle, dass er “geistig behindert” ist. In diesem Fall würde eine Hinrichtung gegen die US-amerikanische Verfassung verstoßen. Seine Rechtsbeistände haben sich an den Obersten Gerichtshof der USA gewandt, damit er eingreift. / Im Jahr 2002 befand ein Richter des Bundesstaates Georgia, dass Warren Hill tatsächlich “deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Fähig¬keiten” aufweise, aber dass nicht zweifelsfrei “Defizite im adaptiven Verhalten” nachzuweisen seien. Warren Hill war 1991 wegen des 1990 begangenen Mordes an seinem Mithäftling Joseph Handspike zum Tode verurteilt worden. Im Jahr 1988 hat das Parlament des Bundesstaates Georgia ein Gesetz verabschiedet, das die Verhängung der Todesstrafe gegen jede Person untersagt, bei der “ohne berechtigten Zweifel” eine “geistigen Behinderung” festgestellt wurde. Das Gesetz definiert diese Behinderung als “deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten”, die zu “Defiziten im adaptiven Verhalten” führen, die sich “in der Entwicklungsphase manifestierten”. / Der Oberste Gerichtshof der USA (US Supreme Court) befand in der Grundsatzentscheidung “Atkins gegen Virginia”, dass die Hinrichtung von geistig behinderten Menschen gegen die US-Verfassung verstoße. Die Rechts¬beistände von Warren Hill baten auf Grundlage dieser Entscheidung um erneute Prüfung ihrer vorherigen Rechtsmit¬tel. Diesmal entschied das zuständige Gericht, dass “das Überwiegen der Beweise” ausreiche um festzustellen, dass Warren Hill an einer geistigen Behinderung leidet. Das strengere Kriterium “ohne berechtigte Zweifel” müsse nicht erfüllt sein. Auf der Grundlage dieser Beurteilung kam das Gericht zu dem Schluss, dass die Beeinträchtigung von Warren Hill einer geistigen Behinderung gleichkäme. Die Behörden von Georgia legten dagegen jedoch Rechtsmittel beim Obersten Gericht des Bundesstaates ein, das 2003 mit vier zu drei Stimmen entschied, in diesem Kontext sei das Kriterium “ohne berechtigten Zweifel” anzulegen. Der Fall wurde dann an die Bundesgerichte verwiesen, und 2011 entschied ein Bundesberufungsgericht (Court of Appeals for the 11th Circuit) mit sieben zu vier Stimmen, dass selbst wenn der Bundesstaat in seiner Gesetzgebung nicht für einen angemessenen Ausgleich gesorgt hat, das US-Bundesgericht aufgrund von US-Recht nicht befugt sei einzu¬schreiten, auch wenn es die Entscheidung des bundesstaatlichen Gerichts “für nicht korrekt oder unüberlegt” erachte. / Im Februar 2013 stoppte das Bundesberufungsgericht des 11. Bezirks die Hinrichtung von Warren Hill. Zu diesem Zeitpunkt waren alle an dem Fall beteiligten ExpertInnen zu dem Schluss gekommen, dass Warren Hill an einer “geistigen Behinderung” leidet. Am 22. April jedoch wies das dreiköpfige Richtergremium das neue Rechtsmittel von Warren Hill mit der Begründung zurück, das Gericht sei den strengen Beschränkungen unterworfen, die das “Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und zur effektiven Durchsetzung der Todesstrafe” (Anti-Terrorism and Effective Death Penalty Act — AEDPA) aus dem Jahr 1996 bei aufeinanderfolgenden Rechtsmitteln anwende. Eine Richterin des Gremiums widersprach dieser Auffassung jedoch und erklärte, “ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz kann nicht angewendet werden, um das in der Verfassung festgeschriebene Recht von Warren Hill, nicht hingerichtet zu werden, außer Kraft zu setzen”. Die Richterin schrieb: “… der Bundesstaat Georgia wird einen geistig behinderten Mann hinrichten. Denn alle sieben ExpertInnen, die Warren Hill jemals untersucht haben, sowohl die vom Bundesstaat bestellten als auch die von Warren Hill beauftragen ExpertInnen, sind inzwischen zu der übereinstimmenden Auffassung gelangt, dass er geistig behindert ist.” / Die Rechtsbeistände von Warren Hill bitten den Obersten Gerichtshof der USA, die Hinrichtung zu stoppen. Der Gerichtshof hatte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes AEDPA 1996 bestätigt und erklärt, das Gesetz habe nicht die Befugnis des Gerichtshofs aufgehoben, sich direkt mit Originalanträgen (original habeas petitions) zu befassen, d.h. unter außergewöhnlichen Umständen kann sich der Gerichtshof mit einem ihm direkt vorgetragenen Fall befassen, ohne dass der Fall nach einem Berufungsverfahren vor einem anderen Gericht an den Gerichtshof weiterverwiesen wurde. Mehrere JuraprofesssorInnen in den USA haben sich in einem Schreiben an den Gerichtshof gewandt und sich dafür ausgesprochen, dass der Gerichtshof sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschließen sollte.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 15. Juli 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action