sierra : 20.14 — Mein lieber Freund, als ich Deinen nächtlichen Brief las von den Geräuschen im Haus, in dem Du wohnst, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor zwei Jahren notierte. Ich stelle mir vor, diese Geschichte könnte Dich interessieren. Wenn Du Fragen haben solltest, wie man als Nachtmensch unter Tagmenschen sinnvoll existieren kann, melde Dich bitte unverzüglich. Dein Louis. ps. > Hier meine Geschichte: Das Museum der Nachthäuser befindet sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor gehört hatte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit, da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man aller freundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
Aus der Wörtersammlung: jung
lichtbild : damaskus
foxtrott : 0.15 — Eine hochauflösende Fotografie zeigt eine Straße der Stadt Damaskus bei Tageslicht. Diese Straße ist nicht irgendeine Straße, sondern eine Straße, die sich in einem von syrischen Regierungstruppen belagerten Stadtteil befinden soll. Davon habe ich Kenntnis, ich hatte einen kurzen Bericht gelesen, der sich mit jener fotografierten Straße befasste. Die Häuser der Straße sind zerstört, nicht ganz zum Boden hin gezwungen, aber sie sind Ruinen, sind unbewohnbar geworden. Man erzählt, die Straße, ein ganzer Stadtteil und die in ihm lebenden Menschen seien vollständig von der Versorgung abgeschnitten, kein Trinkwasser, keine Nahrung. Hunderte Menschen sollen bereits verhungert sein. Die Aufnahme nun lichtet tausende im Inferno lebende Menschen ab, Menschen, die Bomben, Scharfschützen, Giftgas und Auszehrung überlebten, sie haben sich in der Schlucht zerstörter Häuser vor der Kamera eingefunden. Viele stehen gebeugt, als würden sie beten. Andere fließen auf den Trümmern der Häuserwände aufwärts. Ein Bild wie aus einem Traum, der ein Albtraum sein muss. Ich kann die Menschen genauer betrachten, indem ich die Aufnahme auf meinem Bildschirm vergrößere. Aus einer Menge treten einzelne Menschen hervor, ein Mann mit lichtem Bart und Brille, eine junge Frau, die ein grünes Kopftuch trägt. In dem Moment der Aufnahme legt sie ihre Hände vor den Mund. Viele der Menschen scheinen wie die junge Frau in das Objektiv der Kamera zu blicken. Für einen Augenblick meine ich, dass sie aus ihren Kellern gekommen sein könnten, trotz der Gefahr von Tonnenbomben umgebracht zu werden, um auf diese Aufnahme zu kommen, um nicht ganz zu verschwinden, ja, das ist denkbar. Aber vermutlich ist die Wirklichkeit dieser Aufnahme eine andere, vermutlich werde ich nie erfahren, warum diese Menschen zusammengekommen sind, so viele Menschen, und wer überlebte und wer nicht überlebte. — Kinder. Keine Kinder. — stop
isaak b. singer
nordpol : 2.55 — Ich stellte mir soeben einen jungen Mann vor, der an einer längeren Novelle schreibt. Diese Novelle erzählt von Kiemenmenschen, welche in Wasserwohnungen der Stadt Valletta existieren sollen. Merkwürdig ist vielleicht, dass der junge Mann einen Erzählband Isaac B. Singers auf seinen Arbeitstisch legte, dem er nun Wörter entnimmt, die er in seiner Novelle verwenden will. Ich spreche mit dem jungen Mann, erfahre, dass er für seine Geschichte ausschließlich Wörter verwenden dürfe, die im Buch Isaac B. Singers enthalten sind. Es handelt sich um eine Übersetzung der Collected Stories aus dem Jahr 1983. In dem Buch sind kaum noch freie Wörter zu finden. Wörter, die bereits verwendet wurden, sind mit Bleistift markiert. Der junge Mann blättert wie wild geworden in seinem Buch herum, er sucht nach den Wörtern Lungenschleuse und Seeanemonenbaum, er sucht vielleicht vergeblich, weil diese Wörter in dem Roman Isaac B. Singers bisher von niemandem entdeckt werden konnten. Zu diesem Zeitpunkt, inmitten der Nacht, ist denkbar, dass der junge Mann noch Jahre so sitzen wird und suchen, ohne seine Geschichte je fortsetzen oder zu Ende schreiben zu können. — stop
Viktoria og Marit Ansethmoen
sierra : 6.50 — Ich beobachtete einen älteren Mann, der auf einer Fahrt von Manhattan nach Staten Island Schriftzeichen in die hölzerne Sitzbank einer Fähre gravierte. Ein kalter Wintertag, der Mann war sportlich gekleidet, rote Windjacke, Lapplandmütze, Wanderschuhe, dazu Fäustlinge, die seine kräftigen Hände schützten. Er war überhaupt von mächtiger Statur gewesen. Ich hatte die Vorstellung, dass es sich um einen Norweger oder Finnen gehandelt haben könnte. Als der Mann das Schiff betrat, folgte ich ihm, setzte mich in seiner Nähe nieder. Leichter Seegang, die Scheiben des unteren Decks waren von der Salzgischt geblendet, draußen bedeckte eine Eiskruste die Promenade der Fähre. Während der Überfahrt, da ich den alten Mann beobachtete, spielten ein paar schwarzhäutige Jungs wunderbar scheppernden Blues auf Metallgitarren. Eine Handvoll Schulkinder tollten herum. Das Horn des Schiffes grüßte in die Luft der Upper New York Bay wie immer. Da begann der alte Mann vor meinen Augen mit einem Klappmesser seine Arbeit. Er verfügte über eine schöne Schrift. Während er arbeitete, schien er keinen Blick für seine Umgebung zu haben, er machte das so wie einer, der meint, er sei nicht sichtbar, solange er fest an seine Unsichtbarkeit glaubt. Eine gute Viertelstunde schnitzte er vor sich hin. Dann packte er sein Messer in seinen Rucksack und verließ das Schiff mit allen anderen Passagieren. Kaum waren wir an Land, stellte ich mich in die Warteschlange Richtung Manhattan, um sofort wieder zurück auf dasselbe Schiff zu gelangen, mit dem ich zur Insel hin gefahren war. Nur wenige Minuten später nahm ich genau an der Stelle Platz, an der der Mann gearbeitet hatte. Auf dem Boden des Schiffes lag ein Häufchen dunkler Späne, in den Sitz eingraviert ein Name: Viktoria og Marit Ansethmoen. Dem Namen folgte eine Ziffer: No 7563. Diese Ziffer, und den dazugehörigen Namen, entdeckte ich gestern in einem Notizbuch wieder, das ich damals geführt hatte während winterlicher Fahrten auf Staten Island Fähren. Noch immer weiß ich nicht, was diese Zahl bedeuten könnte, und warum der alte Mann den Namen einer Frau in die Sitzbank des Schiffes eingetragen hatte. Heute Nacht die Vorstellung, ich könnte meinen Text in die norwegische Sprache übersetzen lassen, um ihn der digitalen Sphäre zu übergeben: Alter Manhattanmann, melden Sie sich bitte. Code: Viktoria og Marit Ansethmoen / No 7563 — stop
PRÄPARIERSAAL : tonspule
sierra : 2.36 — Tonspule 68. Michael erzählt: > Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefäße betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Derzeit will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jederzeit rechnen. — stop
marlen
~ : oe som
to : louis
subject : MARLEN
date : nov 03 13 8.15 p.m.
Zum ersten Mal in diesem Herbst ist Schnee gefallen. Helles Licht am Nachmittag, aber die Sonne war nicht zu sehen gewesen. Wolken, feines Gewebe, berührten das Wasser, als sie sich lösten, begann es zu schneien. – Vergangene Woche ist Marlen an Bord gekommen. Sie wird sich Noe kommende Woche in einem schweren Taucheranzug nähern. Wir haben darüber gesprochen, ob sie nicht einige Tage in der Tiefe bleiben sollte, ein Gespräch führen Auge in Auge. Sie scheint sich zu fürchten vor der Enge, die sie erwartet, eine fröhliche, junge Frau. Sie verbringt viele Stunden Zeit damit, das Wasser zu beobachten, das fast ohne Bewegung zu sein scheint. Aber es ist eine starke Strömung aufgekommen, wir haben zwei Motoren angeworfen, um unsere Position halten zu können, das Schiff bebt. Noe berichtet, dass er uns in der Tiefe hören könne. Noch weiß er nicht, dass er bald Besuch bekommen wird. Er liest in diesen Tagen Walter Benjamins Geschichten einer Berliner Kindheit, sehr langsam. Dann wieder, nach Pause, Noe’s Selbstgespräch: Lange Zeiten ohne einen Gedanken ohne einen Wunsch ohne eine Erinnerung. Der Blick ins Wasser. Zarte Finger von Licht. Höre das Geräusch der Luft. Wünschte, ich hätte eine Uhr. — Ahoi, lieber Louis, DEIN OE SOM – stop
gesendet am
3.11.2013
1311 zeichen
esmeralda
tango : 22.08 — Vor zwei Tagen, später Nachmittag, überreichte mir ein schwer atmender Bote ein Päckchen, auf dessen Anschriftenseite mit wuchtigen Druckbuchstaben eine Anweisung notiert worden war: Do not shake! Der junge Mann, vielleicht um mich zu warnen, deutete auf die Schachtel in seiner Hand und sagte: Ich rieche, dass in diesem Päckchen etwas lebt! Und schon war er wieder auf der Treppe verschwunden. Tatsächlich handelte es sich bei dem Päckchen um einen Lebendtransport, der in der italienischen Hafenstadt Talamone aufgegeben worden war. Eine Schnecke hockte in einer perforierten Schachtel geduckt unter welken Blättern. Als ich das kleine Tier vorsichtig auf einen Teller setzte, machte es zunächst einen sehr müden, erschöpften Eindruck. Sein Haus schien bald vom Körper zu rutschen, auch wurde keinerlei Fluchtversuch unternommen, stattdessen saß die Schnecke nahezu ohne Bewegung und schaute mich an. Selbst, als ich mich mit einem Finger näherte, zog sie sich nicht in ihr Kalkgewinde zurück. Eine halbe Stunde lang betrachteten wir uns geduldig. Dann war später Abend geworden, ich hatte mehrfach telefoniert, der Schnecke ein Apfelstückchen angeboten, das Packpapier, in welches die Sendung eingeschlagen gewesen war, auf der Suche nach einer Botschaft oder einem Absender, eingehend untersucht, und war dann kurz spazieren gegangen. Indessen hatte sich die Schnecke in Richtung der Südwand meiner Küche in Bewegung gesetzt, war von dort aus, eine schimmernde Spur hinterlassend, weiter zur Diele hin gewandert, erreichte dort den Boden, um eine halbe Stunde später mein Arbeitszimmer zu betreten. Derart leise war die Schnecke weitergezogen, dass ich sie beinahe vergessen hätte. Dann war Samstag, der Samstag verging, zwei weitere Stückchen Apfel, und es wurde Sonntag und wieder Abend und es begann zu regnen. In diesem Moment sitzt die Schnecke einen halben Meter hoch über dem Fußboden an der Wand meines Wohnzimmers. Sie scheint zu schlafen. Wiederum ist sie nicht in ihrem Häuschen verschwunden, was höchst merkwürdig ist. — stop
moskau
MELDUNG. Zu Moskau im Lenkom Theatre, ул. Малая Дмитровка, 6, werden am kommenden Montag, 21. Oktober 2013, zwei junge Lisztäffchen, Balduin ( 260 Gramm ) sowie Helene (188 Gramm ), öffentlich zur Sprengung gebracht. Zündung des männlichen Tieres um 22 Uhr, Zündung des weiblichen Tieres um 22:30 Uhr. Eintritt frei. – stop
im gebirge
echo : 22.02 — Vor längerer Zeit begegnete mir ein alter Mann im Gebirge. Ich erinnere mich deshalb gut an ihn, weil er rasant aufwärts gestiegen war. Er musste über achtzig Jahre alt gewesen sein, ich war damals Mitte dreißig, konnte ihm aber nicht folgen. Er trug ein kariertes Hemd, dessen Muster durch dichten Nebel leuchtete, der sich langsam über den Rücken des Berges bewegte. Ameisen überquerten die steinigen, sehr steilen Pfade. Sie waren so leise wie die Wolken um uns her. Auch der alte Mann bewegte sich fast geräuschlos. Manchmal hörte ich einen Stein, der abwärts rollte und das Pfeifen der Dohlen von weit oben. Nach einer Weile war der alte Mann verschwunden, zwei oder drei Stunden später tauchte er in der Nähe des Gipfels wieder auf. Er saß auf einem Stein unweit des Weges. In seiner Nähe, in Sichtweite, war an einem Felsen ein Bildstock befestigt. Das Marterl beherbergte die Schwarz-Weiß-Fotografie eines jungen Mannes. Ich grüßte den alten Mann und stieg weiter zum Gipfel auf. Nach einer halben Stunde machte ich mich auf den Rückweg. An der Stelle, an welcher der alte Mann gerastet hatte, rauften sich ein paar Dohlen um etwas Brot. Noch heute meine ich, ihre schrillen Rufe hören zu können. — stop
fenster zum fluss
sierra : 17.08 — Ein Freund, der sich seit längerer Zeit in Manhattan aufhält, erzählt via E‑Mail eine heitere Geschichte, die er selbst erlebt haben will. Vor einigen Tagen habe er demzufolge eine Bekannte besucht, die ein Apartment in einem modernen Mietshaus der Upper East Side bewohnt. Es handele sich um eine geräumige Wohnung in der 28. Etage mit faszinierender Aussicht auf den East River. Eine Leidenschaft der Wohnungsbesitzerin, eine Passion geradezu, sei die Beobachtung der Schiffe geworden, die den Fluss tief unten befahren. Der Anblick der Kähne und Ozeandampfer beruhige sie, schon von Weitem könne sie erkennen, wenn sich ein größeres Schiff vom Atlantik her nähere. Nicht zu vergessen natürlich, jene zierlichen, weißen und gelben Ameisenschiffe, Wassertaxis bei Tag und Nacht, und das beständige Blinken der Spierentonnen, Pulse, welche sie durch ihr Fernglas wahrnehmen könne. Als nun mein Freund seinen Besuch telefonisch ankündigte, wurde er gewarnt, der Aufzug des Hauses sei seit zwei Wochen defekt, weshalb viele der älteren Bewohner das Haus seit Tagen entweder gar nicht oder für längere Zeit ganz verlassen haben, er müsse zu Fuß emporsteigen und eine halbe Stunde Zeit für seinen Aufstieg berechnen, er solle sich etwas Proviant mitnehmen. Mein Freund machte sich wenige Stunden später auf den Weg nach oben. Weil er nicht trainiert war, ging er langsam, zunächst zählte er noch seine Schritte, aber bereits in der 6. Etage musste er sich setzen und seinen Atem beruhigen. Einige Boten, junge Männer mit Rucksäcken auf dem Rücken, kamen vorüber. Kurz darauf passierte ihn eine ältere Dame, schlafend oder bewusstlos, auf einer Trage liegend abwärts. Höhe der 18. Etage stand die Tür einer Wohnung offen. Treten Sie ein, war auf einem Zettel zu lesen. Im Wohnzimmer saß eine weitere ältere Dame hinter einem Tisch, reich gedeckt, Obst und kalter Fisch und Brot und Wasser. Ein reizender Anblick, Katzen lagen auf dem Boden herum. Die alte Frau wartete unter einem Sonnenschirm. Sie sagte: Komm, komm, in Zeiten der Not muss man zusammenhalten, alles ist umsonst, aber Du darfst in der Stadt nicht davon erzählen! Eine Stunde später erreichte mein Freund endlich die Wohnung seiner Bekannten. Sie saßen lange Zeit vor dem Fenster zum Fluss. Einmal näherte sich ein Hubschrauber. Er landete auf dem Dach. – stop