ulysses : 6.55 — Associated Press veröffentlichte vor einigen Monaten eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen, vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
Aus der Wörtersammlung: kamera
valletta : west street
nordpol : 2.54 — Gestern Abend erreichte mich eine E‑Mail von Georges. Er schreibt: Mein lieber Louis, wie ich durch die Stadt Valletta schlenderte, bemerkte ich in der West Street nahe St. Lucia eine kleine Werkstatt. Sie war düster, aber gerade noch hell genug, dass ich ein Mädchen erkennen konnte, das an einem Tisch saß, sie schien Hausaufgaben zu machen. Ich richtete meine Kamera auf das Mädchen, um es zu fotografieren, da hob sie den Kopf und sah mich an, mit einem freundlichen Blick. Ich fragte, ob ich eintreten dürfe. Es war ein wirklich düsterer Ort, das Licht der Straße erreichte gerade noch den Tisch, auf dem das Schulheft des Mädchens lag, und es war kühl, und es ging ein leichter Wind. In der Tiefe des Raumes erkannte ich einen weiteren Tisch, der von einer Glühbirne beleuchtet wurde, die ohne Schirm von der Decke baumelte. Hinter dem Tisch hockte ein dunkelhäutiger, alter Mann mit weißem Haar. Ich grüßte auch in seine Richtung. Als ich mich gerade herumdrehen wollte, um auf die Straße zurückzukehren, schaltete der Mann einen gläsernen Leuchtglobus an. Ein schönes blaues und gelbes Licht von Meeren und Wüsten strahlte in den Raum, vor dessen Wänden Regale bis zur Decke ragten. Dort warteten weitere Erdkugeln, es waren einige Hundert bestimmt. Ich bemerkte, dass der Mann auf dem Tisch Gläschen mit Farbe zu einer Reihe abgestellt hatte, er selbst hielt einen feinen Pinsel und ein Messer mit einer winzigen Klinge in der Hand. Außerdem ruhte der Globus vor dem Mann auf dem Kopf, vielleicht deshalb, weil er einmal aus seiner Fassung genommen und augenscheinlich herumgedreht worden war, der Südpol befand sich im Norden, der Nordpol im Süden der leuchtenden Kugel, an welcher der Mann mit seinen Werkzeugen arbeitete. Es war eine Arbeit für ruhige Hände. In dem Moment, als ich näher gekommen war, nahmen sie gerade die Entfernung des Schriftzuges Cape Town vor, der selbst auf dem Kopf stehend in das Blau des Meeres jenseits des afrikanischen Kontinentes reichte. Aus nächster Nähe nun beobachtete ich, wie der alte Mann die Spuren, die die Radierung des Schriftzuges erzeugt hatte, mit blauer Farbe füllte. Immer wieder prüfte er indessen den Ton der Pigmente, in dem er eine Lupe in sein linkes Auge klemmte. Er schien weitgehende Erfahrung in dieser Arbeit gesammelt zu haben, seine Hände bewegten sich schnell, es roch nach Terpentin, und der Mann hauchte gegen das Meer, wohl um seine Trocknung zu beschleunigen. Dann begann er zu schreiben, er schrieb Cape Town, er schrieb die Wörter so, dass sie richtig herum vor unseren Augen erschienen. Ich erinnere mich an ein Motorrad, das auf der Straße vorbei knatterte. Das Mädchen hatte seine Schulhefte geschlossen und war ins Licht der Sonne getreten. Plötzlich war es verwunden. — stop
vom nachthausmuseum
sierra : 20.14 — Mein lieber Freund, als ich Deinen nächtlichen Brief las von den Geräuschen im Haus, in dem Du wohnst, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor zwei Jahren notierte. Ich stelle mir vor, diese Geschichte könnte Dich interessieren. Wenn Du Fragen haben solltest, wie man als Nachtmensch unter Tagmenschen sinnvoll existieren kann, melde Dich bitte unverzüglich. Dein Louis. ps. > Hier meine Geschichte: Das Museum der Nachthäuser befindet sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor gehört hatte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit, da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man aller freundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
lichtbild : damaskus
foxtrott : 0.15 — Eine hochauflösende Fotografie zeigt eine Straße der Stadt Damaskus bei Tageslicht. Diese Straße ist nicht irgendeine Straße, sondern eine Straße, die sich in einem von syrischen Regierungstruppen belagerten Stadtteil befinden soll. Davon habe ich Kenntnis, ich hatte einen kurzen Bericht gelesen, der sich mit jener fotografierten Straße befasste. Die Häuser der Straße sind zerstört, nicht ganz zum Boden hin gezwungen, aber sie sind Ruinen, sind unbewohnbar geworden. Man erzählt, die Straße, ein ganzer Stadtteil und die in ihm lebenden Menschen seien vollständig von der Versorgung abgeschnitten, kein Trinkwasser, keine Nahrung. Hunderte Menschen sollen bereits verhungert sein. Die Aufnahme nun lichtet tausende im Inferno lebende Menschen ab, Menschen, die Bomben, Scharfschützen, Giftgas und Auszehrung überlebten, sie haben sich in der Schlucht zerstörter Häuser vor der Kamera eingefunden. Viele stehen gebeugt, als würden sie beten. Andere fließen auf den Trümmern der Häuserwände aufwärts. Ein Bild wie aus einem Traum, der ein Albtraum sein muss. Ich kann die Menschen genauer betrachten, indem ich die Aufnahme auf meinem Bildschirm vergrößere. Aus einer Menge treten einzelne Menschen hervor, ein Mann mit lichtem Bart und Brille, eine junge Frau, die ein grünes Kopftuch trägt. In dem Moment der Aufnahme legt sie ihre Hände vor den Mund. Viele der Menschen scheinen wie die junge Frau in das Objektiv der Kamera zu blicken. Für einen Augenblick meine ich, dass sie aus ihren Kellern gekommen sein könnten, trotz der Gefahr von Tonnenbomben umgebracht zu werden, um auf diese Aufnahme zu kommen, um nicht ganz zu verschwinden, ja, das ist denkbar. Aber vermutlich ist die Wirklichkeit dieser Aufnahme eine andere, vermutlich werde ich nie erfahren, warum diese Menschen zusammengekommen sind, so viele Menschen, und wer überlebte und wer nicht überlebte. — Kinder. Keine Kinder. — stop
lichtbild : krim
kilimandscharo : 1.55 — Die Nachrichtenagentur Associated Press veröffentlichte gestern eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe, in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen. Ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, die gleich hinter ihr in der Reihe der Wartenden vor der Kasse stehen, es sind vier Personen vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder, sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. — Jeder Blick hinter einer Maske hervor ist ein seltsamer Blick. — Ein anderer der Männer hält seinen geöffneten Geldbeutel in der Hand. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, welches Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, über Sudak, über einer Landstraße, die im April 1986 gut informierte Menschen der sowjetischen Nomenklatura in Bussen aus dem Norden südwärts führte, während zur gleichen Zeit Fahrzeuge der Landstreitkräfte Tausende Ahnungsloser nordwärts in die entsetzlichen Strahlungsfelder Tschernobyls transportierten. – stop
ai : LAOS
MENSCH IN GEFAHR: “Auch ein Jahr nach der Verschleppung von Sombath Somphone haben die laotischen Behörden immer noch keine umfassenden Ermittlungen eingeleitet, um sein Schicksal aufzuklären. Deshalb besteht Anlass zu großer Sorge um den 62-Jährigen. Der zivilgesellschaftlich engagierte Aktivist wurde vor knapp einem Jahr an einem Kontrollpunkt der Polizei in Vientiane, der Hauptstadt von Laos, entführt. Aufgrund einer chronischen Erkrankung ist Sombath Somphone auf die tägliche Einnahme von Medikamenten angewiesen. / Sombath Somphone wurde am Abend des 15. Dezember 2012 an einem Kontrollpunkt der Polizei in Vientiane in Anwesenheit von Sicherheitspersonal in einem Lastwagen verschleppt. Seither ist gut ein Jahr vergangen, und bislang fehlt von ihm jede Spur. Der bevorstehende Jahrestag des “Verschwindens” von Sombath Somphone und der Mangel an umfassenden und unparteiischen Untersuchungen in seinem Fall geben Anlass zur Sorge um das Schicksal und Wohlergehen des Aktivisten. /Die Verschleppung von Sombath Somphone wurde mit einer Verkehrskamera aufgezeichnet. Seiner Familie war es gelungen, das Videomaterial zu kopieren. Die laotischen Behörden behaupten, auf den Aufnahmen seien nicht die Kennzeichen der Fahrzeuge zu sehen, mit denen Sombath Somphone verschleppt wurde. Die USA, die Europäische Union, Mitglieder des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) sowie die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte haben die laotischen Behörden wiederholt dazu aufgefordert, die Verschleppung von Sombath Somphone dringend zu untersuchen. Dennoch scheinen die bislang unzureichenden Ermittlungen stillzustehen. Technische Unterstützung bei der Auswertung des Videomaterials haben die Behörden abgelehnt. Drei parlamentarische Delegationen, die nach Laos fuhren, um den Fall direkt bei den Behörden vorzubringen, sehen keinerlei Anzeichen dafür, dass die Behörden bei den Ermittlungen Fortschritte machen oder dass echte Anstrengungen unternommen werden, Sombath Somphone zu finden und mit seiner Familie zu vereinen. Offensichtlich fehlt es an der ernsthaften Absicht, das Schicksal von Sombath Somphone aufzuklären. Dies legt nahe, dass die Behörden versuchen, seine Verschleppung zu verschleiern. / Sombath Somphone gründete im Jahre 1996 das Trainingscenter für mitbestimmte Entwicklung (Participatory Development Training Centre) zur Förderung von Bildung, Führungsqualitäten und nachhaltiger Entwicklung in Laos. 2005 wurde er mit dem Ramon Magsaysay-Preis (Ramon Magsaysay Award for Community Leadership) ausgezeichnet. Er gehörte zu den Organisatoren des Asia-Europe People’s‑Forums, das im Oktober 2012 in Vientiane stattfand. Letzteres ist möglicherweise ein Grund für seine Verschleppung.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 22. Januar 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
an martha
tango : 12.15 — Im Gespräch mit einer alten Dame über das Vergessen. Sie sagte, dass man, wenn man wirklich vergesslich wird, diese Vergesslichkeit nur dann bemerkt, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Wohnung aufhalte, könne sie vergessen, soviel sie wolle, es würde ihr selbst nicht und niemand anderem auffallen, dass sie eigentlich einen Film betrachten wollte, aber auf dem Weg zum Fernsehgerät plötzlich ein Buch auf dem Tisch entdeckte, weshalb ihr Filmwunsch verloren ging. — Liebe Martha, Du hast versäumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzählte. Ich sende diesen Text noch einmal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vorlesen wirst. Hier ist er: Eines der letzten bewegten Bilder, die ich von meinem Vater in Erinnerung habe, zeigt ihn, wie er in seinem Arbeitszimmer am Computer arbeitet. Auf dem Bildschirm sind dutzende Programmfenster geöffnet. Der alte Mann sitzt fast bewegungslos in seinem Sessel. Manchmal tastet eine Hand durch die Luft, greift unsicher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wieder auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zeiger über den Bildschirm fahren. Ein weiteres Programmfenster öffnet sich. Ein kleines Mädchen fährt in diesem Fenster auf einem Fahrrad über einen sandigen Weg. Sie bewegt sich in Schlangenlinien dahin, lacht hoch zur Kamera, die rückwärts durch die Luft zu fliegen scheint. Es ist ein heiterer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öffnet sich wie von Geisterhand noch ein Fenster, das den heiteren Film verdeckt. Eine Fotografie, Mutter nahe Lissabon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Computer sitzt, im Sand. Er trägt Turnschuhe. Auch meine Mutter trägt Turnschuhe. Ich fragte mich, wer diese Aufnahme machte, und komme nicht darauf. Ein Schatten ist zu erkennen, der Schatten eines Fotografen vielleicht. In diesem Moment ruft die Frau, die auf der Fotografie zu sehen ist, von unten, vom Wohnzimmer her, dass das Mittagessen bald fertig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fenster, die er im Laufe des Vormittages geöffnet hatte, wieder zu schließen. Nein, alles muss aufgeräumt werden. Mein Vater steht nicht einfach auf, um sich sofort unsicheren Schrittes auf die Treppe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zeiger auf dem Bildschirm den Rahmen der Programmfenster nähert. Er scheint das Symbol für das Schließen der Fenster zu suchen, aber das Symbol ist nicht zu entdecken, nicht zu erkennen. Der Zeiger irrt auf dem Bildschirm herum, Fenster drängen sich in den Vordergrund und verschwinden wieder. Dann kommt Mutter herbei, sie ruft zärtlich: Komm, komm, das Essen ist fertig. Schritte auf der Treppe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwitschern der Vögel vom Garten her. Im Zimmer auf dem Schreibtisch ist der Computer längst eingeschlafen. — stop
seepocken
olimambo : 2.18 — Sonntag. Große Hitze. — Zum ersten Mal habe ich eine Serie Fotografien betrachtet, die ich mit einer Kamera aufgenommen hatte, während ich die Fifth Avenue in Manhattan südwärts spazierte. Ich hatte nur eine vage Idee, was auf diesen Fotografien einmal zu sehen sein könnte, weil ich den Fotoapparat mit der rechten Hand festhielt, die an meiner Seite baumelte. Ich stellte mir vor, meine Hand würde sich in eine Kamera verwandelt haben, die in einem regelmäßigen Abstand von etwa 5 Sekunden je eine Aufnahme machte. Wie erwartet, waren Taschen und Beine, Schuhe, Hosen, Röcke, Papierkörbe, Ampeln, der Asphalt, Randsteine, Himmel, Wolken und Tauben zu sehen, Dächer sehr hoher Häuser, gleichwohl Klimaanlagen, die wie Seepocken an den Fassaden der Häuser sitzen, Feuerleitern, Dampfwolken, Gesichter von Menschen, die mir entgegengekommen waren, sie sahen mich an, nicht die Kamera, sondern mich selbst vielleicht, oder sie sahen vor sich hin, lachten, träumten. Manche der Menschen aßen, einige trugen dunkle Brillen, weil die Sonne sehr tief in die Straße leuchtete, andere hatten Hüte auf dem Kopf, es waren ein paar ausgesprochen müde Gesichter darunter, kaum jemand rauchte. Ich habe in dieser Art und Weise des Gehens 1524 Aufnahmen gemacht. Keiner der fotografierten Menschen schien indessen bemerkt zu haben, dass ich ihn abgebildet hatte. Aber es ist denkbar, dass der ein oder andere der fotografierten Menschen mein Tun bemerkte, nachdem ich längst vorübergegangen war, ein Gedanke, ein Gefühl, ein Verdacht, langsam, sehr viel langsamer als das Licht, das ich gerade noch eingefangen hatte. — stop
vor den mangroven
delta : 2.25 — Es darf nicht sein, dass Leute einem den Film kaputt machen. Manchen habe ich schon das Essen aus der Hand gerissen und weggeworfen. Man muss sie verprügeln oder bedrohen, sonst ist der Film verdorben, man hat das Recht sie umzubringen, damit sie aufhören. Aber Mord ist keine sehr gute Lösung, nachher wird man noch verhaftet, bevor der Film zu Ende ist. Als ich die „Lady von Shanghai“ das letzte Mal gesehen habe, wollte ich nicht einfach nur mit Rita Hayworth schlafen: Ich wollte Sex mit ihr in Schwarzweiß! Vielleicht könnte man das mit Kontaktlinsen oder einer Brille hinkriegen, die alles in Monochrom verwandelt. Das ist eine seltsame Sache, dass ihre Lippen nicht rot sind. Und das liegt nicht am Lippenstift. Ihr Mund hat diese besondere Farbe, weil er in diesem silbrigen Schwarzweiß gefilmt worden ist. Sie ist ein Fetischobjekt, nicht nur, weil sie so schön ist, sondern weil Welles’ Kamera sie fotografiert hat. Deshalb möchte man nicht nur einfach Sex mit Rita Hayworth, man möchte genau mit dieser Figur aus dem Film schlafen. Der Grund, warum ich sexuell total verkümmert bin, liegt in meinem Scheitern, den filmischen Vorbildern gerecht zu werden. Im echten Leben spielt sich Sex niemals in Schwarzweiß ab. — Diese kleine Geschichte, die eigentlich aus zwei Geschichten besteht, erzählte Jack Angstreich gerade noch in dem wundervollen Film Cinemania von Angela Christlieb und Stephen Kijak, einer Dokumentation, die von dem Leben leidenschaftlicher Kinogänger in New York berichtet. — 2:15 Uhr. Regen nach wie vor, kühler, hellgrauer Herbstregen. Es könnte sein, dass dieser Regen nie wieder aufhören wird. In einigen tausend Jahren bald bewegten sich amphibische Eichhörnchen vor meinem Fenster durchs Mangrovengebiet. Ebenso denkbar ist, dass ich zu diesem Zeitpunkt über zugespitzte Fingerbeeren verfügen werde, geeignet, jede der filigranen Tastaturen moderner Telefonapparate fehlerfrei und gelassen bespielen zu können. — stop
vom zufall
delta : 0.12 — Henry erzählte, er habe vor einigen Wochen eine Kartonschachtel erworben für 80 Cent. Zu Hause habe er im Inneren der Schachtel einhundertundzwölf Schwarz-Weiß-Fotografien entdeckt, Fotografien einer Zeit um das Jahr 1965 herum. Menschen, die auf diesen Fotografien zu sehen sind, tragen Schuhwerk jener Jahre, Mäntel, Hüte. Auch Automobile, die da und dort im Hintergrund zu sehen sind, verweisen auf die Mitte eines Jahrzehntes, als Henry selbst geboren worden war. Er habe die Bilder nun digitalisiert und würde sie in wenigen Tagen auf einer Webseite veröffentlichen mit der Bitte, sich bei ihm zu melden, sobald man sich selbst auf einer der Fotografien entdecken würde. Ich wollte wissen, warum er so handele. Henry antwortete, er habe das Gefühl, diese Aufnahmen könnten vielleicht fehlen, irgendjemandem, einem Album, einer Geschichte. Ja, selbstverständlich sei ihm bewusst, dass nur durch einen Zufall seine Seite von genau jenen Menschen besucht werden würde, die sich wieder erkennen könnten, es gehe ihm rein um die Möglichkeit, dass sich dieser Zufall ereignen könne, er habe im Grunde die Möglichkeit eines Zufalles geschaffen. Eine der Fotografien soll ein hölzernes Feuerwehrauto zeigen, das von Kinderhand geführt über einen Teppich fährt. In dem Teppich sei ein Loch, das ihn an ein Brandloch erinnert habe. Eine weitere Aufnahme zeige eine Gardine, die sich im Wind zu bewegen scheine, im Hintergrund etwas Himmel, Wolken und ein Flugzeug. Und diese alte Frau, die auf einer Parkbank sitzt, sie wird, sagte Henry, vielleicht oder sehr sicher nicht mehr unter den Lebenden sein. Sie hält einen Fotoapparat, es könnte sich um eine Leica handeln, in ihren Händen. Die alte Frau lacht, es ist Sommer, sie lacht wie jene andere, etwas jüngere Frau, die auf einem steinigen Weg breitbeinig steht, ein Fuß ist zur Seite geknickt, auch sie hält eine Kamera, ein Leica vielleicht, ihn ihren Händen. — stop