ulysses : 6.56 — Die folgende Nachricht ist selbstverständlich Wort für Wort erfunden. Auch Satzzeichen, die in der erfundenen Nachricht enthalten sein werden, sind vermutlich nicht authentisch. Wenn Sie also von erfundenen Nachrichten nichts halten, sollten Sie nicht weiterlesen. Hier beginnt es sofort, bereits der nächste Satz wird erfunden sein, die ganze Geschichte, die sich im geschäftigen Mailand gegenwärtig in der Stazione Centrale ereignet. Zweihundert sehr besondere Zwergbaummäuse sollen auf einem Labortransport befindlich aus dem Besitz der städtischen Universität entkommen sein. Wenn ich das spezielle Vermögen dieser flüchtigen Mäuse beschreiben wollte, müsste ich sie zunächst als funkende Zwergbaummäuse oder schlicht als Funkbaummäuse bezeichnen. Sie funken tatsächlich, sind, präzise formuliert, in der Lage, mittels einer technischen Erweiterung ihres Gehirns, Notrufzentralen von Polizei und Ambulanz anzuwählen. Das machen sie gern, ohne jedoch mit einer der angewählten Stellen je zu kommunizieren. Sie schweigen stattdessen oder piepsen vollständig unhörbar. Vermutlich haben sie von ihren Telefonanrufen persönlich keine Kenntnis, immer dann, wenn sie rechtsherum im Kreise tanzen, senden sie ihren Code, weil sie nicht anders können. Man möchte sie nun gern zum Schweigen bringen, man rückte ihnen mit süßen Giften, die sie nicht zu sich nahmen, und Blasrohren zu Leibe. Umsonst. Jetzt wartet man darauf, dass sie bald alt werden und sterben, vielleicht in einem Monat schon werden sie ausreichend alt geworden sein, niemand weiß das genau zu sagen. Noch immer sind sie schnell, ihr Fell ist seidig, es schimmert rötlich, und ihre Augen sind von einem vornehmen Blau, sie funkeln, manchmal leuchten sie rot. Auf den Köpfen der Zwergbaummäuse wachsen wieder Haare, die noch seidiger sind als die Haare ihres Bauches oder ihres Rückens. Die Stirn krönt eine Ausbuchtung, nicht größer als eine Stecknadel. Wenn man sie so sieht, möchte man sie gern in die Hand nehmen und behutsam schütteln. — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
kollibry
echo : 5.55 — Im vergangenen November verlegte ich eine Nachricht, die mir per E‑Mail zugestellt worden war. Vermutlich hatte ich ihre Existenz bereits nach wenigen Stunden vergessen, sodass ihr Sender vergeblich auf eine Antwort wartete. Heute Nacht habe ich sie glücklicherweise wieder entdeckt. Es war damals etwas Bedeutendes geschehen. L. hatte ein Notebook geschenkt bekommen, das erste Notebook seines Lebens. Es war kein neues, es war ein gebrauchtes Gerät, aber noch in einem guten Zustand, kaum ein Kratzer am silbergrauen Gehäuse, seine Tasten funktionierten tadellos, und die Programme des Betriebssystems waren hervorragend sortiert. Ein ernstes Problem stellte allerdings eine Buchstabenmaschine dar, präzise die Korrekturroutine eines Textverarbeitungsprogramms, welches vom Vorbesitzer des Notebooks jahrelang intensiv verwendet worden sein musste. Das kleine Zusatzprogramm konnte nicht ausgeschalt werden, was angenehm gewesen wäre. Zahlreiche fehlerhafte Wörter waren in seine tiefen Speicher gewandert, und so webte das Programm, während L. mit seiner Hilfe notierte, Vorschläge in gerade eben entstehende Texte, beispielsweise anstatt des Wortes Kolibri das Wort Kollibry, was schließlich zu äußerst erstaunlichen Befunden führte. L. glaubte bald, sehr ernsthaft krank geworden zu sein. Er bat mich um Unterstützung, er wolle den Speicher der Wortmissbildungen unverzüglich ausradieren. – Es ist kurz vor drei Uhr. Vermutlich komme ich mit meinen Hinweisen viel zu spät, das ist denkbar, sogar wahrscheinlich, dass ich viel zu spät sein werde. Machen wir uns trotzdem sofort auf die Suche nach einer Lösung. Gewitterstimmung vor den Fenstern, Fliegen, Blitze, aber kein Donner, vielleicht eine Art Wetterleuchten, grandiose, aus dem Himmel stürzende Bäume von Licht. – stop
frau blum
delta : 5.08 — In der Bibliothek entdeckte ich vor einiger Zeit einen Zettel. Der Zettel steckte in einem Buch, das ich entliehen hatte, um nach einer Geschichte zu suchen, die ich vielleicht schon einmal gelesen haben könnte vor vielen Jahren. Es war eine Geschichte, die von einem Gespräch erzählt, welches Frau Blum mit ihrem Milchmann führte, in dem sie dem Milchmann Botschaften sendete, ein Verhalten, das notwendig gewesen war, weil Frau Blum üblicherweise schlief, wenn der Milchmann frühmorgens das Haus besuchte, in dem sie wohnte. Diese Geschichte, ein wunderbares Stück, hat Peter Bichsel geschrieben, eine ganze Welt scheint in ihr enthalten zu sein, obwohl sie so kurz ist, drei Seiten, dass man sie von einer Station zur nächsten Station in einer Straßenbahn reisend Wort für Wort zu Ende lesen könnte. Ich erinnere mich, das Buch lag weich in meiner Hand, es war etwas schmutzig, zerlesen, auf seiner Rückseite waren einige dutzend Stempelaufträge zu finden, so wie man das früher noch machte, Bücher mit Rückgabeterminen zu versehen, so dass jeder sehen konnte, wie oft das Buch bereits gelesen worden war. Dieses Buch, von dem ich gerade erzähle, war seit über zwanzig Jahren nicht mehr ausgeliehen worden. Ich stellte mir vor, dass das Bändchen vielleicht hinter eine der Bücherreihen gerutscht sein könnte, weswegen es lange Zeit nicht gefunden werden konnte. Vermutlich war das Buch längst verloren gemeldet, so dass ich ein Buchexemplar in Händen hielt, das in den Verzeichnissen der Bibliothek nicht länger existierte. Anderseits scheint es möglich zu sein, dass das Buch versteckt worden sein könnte. Vielleicht war es von genau jener Person versteckt worden, die den Zettel in das Buch gelegt hatte, eine Person, die möglicherweise bereits gestorben ist. Das alles ist natürlich reine Spekulation, allein die Existenz des Zettels ist sicher. Dort war in blauer, akkurater Schrift zu lesen: Wie man einen Vermerk schreibt, um sich an gelesene Geschichten erinnern zu können. – stop
gallipoli : melissano : ugento
marimba : 2.10 — Linosa erzählte mir eine Geschichte, von der ich nicht sagen kann, ob sie sich tatsächlich so ereignete wie behauptet, oder ob die Geschichte rein erfunden sein könnte. Seit einigen Monaten erhalte er nämlich täglich einen Luftpostbrief aus Italien. In dem Brief sei jeweils ein beidseitig bedrucktes Blatt Papier enthalten, Text in englischer Sprache, nummeriert, feine, präzise formulierte Sätze. Er habe, so berichtete Linosa, einige dieser Sätze in die Maske einer Suchmaschine eingegeben, weshalb ihm nun bekannt sei, dass es sich wohl um ein zerlegtes Buch handeln könnte, das man ihm schicken würde, um Herman Melvilles Erzählung Bartleby. Das sei für sich genommen schon eine seltsame Angelegenheit, noch merkwürdiger komme ihm aber vor, dass dem Schreiben bisher keine Erklärung, Begründung oder auch nur ein Gruß beigefügt worden sei. Manchmal könne er mithilfe des postalischen Stempels entziffern, in welcher Stadt der Brief Tage zuvor aufgegeben wurde. Städte mit wundervollen Namen, Gallipoli, Melissano, Ugento, Lecce, Brindisi, seien darunter. Während er sich in den ersten Tagen noch gewundert, ja sogar ein wenig gefürchtet habe, würde er sich inzwischen darüber freuen, nachmittags aus dem 12. Stock seines Mietshauses zum Briefkasten hin abzusteigen, um den Brief entnehmen, öffnen und wieder im Aufstieg befindlich lesen zu können. 34 Briefe habe er bislang erhalten, 16 weitere Briefe sollten noch folgen, sofern der unbekannte Absender in logischer Weise fortsetzen würde. Der letzte Brief, der gestern aus Fasano kommend, bei Mr. Linosa eingetroffen war, soll eine besondere Briefmarke auf seiner Anschriftenseite getragen haben, acht Rentiere, die in einen verschneiten Himmel fliegen. Diese Briefmarke leuchte nachts in der Küche im Dunkeln, wo sie nun auf dem Stapel zuvor eingetroffener Briefe so lange sichtbar ruhen werden, bis wieder Nachmittag geworden sein wird. — stop
ai : TASCHIKISTAN
MENSCH IN GEFAHR: „Der tadschikische Staatsbürger Alexander Sodiqov, der derzeit in Kanada lebt, ist am 16. Juni im Osten Tadschikistans bei einem Forschungsaufenthalt festgenommen worden. Es besteht Sorge um seine Sicherheit und Grund zu der Befürchtung, dass er gefoltert oder anderweitig misshandelt wird. Alexander Sodiqov wurde am 16. Juni in Chorugh, der Hauptstadt der Autonomen Provinz Berg-Badachschan im Osten des Landes, von zwei Angehörigen des Staatskomitees für Nationale Sicherheit festgenommen. Alexander Sodiqov lebt derzeit in Kanada. Am 16. Juni um 9.30 Uhr Ortszeit konnte er seine Frau anrufen, sagte ihr jedoch nicht, wo er festgehalten wird. Seither fehlt von ihm jede Spur. Amnesty International geht davon aus, dass er bisher keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand hat. / Alexander Sodiqov ist Doktorand an der Universität Toronto. Er recherchierte in Tadschikistan für das Projekt Rising Powers and Conflict Management in Central Asia (Aufstrebende Mächte und Konfliktmanagement in Zentralasien) des Britischen Wirtschafts- und Sozialforschungsrats, an dem die Universität Newcastle und die Universität Exeter beteiligt sind. Seine Festnahme erfolgte, als er gerade ein Interview mit dem zivilgesellschaftlichen Aktivisten und stellvertretenden Leiter des regionalen Arms der Sozialdemokratischen Partei Tadschikistans, Alim Sherzamonov, führte. / Am 17. Juni durchsuchten Polizeibeamt_innen das Haus von Alexander Sodiqovs Mutter in der Hauptstadt Duschanbe und nahmen diverse Computer und Datenspeichergeräte mit. Am 17. Juni gab das Staatskomitee für Nationale Sicherheit eine Stellungnahme ab, in der Alexander Sodiqov Spionagetätigkeiten für ausländische Regierungen vorgeworfen werden. Laut Berichten der Nachrichtenagentur Asia Plus und von Radio Free Europe/Radio Liberty erschien Alexander Sodiqov am Abend des 18. Juni und am Morgen des 19. Juni im Lokalfernsehen in Badachschan und sprach über die Situation in der Autonomen Provinz. Radio Free Europe berichtete, dass manche Beobachter der Ansicht waren, das Filmmaterial sei editiert worden. Am 19. Juni sagte der Leiter des Staatskomitees für Nationale Sicherheit, Saimumin Yatimov, dass ausländische Spione unter dem Deckmantel von NGOs in Tadschikistan operierten und versuchten, die Sicherheit im Land zu untergraben. / Alexander Sodiqov wird nun schon seit 72 Stunden festgehalten und muss daher gemäß den tadschikischen Gesetzen entweder angeklagt oder freigelassen werden.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 31. Juli 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
valletta : west street
nordpol : 2.54 — Gestern Abend erreichte mich eine E‑Mail von Georges. Er schreibt: Mein lieber Louis, wie ich durch die Stadt Valletta schlenderte, bemerkte ich in der West Street nahe St. Lucia eine kleine Werkstatt. Sie war düster, aber gerade noch hell genug, dass ich ein Mädchen erkennen konnte, das an einem Tisch saß, sie schien Hausaufgaben zu machen. Ich richtete meine Kamera auf das Mädchen, um es zu fotografieren, da hob sie den Kopf und sah mich an, mit einem freundlichen Blick. Ich fragte, ob ich eintreten dürfe. Es war ein wirklich düsterer Ort, das Licht der Straße erreichte gerade noch den Tisch, auf dem das Schulheft des Mädchens lag, und es war kühl, und es ging ein leichter Wind. In der Tiefe des Raumes erkannte ich einen weiteren Tisch, der von einer Glühbirne beleuchtet wurde, die ohne Schirm von der Decke baumelte. Hinter dem Tisch hockte ein dunkelhäutiger, alter Mann mit weißem Haar. Ich grüßte auch in seine Richtung. Als ich mich gerade herumdrehen wollte, um auf die Straße zurückzukehren, schaltete der Mann einen gläsernen Leuchtglobus an. Ein schönes blaues und gelbes Licht von Meeren und Wüsten strahlte in den Raum, vor dessen Wänden Regale bis zur Decke ragten. Dort warteten weitere Erdkugeln, es waren einige Hundert bestimmt. Ich bemerkte, dass der Mann auf dem Tisch Gläschen mit Farbe zu einer Reihe abgestellt hatte, er selbst hielt einen feinen Pinsel und ein Messer mit einer winzigen Klinge in der Hand. Außerdem ruhte der Globus vor dem Mann auf dem Kopf, vielleicht deshalb, weil er einmal aus seiner Fassung genommen und augenscheinlich herumgedreht worden war, der Südpol befand sich im Norden, der Nordpol im Süden der leuchtenden Kugel, an welcher der Mann mit seinen Werkzeugen arbeitete. Es war eine Arbeit für ruhige Hände. In dem Moment, als ich näher gekommen war, nahmen sie gerade die Entfernung des Schriftzuges Cape Town vor, der selbst auf dem Kopf stehend in das Blau des Meeres jenseits des afrikanischen Kontinentes reichte. Aus nächster Nähe nun beobachtete ich, wie der alte Mann die Spuren, die die Radierung des Schriftzuges erzeugt hatte, mit blauer Farbe füllte. Immer wieder prüfte er indessen den Ton der Pigmente, in dem er eine Lupe in sein linkes Auge klemmte. Er schien weitgehende Erfahrung in dieser Arbeit gesammelt zu haben, seine Hände bewegten sich schnell, es roch nach Terpentin, und der Mann hauchte gegen das Meer, wohl um seine Trocknung zu beschleunigen. Dann begann er zu schreiben, er schrieb Cape Town, er schrieb die Wörter so, dass sie richtig herum vor unseren Augen erschienen. Ich erinnere mich an ein Motorrad, das auf der Straße vorbei knatterte. Das Mädchen hatte seine Schulhefte geschlossen und war ins Licht der Sonne getreten. Plötzlich war es verwunden. — stop
ai : FRANKREICH
MENSCHEN IN GEFAHR: „Mehr als 200 Roma, darunter 50 Kindern, droht die rechtswidrige Zwangsräumung. Gegen die Bewohner_innen einer informellen Siedlung nahe der französischen Gemeinde Bobigny wurde ein Räumungsverfahren eingeleitet. Das Urteil eines Gerichts in Bobigny wird für den 30. Mai erwartet. / Die Bewohner_innen der Siedlung nahe Bobigny, nordöstlich der Hauptstadt Paris, wurden offiziell am 23. Mai durch einen Gerichtsdiener über das laufende Räumungsverfahren informiert. Wenige Tage zuvor kamen Behördenvertreter_innen in die Siedlung und teilten den Roma mit, dass ihre Wohnstätten am 2. Juni geräumt würden. Allerdings erklärten sie den Bewohner_innen nicht, wie genau dies geschehen würde, was bei den Roma Besorgnis und Furcht hervorrief. Amnesty International geht davon aus, dass die Siedlungsbewohner_innen nicht konsultiert wurden und den Familien keine alternativen Unterkunftsmöglichkeiten angeboten worden sind. Die Roma befinden sich nun in einer prekären Situation ohne Perspektive und sind in Gefahr, obdachlos zu werden. / Die Kinder der Siedlung sind an ihren Schulen gut integriert und werden von ihren Mitschüler_innen und Lehrer_innen unterstützt. Die französische interministerielle Vertretung für Wohnen (Délégation interministériel pour l’hébergement et l’accès au logement — DIHAL) hat die Bildung, die Roma-Kinder in Bobigny derzeit erhalten, als Beispiel für “gute Praxis” gelobt. Wenn diese Familien vertrieben werden, wird dies die Schulbildung der Kinder beeinträchtigen, wie bereits in anderen Fällen rechtswidriger Zwangsräumungen geschehen, die von Amnesty International dokumentiert wurden. Viele Jugendliche der Siedlung engagieren sich ehrenamtlich im Rahmen eines Projekts zur sozialen Inklusion, das von Rom Civic ins Leben gerufen wurde, eine Initiative, die von verschiedenen Ministerien, die für junge Menschen, Wohnungsbau und soziale Inklusion zuständig sind, begrüßt wird. Viele der erwachsenen Siedlungsbewohner_innen leben seit über zehn Jahren in Frankreich, sprechen Französisch und haben entweder eine Arbeitsstelle oder sind aktiv arbeitssuchend. / Sollte diese rechtswidrige Zwangsräumung tatsächlich stattfinden, so würde sie gegen internationale Standards verstoßen, die rechtswidrige Zwangsräumungen untersagen und festlegen, dass Räumungen nur dann rechtmäßig sind, wenn die im Völkerrecht vorgegebenen Bestimmungen über entsprechende Schutzmaßnahmen eingehalten werden. Hierzu gehört auch die Vorgabe, den Betroffenen angemessene Alternativunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Eine rechtswidrige Zwangsräumung der Siedlung würde alle Fortschritte, die von den Familien bei der Integration in die lokale Gemeinde bereits erzielt wurden, wieder zunichtemachen.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 2. Juni 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
winterschachtel
echo : 5.12 — Am Flughafen nachts ein alter Mann zwischen zwei Koffern auf einer Bank. Es war kurz nach drei Uhr. Der Mann schien nicht müde zu sein. Er trug eine Brille, die er immer wieder einmal putzte, während er mit sich selbst oder mit einem Tabletcomputer sprach, den er mit beiden Händen so weit wie möglich von seinen Augen entfernte. Er streckte deshalb beide Arme von sich und drückte außerdem seine Schultern nach vorn, diese Haltung wirkte sehr schmerzhaft, und doch schien er nicht entziffern zu können, was er zu lesen wünschte. Plötzlich bemerkte er, dass ich ihn beobachtete. Er gab mir ein Zeichen, ich sollte zu ihm kommen. Er deutete mit einem Finger auf einen dreizeiligen Text, der tatsächlich mittels sehr kleiner Zeichen gesetzt worden war. Es handelte sich um die Anweisung, ein Captcha auszufüllen. Ich las dem alten Mann vor, was präzise notiert war: Bitte vergewissern Sie sich, dass sie ein Mensch sind. Geben Sie folgendes Wort ein, um fortzusetzen / Winterschachtel. — Gut, gut, sagte der alte Mann, gut, gut. Er legte den Computer auf seine Oberschenkel und tippte sehr sorgfältig, nein vorsichtig, das entsprechende Wort in die vorgegebene Maske. Mit jedem Buchstaben wurde er langsamer. — stop
time
sierra : 0.52 — Vor wenigen Tagen habe ich eine kleine digitale Maschine gekauft. Diese Maschine vermag die Zeit zu messen, welche ich in der einen oder anderen Aufgabe befindlich verbringe. Sie summiert sozusagen Sekunden, Minuten, Stunden heimlich für mich, damit ich, sobald Abend geworden ist, nachsehen kann, wo ich mich überall während des Tages arbeitend aufgehalten habe. Nun ist etwas Seltsames zu bemerken, dass ich nämlich Aufgaben erfinde, indem ich vertraute Aufgaben in kleinere Aufgabensegmente zerlege, sodass sie wie neue Aufgaben vor meinen Augen oder den Augen der Maschine erscheinen. Die Aufgabe der Korrespondenz beispielsweise, lässt sich in E‑Mail‑, Papierbrief- und telefonische Korrespondenz zergliedern. Ganz neu ist außerdem, dass ich der Maschine Anweisung erteilte, Lesezeiten zu notieren, wie lange Zeit ich in den Erzählungen John Updikes verbrachte. Oder der Vorgang nächtlicher Fledermausbeobachtung. Auch die Betrachtung der Maschine selbst wird von der Maschine wahrgenommen und aufgezeichnet. — Schluss jetzt. Es ist Freitag. Beinahe Schneefall. Guten Morgen. — stop
lichtschirmkoffer
remington : 6.56 — Beobachtete wieder einmal meinen Fernsehbildschirm, der so flach ist, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von einem beginnenden Krieg, von Brandbomben, prügelnden Menschen, maskierten Soldaten erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnere mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich nicht mehr sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Ich höre Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Nachtvögel oder Fledermäuse fliegen vorüber. — stop