Aus der Wörtersammlung: gin

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von der freiheit der maria

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vic­tor : 6.28 — Jeden Sams­tag kam Maria ins Café Gazet­te. Wenn Mitt­woch war, konn­te man sie im Heming­ways besu­chen, einem her­un­ter­ge­kom­me­nen Laden in der Nähe des Haupt­bahn­ho­fes. Mon­tags saß sie in der Bar-Celo­na. An Diens­ta­gen und Frei­ta­gen war sie mal da und mal dort, und am Don­ners­tag ging sie ins Kino. Es war immer das­sel­be, die klei­ne Frau, deren Alter nie­mand zu bestim­men wuss­te, kam her­ein, setz­te sich an einen frei­en Tisch, oder war­te­te so lan­ge im Ste­hen, bis ein Tisch frei­ge­wor­den war, um sofort mit ihrer Arbeit zu begin­nen. Sie bedeck­te den Tisch, an dem sie Platz genom­men hat­te, mit wei­ßen Papie­ren in unter­schied­li­chen Grö­ßen, hol­te aus einem Kof­fer­wa­gen, der ihr stän­di­ger Beglei­ter war, kräf­ti­ge Filz­stif­te und begann zu malen. Wer sie ein­mal genau beob­ach­tet hat­te, wird viel­leicht bemerkt haben, dass sie bei Ein­tritt in das Café oder die Bar, mit einem scheu­en Blick alle anwe­sen­den Men­schen wahr­ge­nom­men oder in sich auf­ge­nom­men hat­te, um sie nun zu por­trä­tie­ren, einen Men­schen nach dem ande­ren Men­schen, auch dann, wenn sie den Ort längst ver­las­sen hat­ten. Maria mal­te lang­sam, sie mal­te wie ein Kind, manch­mal biss sie sich auf die Zun­ge. Sie war eine sehr stil­le, eine stum­me Frau, und ihr Gesicht vom Leben ohne Obdach gezeich­net. Sie hat­te einen Buckel, der mit den Jah­ren zu wach­sen schien und sie immer wei­ter gegen den Boden dräng­te. Vie­le Men­schen kann­ten sie. Viel­leicht kann man sagen, dass es sich bei Maria um eine Iko­ne der Stadt han­del­te, sie lach­te nie­mals, aber alle Men­schen auf ihren Bil­dern lach­ten. Alle sahen sie aus wie Maria, ihre Gesich­ter genau genom­men, Augen, Nase, Mund, aber die Haa­re waren ande­re Haa­re, auch die Far­ben der Hem­den, Pull­over, Kra­wat­ten, Blu­sen, waren genau jener Sekun­den­wirk­lich­keit ent­nom­men, da Maria von der Stra­ße her­ein­ge­kom­men war. Ja, sie mal­te lang­sam, und wenn es ein­mal sehr still war, konn­te man die Geräu­sche ihrer Werk­zeu­ge deut­lich hören. Sobald Maria alle Men­schen por­trä­tiert hat­te, erhob sie sich und ging von Tisch zu Tisch, um ihre klei­nen, wert­vol­len Male­rei­en zu ver­kau­fen. Sie ver­lang­te nie mehr als 1 Deut­sche Mark. Im Lau­fe der Jah­re kauf­te ich immer wie­der ein­mal eines ihrer Bil­der, also Maria und mich, mal mit kur­zen, mal mit län­ge­ren Haa­ren. Da war der Som­mer der wei­ßen Hem­den und dort der Som­mer der blau­en Hem­den. Ein­mal, es war Win­ter gewe­sen, tru­gen wir einen Hut. – stop

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amsterdam

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sier­ra : 7.05 — Immer wie­der wun­de­re ich mich dar­über, wie ein Bild, eine Vor­stel­lung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Ein­druck haben wür­de, Arbeit ver­rich­tet zu haben, wei­te­re Bil­der erzeugt, Geschich­ten, Fil­me, Zeit­räu­me von Abwe­sen­heit. Ich erin­ne­re mich, in einem die­ser Räu­me kürz­lich in Ams­ter­dam gewe­sen zu sein, wäh­rend ich zur sel­ben Zeit im Zug durch süd­li­che Land­schaft reis­te. Ich hat­te das Bild eines Läd­chens vor Augen, in wel­chem in einer Pfan­ne mensch­li­che Ohren gerös­tet wur­den. Es roch gut nach gebra­te­nem Fleisch und natür­lich fra­ge ich mich, woher ich die­se Vor­stel­lung genom­men habe. Men­schen stan­den bis auf die Stra­ße hin­aus, war­te­ten gedul­dig, bis sie an der Rei­he waren, eine Por­ti­on der gerös­te­ten Ohren in einer Papier­tü­te ent­ge­gen­zu­neh­men. 100 Gramm kos­te­ten 72 eng­li­sche Pfund, viel­leicht war es des­halb, in Anbe­tracht des Prei­ses, so still im Laden, man hör­te nur ein Zischen, sobald aus einem Schäu­fel­chen eine wei­te­re Por­ti­on Ohren in die Pfan­ne fiel. Aber drau­ßen auf der Stra­ße war Tumult ent­stan­den. Wäh­rend die einen sich über den enor­men Preis der Ohren beschwer­ten, waren ande­re sehr deut­lich gegen den Ver­kauf mensch­li­cher Ohren über­haupt ein­ge­stellt. Das sind gezüch­te­te Orga­ne, sag­ten sie, sie waren nie an einem mensch­li­chen Kopf befes­tigt. Ande­re hin­ge­gen empör­ten sich dar­über, dass es doch ver­rückt sei, für etwas, das nie­mals echt gewe­sen war, eine der­art exzel­len­te Sum­me Gel­des pro Gramm bezah­len zu müs­sen. Die einen wie die ande­ren schie­nen mir recht zu haben. Fens­ter gin­gen zu Bruch, berit­te­ne Poli­zei feg­te über eine Brü­cke. Und wie ich in die­ser Wei­se in einem Zug sit­zend einen Film erleb­te aus dem Nichts, beob­ach­te­te mich ein Freund. Ich bemerk­te ihn nicht. Als ich ihm spä­ter erzähl­te, was ich erlebt hat­te, sag­te er, er habe indes­sen, in der Beob­ach­tung mei­ner Per­son, nicht den gerings­ten Laut gehört. — stop

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drohne 12

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kili­man­dscha­ro : 2.28 — Zwölf­hun­derts­tes Hotel­zim­mer – sei mir gegrüßt! Sei mir gegrüßt, mit mäßig gutem Bett, Spie­gel­schrank, Kom­mo­de, wacke­li­gem Schreib­tisch; mit rosa Nacht­tisch­lam­pe, abge­schab­tem Tep­pich, Was­ser­ka­raf­fe, Brief­pa­pier, Kof­fer­stän­der. Sei gegrüßt, Hei­mat seit einer hal­ben Stun­de, Hei­mat für zwei, drei oder vier­zehn Tage -: Wirst Du mir freund­lich gesinnt sein? Wer­de ich bei Dir aus­ru­hen dür­fen? — Ich lese Klaus Mann. Seit bald sechs Stun­den lese ich in einem Buch, das sei­ne Tex­te ver­sam­melt, eine Aus­wahl. Ich habe das Buch bereits vom ers­ten bis zum letz­ten Satz gele­sen. Nun, indem ich wie­der von vorn begin­nen wer­de, zu einem Zeit­punkt, da ich nicht weiß, wie lan­ge es dau­ern wird, bis ich mich wie­der bewe­gen wer­den kann, habe ich beschlos­sen, das Buch abzu­schrei­ben, weil das Buch abzu­schrei­ben län­ge­re Zeit in Anspruch neh­men wird, als das Buch zu lesen. Ich muss mich näm­lich beschäf­ti­gen, um mei­ne inne­re Ruhe nicht zu ver­lie­ren, weil ich Grund habe, äußerst beun­ru­higt zu sein. Es war gegen 8 Uhr abends, gera­de Däm­me­rung, als ich vor dem Fens­ter im 22. Stock eine Bewe­gung bemerk­te. Ich hat­te gera­de fünf Sei­ten des Buches gele­sen, als ich den Blick auf das Fens­ter rich­te­te. Ich bemerk­te eine Droh­ne, ein klei­nes Flug­ob­jekt, das zu mir her­ein­späh­te. Sie ist immer noch da. Sie filmt mich, wie ich hier auf mei­nem Sofa sit­ze. Ich habe den Ver­dacht, dass sie mög­li­cher­wei­se eine oder zwei Waf­fen auf mich rich­tet, wes­we­gen ich so tue, als wür­de ich sie nicht sehen. Und doch traue ich mich nicht, mich zu erhe­ben, obwohl ich sehr durs­tig bin und hung­rig. Kaum will ich einen Fuß auf den Boden stel­len, kommt die Droh­ne so nah an das Fens­ter mei­nes Zim­mers her­an, dass ich mei­ne, sie wür­de die Schei­be berüh­ren. Ich weiß, dass man mich betrach­tet, ver­dammt, wer auch immer Ihr seid, ich weiß, dass Ihr mich betrach­tet. Ich sage Euch, ich erklä­re hier­mit, ich wer­de Euch kei­nen Gefal­len tun, ich wer­de Euch nicht rei­zen, ich wer­de Euch kei­nen Anlass geben, auf mich zu feu­ern. Ich bin ganz ruhig, ich bin gelas­sen, Klaus Mann ist bei mir, ich lese, ich schrei­be. Es ist kurz nach zwei Uhr. Fan­gen wir noch ein­mal von vorn an: Ich weiß nicht, wohin ich fah­re. Ich fah­re irgend­wo­hin. Ich tra­ge mei­nen Hand­kof­fer, ein paar Bücher, den Regen­man­tel. — stop

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zwergseerosen

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sier­ra : 6.38 — Vor Kur­zem noch habe ich nicht gewusst, dass Lam­pen­me­du­sen bevor­zugt Zwerg­see­ro­sen zu sich neh­men. Eigent­lich müss­te ich sagen, dass Lam­pen­me­du­sen ihrer Auf­ga­be der Lich­ter­zeu­gung nur dann nach­zu­kom­men in der Lage sind, wenn sie eini­ge Gramm einer bestimm­ten Zwerg­see­ro­sen­gat­tung auf­ge­nom­men haben. Die­se Zwerg­see­ro­sen nun sind wun­der­ba­re Wesen, die man mit blo­ßem mensch­li­chem Auge nicht wahr­zu­neh­men ver­mag. Sobald sie aber häu­fig sind, also gehäuft, sagen wir zehn­tau­send Zwerg­see­ro­sen in nächs­ter Nähe zuein­an­der, sehen wir eine röt­li­che Wol­ke, die sich in der Form einer fla­chen Lin­se sehr wohl­zu­füh­len scheint. Unter einem Mikro­skop betrach­tet sind an jeder Zwerg­see­ro­se wun­der­vol­le Blü­ten von roter Far­be zu erken­nen, die sich lang­sam um die eige­ne Ach­se dre­hen, wes­we­gen Zwerg­see­ro­sen durch das Was­ser wan­dern­de Geschöp­fe sind, schwe­ben­de, oder genau­er, tau­chen­de Blu­men. Sie sol­len zart nach Hum­mer­fleisch schme­cken, jedoch nicht genieß­bar sein, weil auch dann, wenn Men­schen sie ver­kos­ten, eben jene Men­schen in der Art der Lam­pen­me­du­sen zu leuch­ten begin­nen, ihre Haut und ihre Haa­re, dann fal­len sie um und hören auf zu atmen. Einer, der das nicht glau­ben woll­te, wur­de ges­tern auf hoher See bestat­tet. Ein selt­sa­mer Anblick, wie man berich­tet, ein blau­es Leuch­ten mit Armen, Bei­nen und einem Kopf, das lang­sam in der Tie­fe ver­schwand. — Es ist schon weit nach Mit­ter­nacht, also Nach­mit­tag gewor­den. Ich spa­zie­re lei­se durch mei­ne Woh­nung, weil ich nie­man­den wecken möch­te. Unter mir schla­fen Men­schen. Das ist immer wie­der eine selt­sa­me Vor­stel­lung, dass sie sehr nah sind, nur durch etwas Holz und Bast und Stein von mir getrennt. Man kann in die­ser Wei­se Jah­re woh­nen, ohne zu wis­sen, wen genau man atmen oder spa­zie­ren hört. Einer der Men­schen unter mir, scheint im Schlaf zu spre­chen. Wenn er zu spre­chen beginnt, höre ich das Geräusch einer Tür, dann hört er auf zu spre­chen. Für eine Wei­le ist es still. Es gibt viel zu erzäh­len im Schlaf. — stop

polaroidblumen

 

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pseudonym No 5

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india : 6.22 — Ich ken­ne einen Mann, der lei­den­schaft­lich ger­ne Wör­ter erfin­det. Es han­delt sich bei die­sen Wör­tern um Wör­ter, die vor ihrer Ent­de­ckung in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich bis­her nicht exis­tier­ten. Und weil er sich nie­mals sicher sein kann, ob das Wort, das gera­de erst erfun­den wor­den ist, in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich noch nicht exis­tiert, ver­bin­det er sei­nen Com­pu­ter mit der Such­ma­schi­ne Goog­le. Wenn das Wort, das erfun­den wur­de, in den Ver­zeich­nis­sen der Such­ma­schi­ne nicht zu ent­de­cken ist, kann er sich sei­ner Sache bei­na­he sicher sein. Das Wort oli­mam­bo­sa, zum Bei­spiel, wur­de in der ver­gan­ge­nen Woche ins Leben geru­fen, ein voll­stän­dig neu­es Wort in der digi­ta­len Sphä­re. Viel­leicht des­halb, weil der Mann im Moment sei­ner Erfin­dung sehr zufrie­den mit sich und ein wenig stolz gewe­sen war, sen­de­te er einen E‑Mailbrief an mich, um mir sei­ne Erfin­dung zu schen­ken. Er schrieb, er wür­de sich ver­wandt mit mir füh­len, da ich ähn­lich vor­ge­hen wür­de wie er selbst. Für die­se Behaup­tung habe er eine beweis­kräf­ti­ge Spur in mei­nen Par­tic­les-Archi­ven ent­deckt. Dort soll ich am 30. Mai des ver­gan­ge­nen Jah­res einen Text ver­öf­fent­licht haben unter dem Titel Pseud­onym No 5. Tat­säch­lich, ich hat­te den Text bei­na­he ver­ges­sen, wur­de Fol­gen­des geschrie­ben: Ges­tern war das Wet­ter schön, ich such­te spa­zie­rend im Park nach einem Namen für mein Pseud­onym No 5. Sobald ich glaub­te, einen geeig­ne­ten Namen gefun­den zu haben, sag­te ich ihn laut vor mich hin, ich sag­te zum Bei­spiel: Felix May­er Kek­ko­la. Als Nach­mit­tag gewor­den war, gefiel mir die­ser Name noch immer, ich hat­te Lil­li M. Mur­phy bereits ver­wor­fen, auch Kas­par Joe Wei­de­mann und wei­te­re Namen waren gründ­lich ver­ges­sen. Ich notier­te den gewähl­ten Namen Felix May­er Kek­ko­la in mein Notiz­buch und ging nach Hau­se. Es ist selt­sam, ich war mit mei­nem neu­en Namen an der Sei­te stark unru­hig bis in den Abend hin­ein. Ich konn­te mir die­se Unru­he zunächst nicht erklä­ren, dann hat­te ich die Idee, dass ich nach­se­hen soll­te, ob der Name Felix May­er Kek­ko­la viel­leicht im Inter­net schon län­ge­re Zeit exis­tiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der die­sen Namen ver­wen­det, um sich zu ver­ber­gen und zu ver­öf­fent­li­chen in ein und dem­sel­ben Moment. Mehr­fach prüf­te ich mit Such­ma­schi­nen die Exis­tenz einer Spur. Kein Ergeb­nis für „Felix May­er Kek­ko­la“ war zu fin­den. Ich könn­te nun also ers­tens anneh­men, dass ein Mensch, der die­sen Namen trägt, nicht exis­tiert, was sicher nur sehr vor­sich­tig for­mu­liert wer­den darf. Zwei­tens könn­te ich jenen fei­nen Namen nun für mich beset­zen, okku­pie­ren sozu­sa­gen nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen, was in die­ser Sekun­de genau so geschieht, indem ich mei­nen Text in die digi­ta­le Sphä­re sen­de. – stop

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sarajevo

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gink­go : 6.38 — Ich habe die­se Geschich­te ges­tern Abend selbst erlebt. Wenn sie mir jemand ande­res als ich selbst erzählt haben wür­de, hät­te ich sie viel­leicht nicht geglaubt, weil sie schon ein wenig ver­rückt ist. Die Geschich­te beginnt damit, dass ich in einem Café sit­ze und auf einen jun­gen Mann war­te, der mir etwas erzäh­len will. Ich bin früh­zei­tig gekom­men, bestel­le einen Cap­puc­ci­no und schal­te mein klei­nes Hand­ki­no an, beob­ach­te eine Doku­men­ta­ti­on der Arbeit Maceo Par­kers in New York, mit­rei­ßen­de Musik, soeben umarmt die Sän­ge­rin Kym Mazel­le den Posau­nis­ten Fred Wes­ley, als der jun­ge Mann, den ich erwar­te­te, plötz­lich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den klei­nen Bild­schirm. Sofort kom­men wir ins Gespräch. Ich fra­ge ihn, wel­che Musik er gehört habe, als Kind in der bela­ger­ten Stadt Sara­je­vo. Jeden­falls nicht sol­che Musik, ant­wor­tet er, und lacht, no Funk, wir hat­ten kei­nen Strom. Avi ist heu­te Anfang drei­ßig, dass er noch lebt ist ein Wun­der. Tat­säch­lich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sara­je­vo erzählt. Ein­mal frag­te ich ihn, was er emp­fun­den habe, als er von Karad­zics Ver­haf­tung hör­te. Anstatt zu ant­wor­ten, perl­te in Sekun­den­schnel­le Schweiß von Avis Stirn. Heu­te schwitzt er schon, ehe er über­haupt zu erzäh­len beginnt, weil er weiß, dass er gleich wie­der berich­ten wird von den Stra­ßen sei­ner Hei­mat­stadt, die nicht mehr pas­sier­bar waren, weil Scharf­schüt­zen sie ins Visier genom­men hat­ten. Man schleu­der­te Papie­re, Ziga­ret­ten, Bro­te, Was­ser­fla­schen in Kör­ben von einer Sei­te der Stra­ße zu ande­ren. Die­se Kör­be wur­den nicht beschos­sen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein klei­ner Jun­ge. Er war so klein, dass er nicht ver­ste­hen konn­te, was mit ihm und um ihn her­um geschah, auch dass ein Holz­split­ter sein lin­kes Auge so schwer ver­letz­te, dass er jetzt ein Glas­au­ge tra­gen muss, das so gut gestal­tet ist, dass man schon genau hin­se­hen muss, um sein künst­li­ches Wesen zu erken­nen. Er sagt, er könn­te, wenn ich möch­te, das Auge für mich her­aus­neh­men. Aber das will ich nicht. Ich erzäh­le ihm, dass ich damals, als er klein gewe­sen war, jeden Abend Bil­der aus Sara­je­vo im Fern­se­hen beob­ach­tet habe. Was das für Bil­der gewe­sen sei­en, will Avi wis­sen. Ich sage: Das waren Bil­der, die ren­nen­de Men­schen zeig­ten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fern­se­hen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und über­all pas­sier­te. Und die­se Geräu­sche. Plötz­lich nimmt der jun­ge Mann mein klei­nes Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopf­hö­rer in sei­ne Ohren ein, hört Maceo Par­ker, Kim Macel­le, Fred Wes­ley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhyth­mus der Musik mit dem Kopf. Ein Wis­pern. — stop

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ein kleines tier von luft

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marim­ba : 3.10 — Es ist rich­tig, ich bin begeis­tert. Seit zwei Tagen schwebt eine merk­wür­di­ge Gestalt durch mei­ne Woh­nung. Es han­delt sich um ein Lun­gen­bal­lon­tier, nichts wei­ter, um eine Krea­tur von küh­ler, sand­far­be­ner Haut in der Grö­ße einer Honig­me­lo­ne. Wenn ich sage, dass es sich bei die­sem Wesen um ein Lun­gen­bal­lon­tier han­delt, dann des­halb, weil das Tier in sei­ner der­zei­ti­gen Erschei­nung vor­wie­gend aus Luft zu bestehen scheint. Es war näm­lich nicht sehr groß gewe­sen, als es mir am Sams­tag von einem Brief­bo­ten in einer fla­chen Schach­tel über­ge­ben wor­den war. Wie es dort lag, sah es zunächst noch aus wie ein Taschen­tuch, sorg­fäl­tig gebü­gelt und gefal­tet. Genau in sei­ner Mit­te war ein win­zi­ger Kopf zu erken­nen, ein Mund und eine Nase und Augen, die geschlos­sen waren, als wür­de das Tier schla­fen. Kaum aber aus sei­nem Rei­se­be­häl­ter geho­ben, hol­te das klei­ne, gefal­te­te Tier Luft und begann lang­sam zu wach­sen. Es war in die­sem Vor­gang des Wach­sens nichts zu hören, als ein äußerst lei­ses Pfei­fen, des­sen Ursprung ich nicht erken­nen konn­te. Eine Stun­de ver­ging und eine wei­te­re Stun­de, bis das Tier sich voll­stän­dig ent­fal­tet hat­te. Es war rund gewor­den, nach wie vor aber noch fal­tig, und es wuchs wei­ter, und es begann sich von dem Tisch zu lösen, auf dem es die ers­ten Stun­den in Frei­heit ver­bracht hat­te. Seit­her bewegt es sich lang­sam wie ein Zep­pe­lin durch mei­ne Zim­mer. Zunächst war es ins Bad geflo­gen, dann in die Küche, durch den Flur zurück ins Wohn­zim­mer, und von dort ins Arbeits­zim­mer, wo es vor dem Fens­ter eine Wei­le ver­harr­te, obwohl drau­ßen tie­fe Nacht herrsch­te. Das Tier hat­te inzwi­schen sei­ne Augen geöff­net, kein Wun­der, es schien auch an mir selbst zuneh­mend inter­es­siert zu sein, wie genau in die­sem Moment, da ich notie­re. Gera­de kommt es wie­der zurück aus der Küche, es nähert sich, es ist nun ohne Fal­ten und es schim­mert, und noch immer pfeift es lei­se vor sich hin. — stop

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radio

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kili­man­dscha­ro : 2.12 — Es ist jetzt kurz nach 2 Uhr. Seit einer hal­ben Stun­de schaue ich aus dem Fens­ter. Angeb­lich soll die Raum­sta­ti­on ISS soeben den Him­mel über mir pas­sie­ren. Ich suche ver­geb­lich. Wol­ken ver­sper­ren die Sicht, auch ist die Stadt viel zu hell, um das For­schungs­schiff erken­nen zu kön­nen. Trotz­dem schaue ich nach oben und freue mich. Vor­hin habe ich noch einen Text notiert, der von einem alten Radio han­delt, das von einem Tisch fällt, weil es Maceo Par­ker spiel­te. Gera­de noch recht­zei­tig, ehe es den Boden erreich­te, wur­de es auf­ge­fan­gen, um kurz dar­auf auf dem Tisch fest­ge­klebt zu wer­den. Das Radio war eines gewe­sen, wie ich es frü­her ein­mal hat­te, ein Radio mit einem elek­tri­schen Auge. Sobald ich auf einen Knopf drück­te, glüh­te das Auge zunächst däm­mernd, dann leuch­te­te das Auge grün wie das Was­ser eines Berg­sees und ich hör­te selt­sa­me Stim­men und Rau­schen und Pfei­fen. Das Radio war ein sehr gutes Radio. Es exis­tier­te seit dem Jah­re 1952, war also viel älter als ich selbst und muss­te nie zur Repa­ra­tur gebracht wer­den. Nur ein­mal hüpf­te eine Tas­te her­aus und das Radio sah fort­an aus, als habe es einen Zahn ver­lo­ren. An einem sehr hei­ßen Juli­tag des Jah­res 1974 saß ich gera­de vor dem Radio ohne Zahn, als gemel­det wur­de, Fall­schirm­jä­ger sei­en über Zypern abge­sprun­gen. Von einem Kon­flikt war die Rede und das Auge des Radi­os leuch­te­te dazu und die Mem­bran sei­nes Laut­spre­chers zit­ter­te. Ich erin­ne­re mich, dass ich dach­te, dass nun Krieg sei, ein wirk­li­cher Krieg, der ers­te Kriegs­be­ginn, den ich als Wel­len­emp­fän­ger mit­er­leb­te. Spä­ter ver­schwand das alte Radio und ich bekam ein neu­es Radio. Die­ses Radio konn­te Geräu­sche spei­chern, und so spei­cher­te ich Geräu­sche, sin­gen­de Frö­sche viel­leicht, oder mei­ne Stim­me, die mich befrem­de­te, die nie mei­ne eige­ne Stim­me gewe­sen war, son­dern immer die Stim­me eines ande­ren, der ähn­li­che Din­ge sag­te. Bald mach­te ich mit einer wei­te­ren Maschi­ne Fil­me, nein, ich zeich­ne­te Fil­me auf ein Band, den Film der Stadt Bag­dad an einem Vor­kriegs­mor­gen zum Bei­spiel. Die Son­ne strahl­te vom Him­mel, und ein Vogel, der nicht zu sehen war, zwit­scher­te. Viel­leicht saß der Vogel auf einer gepan­zer­ten Kame­ra, die das Bild der leuch­ten­den Stadt zu mir hin über­trug. Die­ser Vogel war noch Radio gewe­sen. — stop
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nummer 6

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tan­go : 3.56 — An einem Som­mer­tag gehe ich mit Tom spa­zie­ren. Er ist ein ziem­lich gro­ßer, jun­ger Mann, schlak­sig, der, wäh­rend er von sei­nen Erleb­nis­sen im Prä­pa­rier­saal erzählt, immer wie­der ein­mal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu wer­fen. Da ist näm­lich ein Fluss, Tom woll­te am Fluss spa­zie­ren, ich ahne wes­halb. Er scheint, indem er Stei­ne wirft, genau­er den­ken zu kön­nen. Hin und wie­der läuft er in den Wald, der unse­ren Weg beglei­tet und bleibt für eini­ge Minu­ten ver­schwun­den. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum fol­gen, er will mir des­halb noch eini­ge Gedan­ken notie­ren, damit ich sie aus­dru­cken kann. Weni­ge Tage nach unse­rem Spa­zier­gang kommt tat­säch­lich eine E‑Mail, eine sehr prä­zi­se Form der Beob­ach­tung. Tom: > Ich ver­su­che jetzt näher her­an­zu­ge­hen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Prä­pa­ra­ti­on des Kör­pers begon­nen. Wir haben die Kör­per auf den Tischen inspi­ziert, wir haben ein Lei­chen­pro­to­koll ange­fer­tigt, Haut­schnit­te gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unse­re Arbeits­ti­sche beu­gen. Vier von uns befin­den sich auf der einen, vier auf der ande­ren Sei­te des Tisches. Jedem von uns wur­de eine Posi­ti­on am Prä­pa­rat zuge­ord­net. Ich habe die Num­mer 6. Also arbei­te ich zu die­sem Zeit­punkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katha­ri­na. Von den Lei­chen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spü­ren bekommt. Unse­re Augen sind gerö­tet. Das ist eine Situa­ti­on, an die wir uns zunächst noch zu gewöh­nen haben. Skal­pel­le, Pin­zet­ten, Hän­de sind nur weni­ge Zen­ti­me­ter von­ein­an­der ent­fernt. Wir könn­ten uns ver­let­zen, des­halb hal­ten wir unse­re Werk­zeu­ge, als wür­den wir Blei­stif­te füh­ren. Wir zeich­nen auf sehr engen Bah­nen. Wir begin­nen in der regio praes­ter­na­lis. Dort haben die Haut­schnit­te des Assis­ten­ten Zugang erzeugt, dort kön­nen wir die Haut mit unse­ren Pin­zet­ten auf­neh­men und etwas vom Kör­per heben. Eine ers­te unsi­che­re Bewe­gung. Wir span­nen die Haut. Wir schnei­den von der sub­cu­tis in Rich­tung der gespann­ten Haut, arbei­ten von innen nach außen, arbei­ten von medi­al nach late­ral. Haben wir gespro­chen? Ich kann mich nicht erin­nern. Aber ich sehe, dass ich mei­ne Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spü­re die Erschüt­te­run­gen, die durch die Bewe­gun­gen mei­ner Freun­de in dem Kör­per her­vor­ge­ru­fen wer­den. Wenn ich mich auf­rich­te, um mei­nen Rücken zu ent­span­nen, erken­ne ich die Fort­schrit­te mei­ner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Kör­per gelöst, dass ich es zurück­klap­pen kann. Wor­an habe ich gedacht, in die­ser ers­ten Stun­de der Arbeit? Habe ich dar­an gedacht, dass ich begon­nen habe, einen Leich­nam zu zer­glie­dern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skal­pell zu füh­ren, als wür­de man damit schrei­ben. Ich kann Ihnen ver­si­chern, man geht nicht in die Tie­fe, wenn man Haut prä­pa­riert. Man packt einen Kör­per aus. Eine wah­re Gedulds­pro­be. Zen­ti­me­ter um Zen­ti­me­ter arbei­tet man sich über die Ober­flä­che des Kör­pers vor­an. Erstaun­lich, wie nah wir dem Leich­nam nach zwei Stun­den bereits gekom­men sind. — stop

polaroidwerkstatt

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von den eisbriefen

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kili­man­dscha­ro : 6.28 — Für ein oder zwei Minu­ten war ich wild ent­schlos­sen gewe­sen, ein Grün­der zu wer­den, und zwar ges­tern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Brief­kas­ten gelau­fen, der nicht weit ent­fernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befes­tigt ist. Ein Eich­hörn­chen, natür­lich, beglei­te­te mich. Es war sehr kalt, und plötz­lich habe ich wahr­ge­nom­men, dass ich, wenn es mir mög­lich wäre, gern Brie­fe von Eis ver­schi­cken wür­de, hauch­dün­ne Blät­ter gefro­re­nen Was­sers, die man in küh­len­de Kuverts ste­cken und in alle Welt ver­schi­cken könn­te. Eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung nach­ge­ra­de, wie ein Mensch, dem ich einen Eis­brief gesen­det habe, in der Küche vor sei­nem Eis­schrank sitzt und mei­nen Brief für Sekun­den stu­diert, um ihn dann rasch wie­der in die Käl­te zurück­zu­le­gen, damit er nicht ver­schwin­det in der war­men Luft. Ich soll­te also bald ein­mal jene beson­de­ren Eis­pa­pie­re, ihre Fabri­ken und Läden erfin­den, und Kuverts, und Brief­käs­ten, die wie Kühl­schrän­ke funk­tio­nie­ren. Wo man die Brie­fe sor­tiert, in einem Post­amt, wür­de man in tief­ge­kühl­ten Räu­men arbei­ten, und alle die­se Auto­mo­bi­le, nicht wahr, die ver­eis­te Brief­wa­re über das Land beför­dern. Ein Unter­neh­men die­ser Art, wäre eine wirk­li­che Her­aus­for­de­rung, eine gute und sehr ver­rück­te Sache, so dach­te ich am gest­ri­gen Abend. Kaum war ich wie­der in mei­ne Woh­nung zurück­ge­kehrt, war aus der Grün­der­zeit bereits eine Erfin­der­zeit gewor­den. Und wie ich in die­sem Augen­blick vol­ler Freu­de im pola­ren Zim­mer vor mei­nem Schreib­tisch sit­ze, damp­fen­der Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hör­ba­ren Pfei­fen Zei­chen in schim­mern­de Eis­pa­pier­bö­gen fräst. Ich schrei­be: Mein lie­ber Theo­dor, ich woll­te Dir schon lan­ge ein­mal einen Eis­brief notie­ren. Hier nun, wie ver­spro­chen, ist er end­lich bei Dir ange­kom­men. Ich hof­fe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir auf­ge­schrie­ben habe, dass ich näm­lich den Wunsch habe, bald ein­mal zwei oder drei Tage zu schwei­gen, um den Kopf­stim­men stum­mer Men­schen nach­zu­spü­ren. Ich könn­te mich kurz vor Beginn mei­ner Stil­le ver­ab­schie­den von Freun­den: Bin tele­fo­nisch nicht erreich­bar! Oder einen Notiz­block besor­gen, um Fra­gen für den All­tag zu ver­zeich­nen, sagen wir so: Füh­ren sie in ihrem Sor­ti­ment Hör­ge­rä­te für Engel­we­sen fin­ger­groß? Eine Kärt­chen­samm­lung zu erwar­ten­der Wie­der­ho­lungs­sät­ze wei­ter­hin: Habe vor­über­ge­hend mein Ton­ver­mö­gen ver­lo­ren! – Es ist eine ange­neh­me Nacht, lie­ber Theo­dor. Ich erin­ner­te einen Satz René Chars, den er in sei­ner Gedicht­samm­lung »Lob einer Ver­däch­ti­gen” notier­te. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangs­ar­ten mit dem Leben: ent­we­der man träu­me es oder man erfül­le es. In bei­den Fäl­len sei man rich­tungs­los unter dem Sturz des Tages, und grob behan­delt, Sei­den­herz mit Herz ohne Sturm­glo­cke. Dein Lou­is, ganz herz­lich! — stop

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